Am Morgen des 30. April 2020 kam ein Boot mit 14 Geflüchteten auf der Insel Chios an. Als die Migrantinnen versuchten, sich vom Strand zu entfernen, wurden sie von den Beamtinnen der Küstenwache aufgegriffen und in ein im Bau befindliches Gebäude gebracht. Ein wenig später näherte sich ein Schiff der Küstenwache der Küste und fuhr dann in Richtung offenes Meer, also in Richtung Türkei, ab, während es mindestens ein Schlauchboot hinter sich her zog. Am nächsten Morgen wurden dann 14 Migrant*innen durch die türkische Küstenwache von einer kleinen Insel vor Chios gerettet.

Mare Liberum hat Beweise und Zeugenaussagen gesammelt und in einer detaillierten Zeitleiste zusammengefasst.

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Push Backs: the new old Routine in the Aegean Sea

The Greek coastguard systematically attacks migrant boats and exposes them to life threatening situations while Turkish authorities stand aside

Over the past two weeks, Alarm Phone was contacted twice by people in the Aegean Sea who found themselves in distress after being attacked and sabotaged by the Greek coastguard and masked men. Reportedly, this occurred once in Greek and once in Turkish waters. In the first incident, the migrant boat was pushed back and, for hours, both Greek and Turkish authorities stood aside, watching the distressed shuffling water out of their boat with their shoes. In the second incident, the Greek authorities took the chance, with no other witnesses around, to even sabotage the boat inside Turkish territorial waters and then quickly escape the scene.

Alarm Phone is very concerned about the recent increase in reports of attacks on migrant boats. Since early March 2020, we have received 28 emergency calls from the Aegean Sea – in most of these cases, the distress resulted from attacks on boats carried out in Greek waters. In 18 of these cases, survivors reported of push backs where vessels of the Greek coastguard were involved and “masked men” had attacked them. They reported of dangerous actions, such as circling around their boats and causing waves, threats with guns, theft of their petrol, destruction of engines and, also, the towing back of boats to Turkish waters where they were left adrift. In some cases, they also reported Greek coastguard vessels ramming their boats, and Greek officers shooting with live ammunition in the water or air around them and beating them up. Alarm Phone is alarmed also by the dangerous lack of immediate intervention from the Turkish authorities to rescue a boat in distress. In many of the reported cases, they simply stood aside for many hours, watching and documenting the actions of the Greek forces.

Besides closing down legal pathways for people to find safety and seek asylum in Europe, national authorities on all sides fail in their obligation to rescue people in distress. Even worse, they create life-threatening situations and expose people to further dangers in order to deter people from reaching Europe or to use them for their political games.

We call on the Greek and Turkish authorities as well as the governments and institutions of the EU who are involved in Frontex missions to militarise Aegean Sea borders, to stop playing cynical games with people’s lives.

Alarm Phone | 14.05.2020

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Abschiebungen aufs Meer

Der Fall von Chios soll einer von mehreren sein, in denen Geflüchtete in den vergangenen Wochen kurz nach ihrer Ankunft von der griechischen Küstenwache abgeschoben wurden. Internationale Abkommen wie die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention verbieten solche Push-backs. Geflüchtete haben das Recht auf ein Asylverfahren und können erst abgeschoben werden, wenn ihnen keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde.

Dass Griechenland Push-backs auf dem Wasser und an der Landgrenze zur Türkei durchführt, berichteten internationale Organisationen und Medien immer wieder. Allerdings: „Dass auch Migrant*innen sofort abgeschoben werden, die die griechischen Inseln erreicht haben, ist uns neu“, erklärt Flo Strass von Mare Liberum im Videotelefonat. Strass sitzt währenddessen an Deck des NGO-Boots. Wäre alles normal, würde die siebenköpfige Crew jetzt durch die Ägäis fahren und die Situation auf dem Wasser beobachten.

Weil zurzeit aber wenig normal ist, liegt das Boot vor Lesbos. Rausfahren ist wegen der Verkehrsbeschränkungen zum Schutz vor Covid-19 nicht erlaubt. Es scheint, als nutze die griechische Küstenwache aus, dass es dadurch besonders schwierig ist, zu beobachten, was im griechischen und türkischen Mittelmeer vor sich geht. […]

Der Fall von Chios scheint der am besten dokumentierte von mehreren aktuellen zu sein. Mare Liberum beruft sich auf die norwegische NGO Aegaen Boat Report und Medienberichte und schildern zwei weitere Push-backs, die im März und April von den Inseln Samos und Symi stattgefunden haben sollen. In einem der Fälle sollen Migrant*innen auf einer aufblasbaren Rettungsinsel im Meer zurückgelassen worden sein.

Ein Foto der türkischen Küstenwache, das bei diesem Vorfall aufgenommen worden sein soll, zeigt, wie Migrant*innen von einer solchen gerettet werden. „Das ist völlig verrückt, die sind nur Behelfsmittel bei Schiffsunglücken, man kann sie überhaupt nicht steuern“, sagt der Aktivist Strass.

Auch über vermehrte Push-Backs auf dem Wasser wird berichtet: Das Alarmphone, eine NGO, die Notrufe von Migrant*innen in Seenot annimmt, beschreibt einen Anstieg von Notrufen aus der Ägäis seit März. In 18 Fällen hätten Geflüchtete erzählt, von Booten der griechischen Küstenwache auf dem Wasser zurückgedrängt worden zu sein, indem sie Wellen erzeugten, Motoren zerstörten, mit Waffen drohten oder Boote abschleppten.

Das Border Violence Monitoring Network spricht von 194 Menschen, die vom griechischen Festland seit Ende März illegal in die Türkei abgeschoben worden seien. „Wir gehen davon aus, dass die Dunkelziffer noch viel höher ist und wir von vielen Push-backs gar nicht erfahren“, sagt Strass. […

]Die europäische Grenzschutzagentur Frontex antwortet auf Fragen der taz zu dem Fall von Chios und weiteren Push-backs, dass dazu keine Informationen vorlägen. Jedoch berichtet UNHCR Griechenland, dass sie mehrfach in den vergangenen Monaten auf mutmaßliche Push-backs und übermäßigen Einsatz von Gewalt aufmerksam gemacht worden sei. Das Flüchtlingshilfswerk sammele derzeit Zeug*innenaussagen, könne aber keine genaueren Angaben machen.

TAZ | 20.05.2020

Ägäis: Push Back aufs Meer