Im Untergrund-Blättle vom 30. September berichtete ein Augenzeuge über die Proteste am 20.09.2019:

Die Stimmung unter den Aktivistinnen war in den letzten Jahren ziemlich gedrückt oder besser gesagt total am Boden. All der Aufbruch, all die Hoffnungen aus dem Ereignis „Tahrir“ waren schließlich zunichte, und am Ende hatte sich ein noch repressiveres Militärregime als das 2011 gestürzte etabliert. Damals waren Freunde ums Leben gekommen, und viele saßen oder sitzen immer noch im Knast. Viele sind emigriert, weil sie in Ägypten – wollten sie nicht Gefängnis riskieren – überhaupt nicht politisch, wissenschaftlich oder journalistisch arbeiten konnten, andere, weil ihnen unmittelbar Gefängnis drohte. Auch wer für Streiks organisiert, landet im Knast, und selbst wenn du als Anwältin einen politischen Gefangenen vertrittst, kannst du im Knast landen. Knast ist dabei eine völlig andere Erfahrung als hierzulande: Niemand weiß, in welches Gefängnis man kommt, niemand wird benachrichtigt, und es wird regulär gefoltert. Anklagen werden nach Bedarf geschneidert, verurteilt wird so, wie es der Staat braucht. Dabei hatten viele liberale Aktivistinnen 2013 das Militär mit Demos und Unterschriftenlisten unterstützt, um die Muslimbrüder von der Macht zu drängen.

Es gibt bei den Aktivistinnen das Gefühl, dass Politik in Ägypten vollkommen sinnlos ist und einfach nichts mehr geht. Da ist nun die Freude natürlich gross, dass sich neue junge Leute endlich wieder auf die Strasse trauen und mit neuem Selbstbewusstsein ihre Rechte einfordern. Endlich bricht etwas auf. Die Einschätzung der Lage ist trotzdem pessimistisch. Es erscheint ihnen derzeit nicht realistisch, dass die Macht des Militärregimes gebrochen werden kann, und das wäre natürlich die Grundlage für jedwelche substantielle Änderung. Ihnen zufolge gibt es aber derzeit Konflikte innerhalb des Militärs, was auch erklären könnte, warum die Polizei am Freitag so überraschend wenig gewalttätig war (es kursiert sogar eine Aufforderung eines Offiziers an Riot Cops zur Gewaltlosigkeit vom letzten Freitag auf YouTube). Fraktionen im Militär wollen, wie meine Genossinnen vermuten, die Proteste nutzen, um gegen Al Sisi zu putschen.

Daher finden sie die Proteste zwar gut, sind aber auch distanziert: Niemand hat Bock, erneut wie 2013 den Steigbügelhalter für einen neuen General zu spielen. Und ändern würde sich ohne den Sturz des Militärregimes ja ohnehin nichts. Die einen werden der Demo am kommenden Freitag daher tatsächlich fernbleiben. Die andern gehen nur hin, weil sie finden, dass irgendeine Bewegung überhaupt besser ist als gar nichts.

Die Proteste am 27.09.2019 waren nach einer Repressionswelle mit mehr als 2.000 Verhaftungen und einer Absperrung der Innenstadt von Kairo eher punktuell. Die NYT vom 27.09.2019 berichtete über „Scattered Protests“:

Scattered protests calling for President Abdel Fattah el-Sisi of Egypt to step down broke out in multiple Egyptian cities on Friday afternoon, marking the second Friday in a row of rare, though small, demonstrations challenging his authoritarian rule.

The protests did not match last week’s in number or size, at least partly a result of how fiercely the Egyptian government had moved to smother them. […]

Security officers dispersed protests in the Cairo neighborhood of Warraq and the city of Giza, planted themselves at major intersections, stopped and searched cars, buses and passers-by, and shut down the capital’s downtown shopping district.

A protest sprouted in the working-class Cairo neighborhood of Warraq, an island in the Nile where residents have agitated for years against government plans to clear them out to make room for development.

Residents joined the protest as they poured out of mosques after midday prayers, according to live videos posted on Facebook and a local journalist and activist who had spoken to protesters there. Throngs marched and chanted through narrow streets. Later, a smaller group threaded through crop fields on the island, watched from above by riot police and other security personnel stationed on a bridge.

“No matter how, we’ll bring Sisi down,” the crowds chanted.

Live videos posted on Facebook also showed a march in Qena, a city in southern Egypt. There were reports on social media of demonstrations in a few other areas, but no other evidence surfaced on Friday to verify them.

Ägypten, am 2. Freitag