Helmut Dietrich

Unliebsamer Aufstand?

Zur Diskussion über Azawad und Arabellion

[In: Sozial.Geschichte Online, Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts, Heft 13 (2014), S. 68-73]

NoLager Bremen hat meinen Aufsatz „Nord-Mali / Azawad im Kontext der Arabellion“ (Heft 10 / 2013) in Heft 11 / 2013 kritisch besprochen. Meine These zur Entwicklung der dortigen Unruhen lautete: Dem Aufstandsbeginn in Nord-Mali liegen lokale und regionale Sozialrevolten im Jahr 2010 zugrunde, die in ihrer Erscheinungsweise der Arabellion gleichen. Ein wesentlicher Unterschied ist, dass sie sich in einer Hungerzone entwickeln und kein Gehör im Norden finden, weder bei den Aufständen in Nordafrika, noch bei den europäischen und US-amerikanischen Occupy-Protesten.

Das transnationale soziale Subjekt dieser Revolten steht in meinem Aufsatz im Mittelpunkt:[1]Den Anlass meiner Recherchen zu Nord-Mali bildeten persönlichen Erfahrungen: Bis Sommer 2010 habe ich in Algerien gelebt und dort auch Studierende aus Mali und der Sahara unterrichtet. Zu Beginn … Continue reading Seit dem Aufstand im Jahr 2010 machen sich auch in Nord-Mali die Armen, Ausgebeuteten und Entrechteten in einer neuen historischen Formierung bemerkbar. Auf den Plan treten Jugendliche, die von der durch neoliberale Wirtschaftspolitiken bedingten Landflucht der letzten zwei Jahrzehnte und von der Bildungsexpansion geprägt wurden. Sie sind in der Dorf- und Stadtteilarmut verankert, aber regional wie transnational hochmobil, mehrsprachig und gewandt, was die Nutzung technischer Kommunikationsmittel angeht. Ihre Argumentationsmuster sind globalisiert. Sie berufen sich auf Menschenrechte und dokumentieren entscheidende Ereignisse, um sie in die Öffentlichkeit zu bringen. Zugleich verstehen sie es, wie undokumentierte Flüchtlinge und MigrantInnen wieder gänzlich von der Bühne der Sichtbarkeit zu verschwinden.

NoLager Bremen argumentiert hingegen in seiner Kritik vom Ende der Aufstandsentwicklung her: Dass die Tuareg-Organisation MNLA (Mouvement national de libération de l’Azawad) die Sozialunruhen instrumentalisiert haben könnte, leiste einer „Romantisierung“ des MNLA Vorschub, und das erscheint angesichts der aufgeheizten Stimmung geradezu ungeheuerlich. Rückblickend heißt es bei NoLager Bremen: „Es macht einfach keinen Sinn, lobend ein Strategiepapier der [Vorläufer-Organisation] MNA zu erwähnen, welches einen ‚allmählichen und irreversiblen Vertrauensverlust zwischen nördlichen Communities und Zentralregierung‘ ins Zentrum rückt.“ Stattdessen gelte es, einen „neuen ‚sozialen Vertrag‘ zwischen Bevölkerung und Regierung“ für Gesamt-Mali zu erarbeiten.[2]Verhandlungen zwischen der Zentralregierung und den bewaffneten Organisationen Nord-Malis haben mit wenig Erfolg zunächst in Ougadougou und dann in Algier stattgefunden. Seit dem 1. Februar 2014 … Continue reading Aufstände mit nur regionaler Reichweite seien von Anbeginn verfehlt.

Mit dieser Anmerkung trifft NoLager Bremen den Kern auch der Arabellion: Nirgendwo haben die Aufstände, die seit Ende 2010 / Anfang 2011 in vielen Ländern andauern, eine solche nationale Perspektive der Revolution oder Reform aufscheinen lassen. Die Aufstände tendieren gerade nicht nach einem „neuen Sozialvertrag zwischen Bevölkerung und Regierung“. Sie kommen aus völlig vernachlässigten Landesteilen, und sie bringen keine Anführer und neuen Eliten hervor, die entsprechende staatliche Neugründungsakte vollbringen und damit das alte Polizei- und Militärwesen sowie die vorgängigen ungerechten Eigentumsverhältnisse zerschlagen könnten. Dennoch – oder vielleicht gerade wegen dieser „Anomalie“ – lehren diese Aufstände die Herrschenden das Fürchten. In wenigen Wochen haben revoltierende Menschen auf der Straße die stabilsten Diktaturen Nordafrikas gestürzt.

Der soziale Ursprung der nordmalischen „Instabilität“ scheint inzwischen vergessen. Er wurde von verschiedenen machtfixierten Gegenbewegungen überlagert. In Nord-Mali haben zunächst circa 300 bis 400 Tuareg-Milizionäre, die aus Libyen zurückkamen, das Ruder an sich gerissen. Dann wurden diese von einigen hundert bewaffneten dschihadistischen Kämpfern verdrängt, die im Januar 2013 die inoffizielle Grenze nach Süd-Mali überschritten. Der anschließende französisch-tschadische Militäreinsatz richtete sich erklärtermaßen und auch faktisch gegen die islamistischen Gruppen.[3]Nach französischen und afrikanischen Regierungskreisen wurden durch die Militärintervention 600 Personen getötet und 400 Personen gefangengenommen: Bryant Harris, Restive North Languishes in … Continue reading Aber der malische Zentralstaat will den französischen Militäreinsatz gegen den drohenden Separatismus der MNLA aufgestellt sehen.[4]Jean-Dominique Merchet, Mali : la France commence à s’inquiéter des intentions du président IBK, L’opinion 26. Januar 2014. Dieser, und nicht der Dschihadismus gilt Bamako als Hauptfeind. Und schließlich lässt die deutsche Bunderegierung im Umfeld der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 verlauten, dass sie mehr Bundeswehrtruppen nach Mali schicken will, um die transsaharische Migration schon vor der Ankunft am Mittelmeer zu stoppen.[5]Wolfgang Ischinger im Interview, Die Welt, 31. Januar 2013: „Als Tausende von Flüchtlingen aus Bosnien nach Deutschland kamen, hat sich die deutsche Politik massiv engagiert – viel stärker als … Continue reading

Vom Hunger, der sich 2014 in Nord-Mali wie in der gesamten Sahelzone erneut und dramatisch ausbreitet, ist keine Rede.[6]In Nord-Mali müssten wegen akutem Hunger sofort 800.000 Personen Lebensmittelhilfe erhalten. In den nächsten drei Monaten wird sich dieser Kreis auf drei Millionen Menschen ausweiten: Augustin K. … Continue reading Und von der Staatsferne der dortigen Bevölkerungen, die in mobiler und grenzüberschreitender informeller Wirtschaft überleben, wird ebenfalls nicht gesprochen. Noch immer sind ungezählte Flüchtlinge aus Nord-Mali im Ausland; am 31. Oktober 2013 waren noch 283.726 innerstaatliche Flüchtlinge in Mali registriert.[7]Siehe http://maliactu.net/regions-nord-du-mali-le-grand-retour-des-deplacees/. Aber es ist sinnvoll, alle machtpolitischen und militärischen Akteure, die dort aktiv sind, auf eine „hidden agenda“ gegenüber dem Hunger und der mobilen Staatsferne der Bevölkerung hin zu befragen.

Seit Beginn der französisch-tschadischen Militärintervention haben die Nachbarstaaten ihre Grenzen geschlossen. Auf nordafrikanischen Gipfeltreffen haben sie bekräftigt, dass die Grenzschließungen von Dauer sein werden. Die nord- und westafrikanischen Militärs haben seit zwei, drei Jahren die Grenzaufrüstung zum bevorzugten Ziel ihrer Arbeit gemacht. Ein neues Grenzregime entsteht in der Sahara.[8]Helmut Dietrich, Von der Pan-Sahel-Initiative zum neuen Grenzregime in der Sahara, inamo 72 (2012). Siehe auch Fayçal Métaoui, Aborder les menaces extérieures autrement, El Watan, 21. Januar 2013; … Continue reading Die Bevölkerung, die oft grenzüberschreitende familiäre Bindungen hat und Lebensform wie Einkommensmöglichkeiten grenzüberschreitend organisiert, sieht sich abgeschnitten und einer neuen Form der Einhegung unterworfen. Wenn die mobile, migrierende Existenzform vernichtet und Flucht vereitelt werden kann, wird der Hunger zur Waffe einer neuen Staatlichkeit, die sich auf Warlords, Grenztruppen und internationale Spezialkommandos gründet.[9]Das algerische Militär fahndet zusammen mit dem Zoll nach Weizenschmuggel über die geschlossene algerisch-malische Grenze; beispielsweise beschlagnahmten sie dort am 1. Februar 2014 fünf … Continue reading Das französische und US-amerikanische Militär setzen Drohnen, Satelliten und elektronische terrestrische Detektoren ein, um Personenbewegungen in Nord-Mali zu verfolgen.[10]Frankreich und die USA überwachen Nord-Mali von ihrer gemeinsamen Militärbasis im Niger aus mithilfe der Drohnen „MQ-1 Predator“ und „MQ9-Reaper“: Ignacio Cembrero: Los ‘drones’ surcan … Continue reading Die neue französische Kriegsstrategie in Nord-Mali nutzt solche Daten, um Militärkommandos zum Töten ins Gelände zu schicken und sie anschließend sofort zurückzubeordern.[11]Aziz M., Nouvelle stratégie au nord du Mali pour les Français, El Watan, 31. Januar 2014. Die Strategie stammt aus der US-Kriegsführung im Irak.

Malische Staatsangehörige werden in den Nachbarländern illegalisiert, weil sie ihre mehrmonatigen regulären Aufenthalte nicht mehr durch kurze Ausreisen verlängern können. Die transsaharische irreguläre Migration verläuft heute wieder größtenteils über Libyen, da dies der einzige Staat in der Region ist, dessen Regierung seine Grenzen nicht kontrolliert.[12]Astrid Frefel, Libyen bleibt das bevorzugte Transitland für Flüchtlinge, Neue Zürcher Zeitung, 28. Januar 2014.

Doch zurück zur Auseinandersetzung mit NoLager Bremen über Nord-Mali / Azawad: Wir sollten betonen, dass wir in praktischen Fragen gemeinsame Bezugspunkte haben. Die Abgeschobenen, Flüchtlinge und Boat-people des Mittelmeers, die uns wie bei „Lampedusa in Hamburg“ nun auch mit selbständigen Protesten erreichen, gehören diesen oben beschriebenen neuen sozialen Kernen an, die wir in Mali, und eben auch in Nord-Mali / Azawad, wiederfinden.

Diese sozialen Stimmen, die nach Würde und Überleben, nach Bewegungsfreiheit und Einkommen verlangen, so unterschiedlich und widersprüchlich sie auch sein mögen, sollten wir gegen die herrschende Lesart setzen, die die Unruhen und Aufstände in der Sahara und im Sahel generell als Konfessions-, Religions- oder Ethnokonflikte in zerfallenden Staaten einstuft.

Und wenn wir die militärischen Geschehnisse in Ägypten und Syrien als Omen nehmen, haben wir damit zu rechnen, dass sich die internationalen Militäreinsätze in der Sahara nicht nur gegen Dschihadisten richten werden, sondern auch gegen die dortige Bevölkerung, gegen MigrantInnen und Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa und gegen künftige Sozialrevolten.

Sozialgeschichte Online | 13.2014

Nord-Mali/Azawad und Arabellion: „Unliebsamer Aufstand?“ (H. Dietrich)

Fußnoten

Fußnoten
1Den Anlass meiner Recherchen zu Nord-Mali bildeten persönlichen Erfahrungen: Bis Sommer 2010 habe ich in Algerien gelebt und dort auch Studierende aus Mali und der Sahara unterrichtet. Zu Beginn meiner Recherchen habe ich im Internet Texte direkt aus dieser Sozialrevolte gefunden, die durch Klarheit bestechen; aus ihnen habe ich ausführlich zitiert.
2Verhandlungen zwischen der Zentralregierung und den bewaffneten Organisationen Nord-Malis haben mit wenig Erfolg zunächst in Ougadougou und dann in Algier stattgefunden. Seit dem 1. Februar 2014 finden die Verhandlungen unter Führung des Weltsicherheitsrats in Mopti statt, das auf der Grenzlinie zwischen Süd- und Nordmali liegt; siehe [http://www.rfi.fr/afrique/20140202-mali-conseil-securite-delegation-mopti-araud-ibk]. In Strategiepapieren wird der Politik empfohlen, die international vorherrschende ethnisierende Sicht des Konflikts zu relativieren und vielfältige sozialen Ursachen zu berücksichtigen; siehe Michel Luntumbue, Comprendre la dynamique des conflits. Une lecture synthétique des facteurs de conflits en Afrique de l’Ouest, GRIP (Groupe de recherche et d’information sur la paix et la sécurité), Brüssel, 14. Januar 2014.
3Nach französischen und afrikanischen Regierungskreisen wurden durch die Militärintervention 600 Personen getötet und 400 Personen gefangengenommen: Bryant Harris, Restive North Languishes in Post-War Mali, IPS, Washington, 15. Januar 2014. Die Coordination des cadres de l’Azawad beziffert die Zahl extralegaler Hinrichtungen durch die malische Armee und ihre Milizen im Schatten der Militärintervention im Jahr 2013 auf 498: Bilan partiel des exactions et exécutions extra judiciaires dans l’Azawad, janvier 2013 à janvier 2014, http://www.tamurt.info/bilan-partiel-des-exactions-et-executions-extra-judiciaires-dans-l-azaward-janvier-2013-a-janvier-2014-2014,5530.html.
4Jean-Dominique Merchet, Mali : la France commence à s’inquiéter des intentions du président IBK, L’opinion 26. Januar 2014.
5Wolfgang Ischinger im Interview, Die Welt, 31. Januar 2013: „Als Tausende von Flüchtlingen aus Bosnien nach Deutschland kamen, hat sich die deutsche Politik massiv engagiert – viel stärker als Frankreich. Bis heute sind wir stärkster Truppensteller im Kosovo! […] Die Welt: Bei Ausbruch der Mali-Krise fragten sich die meisten deutschen Politiker: Wo ist das überhaupt? Wieso ist diese Wüste wichtig? – Ischinger: Weil es mit dem Auto nur ein paar Stunden dauert, bis ein Terrorist oder Flüchtling die Fähre nach Europa erreicht.“ – Langfristig müssten 10.000 Soldaten in Nord-Mali stationiert werden, laut Rinaldo Depagne, dem ICG-Direktor für Westafrika: Harris, Restive North (wie Anm. 3).
6In Nord-Mali müssten wegen akutem Hunger sofort 800.000 Personen Lebensmittelhilfe erhalten. In den nächsten drei Monaten wird sich dieser Kreis auf drei Millionen Menschen ausweiten: Augustin K. Fodou, Crise alimentaire au Mali: les ONG tirent la sonnette d’alarme. JournalduMali.com, 31. Januar 2014. Laut UNO sind im Jahr 2014 in der Sahelzone 20 Millionen Menschen von Hunger bedroht: Middle East Online, 3. Februar 2014.
7Siehe http://maliactu.net/regions-nord-du-mali-le-grand-retour-des-deplacees/.
8Helmut Dietrich, Von der Pan-Sahel-Initiative zum neuen Grenzregime in der Sahara, inamo 72 (2012). Siehe auch Fayçal Métaoui, Aborder les menaces extérieures autrement, El Watan, 21. Januar 2013; Ghania Oukazi, Lutte antiterroriste et sécurité dans le Sahel et le Maghreb: L’UE veut impliquer l’Algérie sur le terrain, Le Quotidien d’Oran, 18. Januar 2014; Ahmed Elumami, Libya and Algeria sign border security deals, Libya Herald, 29. Dezember 2013.
9Das algerische Militär fahndet zusammen mit dem Zoll nach Weizenschmuggel über die geschlossene algerisch-malische Grenze; beispielsweise beschlagnahmten sie dort am 1. Februar 2014 fünf LKW-Ladungen mit insgesamt 55 Tonnen Weizen: Le Quotidien d’Oran, 4. Februar 2014.
10Frankreich und die USA überwachen Nord-Mali von ihrer gemeinsamen Militärbasis im Niger aus mithilfe der Drohnen „MQ-1 Predator“ und „MQ9-Reaper“: Ignacio Cembrero: Los ‘drones’ surcan el Magreb a la caza del terrorista, El País, 26. Januar 2014.
11Aziz M., Nouvelle stratégie au nord du Mali pour les Français, El Watan, 31. Januar 2014.
12Astrid Frefel, Libyen bleibt das bevorzugte Transitland für Flüchtlinge, Neue Zürcher Zeitung, 28. Januar 2014.