Vincent Cochetel ist Sonderbeauftragter des UNHCR für den Mittelmeerraum. In einem Interview mit Steffen Lüdtke, Der Spiegel, anlässlich des Berlin-Gipfels äußert er sich zur Lage der Geflüchteten in den Lagern, aber auch zu der neuen Situation, dass neuerdings auch Geflüchtete aus Libyen selbst in den Booten sitzen, die von der „Libyschen Küstenwache“ zurück transportiert werden.

Aus dem Interview:

SPIEGEL: Herr Cochetel, was bedeutet der libysche Bürgerkrieg für die Migranten und Flüchtlinge, die in libyschen Haftlagern sitzen?
Cochetel: Auf den Straßen ist es für sie gefährlich wie nie, auch in den Haftzentren verschlechtert sich die Situation. Je nach Zentrum schwankt sie von schlecht bis schrecklich. In einigen dieser Gefängnisse wird gefoltert, vergewaltigt, werden Migranten und Flüchtlinge verkauft oder ihre Familien müssen sie freikaufen. Besonders Sudanesen werden offenbar zunehmend zum Kriegsdienst verpflichtet. In anderen Haftzentren gibt es keine Berichte über solche Gräueltaten. Aber selbst dort sind die Zentren überfüllt, es gibt nicht genug Essen, Menschen stecken sich mit Krankheiten an.

SPIEGEL: In den ersten zwei Wochen des neuen Jahres hat die libysche Küstenwache knapp tausend Flüchtende auf dem Mittelmeer abgefangen und zurück in den Bürgerkrieg gebracht. Fliehen wieder mehr Menschen Richtung Europa?
Cochetel: Wir verzeichnen einen deutlichen Anstieg der Flüchtlingszahlen. Das lässt sich nur durch die vorrückenden Truppen von General Haftar erklären. Denn die See war rau in den ersten Tagen des Jahres, normalerweise legen bei dem Wetter weniger Boote ab. Inzwischen verlassen auch Libyer ihr Land per Boot. Das ist neu.

SPIEGEL: Wurden die ebenfalls gegen ihren Willen zurückgebracht?
Cochetel: Ja, wir wissen von 17 Libyern, die abgefangen worden sind – ein klarer Bruch des Völkerrechts. Sie hätten nie in ihr Land zurückgebracht werden dürfen. Libyen ist im Krieg, manchen droht dort Verfolgung. Kein Land sollte sich an solchen Rückführungen beteiligen, das gilt auch für zivile Schiffe, die manchmal in internationalen Gewässern Schiffbrüchige retten.

SPIEGEL: Im Kanzleramt ist man besorgt, dass es zu einer neuen Flüchtlingskatastrophe kommen könnte, falls der Krieg in Libyen eskaliert.
Cochetel: Ich glaube nicht, dass es einen massiven Anstieg der Flüchtlingszahlen aus Libyen in Europa geben wird. In Tunesien sind bereits mehr als eine Million Libyer. Sollte die Lage in Libyen eskalieren, werden viele Menschen eher nach Tunesien gehen, als in hoher Zahl auf Boote zu steigen.

Der Spiegel 19.01.20

Cotchetel zur Situation der Geflüchteten in Libyen