Vor dem heutigen Treffen der EU-Außenminister werden in Berlin zum wiederholten Mal Forderungen nach der Einrichtung von Flüchtlingslagern in Nordafrika laut. Während die Vereinten Nationen sowie Flüchtlingsorganisationen darauf dringen, die berüchtigten Lager in Libyen umgehend zu schließen und die dort festgehaltenen, misshandelten und oft auch gefolterten Flüchtlinge wenigstens zum Teil in die EU einreisen zu lassen, verlangt der FDP-Vorsitzende Christian Lindner, das UN-Flüchtlingshilfswerk solle in Libyen eigene Lager errichten, in denen eine „menschenwürdige Unterbringung“ gesichert sei. Der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) schlägt ergänzend die Schaffung einer „Schutzzone“ in Libyen vor. Ein deutscher General a.D. plädiert für einen EU-Militäreinsatz in dem nordafrikanischen Land, bei dem nicht nur die Küstenwache, sondern auch weitere, an Land operierende „Sicherheitskräfte“ ausgebildet werden könnten. Dem UNHCR ist es seit April gelungen, je knapp 300 Flüchtlinge aus Libyen nach Niger und nach Italien zu evakuieren. Von Evakuationen nach Deutschland berichtet die Organisation nichts.

Zurück zum Ausgangspunkt

Zum wiederholten Male werden in Berlin Forderungen nach der Einrichtung von Flüchtlingslagern in Nordafrika laut. Wie der FDP-Vorsitzende Christian Lindner am Wochenende verlangte, müsse man auf das Massensterben im Mittelmeer reagieren, indem man „in Nordafrika menschenwürdige Unterbringungsmöglichkeiten“ schaffe. Dies solle das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) übernehmen.[1]Lindner kontert Maas-Vorschlag mit Unterkünften in Nordafrika. welt.de 14.07.2019. Ergänzend müsse die staatliche Seenotrettung wieder aufgenommen werden. Allerdings dürften gerettete Flüchtlinge nicht mehr nach Europa gebracht werden, sondern „an den Ausgangspunkt der jeweiligen Reise“. Praktisch läuft das auf einen Rücktransport nach Libyen hinaus. Ähnlich hat sich in der vergangenen Woche der Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf), Hans-Eckhard Sommer, geäußert. Sommer zufolge soll sich das UNHCR in Libyen um die Flüchtlinge kümmern und dafür sorgen, dass diejenigen, die in der EU keine Chance auf Asyl hätten, unmittelbar in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden.[2]Bamf-Chef Sommer für Schutzzone in Libyen. www1.wdr.de 10.07.2019. Eine „gemeinsame humanitäre Initiative von Europa und Vereinten Nationen … auf libyschem Boden“ hat auch Bundesentwicklungsminister Gerd Müller verlangt.[3]Minister Müller fordert Rettungseinsatz für Migranten in Libyen. welt.de 08.07.2019. Man solle nicht zulassen, „dass das Mittelmeer endgültig das Meer des Todes wird“, äußerte Müller zur Begründung seines Plädoyers, Operationen in Libyen zu starten.

„Sechs Lager für je 1.000 Migranten“

Bereits näher präzisiert hat den Vorschlag unlängst Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. Demnach müsse die vom Westen eingesetzte libysche „Einheitsregierung“ nun „endlich erlauben, dass Lager unter dem Dach von UNHCR und IOM [International Organization for Migration, d. Red.] aufgebaut werden“, erklärte Asselborn in der vergangenen Woche.[4]Christoph B. Schiltz: „EU soll neue Seerettungsmission starten“. welt.de 11.07.2019. Dies sei nötig, „damit die Migranten human betreut werden und sicher sind“. Insgesamt würden „dringend etwa sechs Aufnahmelager für jeweils 1000 Migranten benötigt“, die ausschließlich „von UNHCR und IOM verwaltet werden“ sollten. Zu der Frage, wie die UNHCR-/IOM-Flüchtlingslager vor Angriffen geschützt werden sollen – in Libyen herrscht Krieg -, äußerte Asselborn sich nicht.

Militäreinsatz in Libyen

Vorschläge dazu sind in den vergangenen Tagen allerdings in der Bundesrepublik laut geworden. Eine „Koalition europäischer Staaten“ müsse in Libyen für die Lager eine „Schutzzone“ schaffen, wird Bamf-Präsident Sommer zitiert.[5]Bamf-Chef Sommer für Schutzzone in Libyen. www1.wdr.de 10.07.2019. Aus Militärkreisen heißt es, dazu könne ein EU-Einsatz notwendig sein. Soldaten aus EU-Staaten könnten in Libyen „Sicherheitskräfte und Küstenschutz ausbilden“, erklärt General a.D. Hans-Lothar Domröse, der nach diversen Führungspositionen in der Bundeswehr und im Bundesverteidigungsministerium seine Karriere im Jahr 2016 bei der NATO als Oberbefehlshaber des Allied Joint Force Command Brunssum abschloss. Der CDU-Außenpolitiker David McAllister, der seit 2017 den Auswärtigen Ausschuss im Europaparlament leitet, spricht sich für „zusätzliche Einsätze in Zusammenarbeit mit der Nato“ aus.[6]Karina Mössbauer: Muss jetzt Militär für Ordnung in Libyen sorgen? bild.de 08.07.2019. Ergänzend plädiert McAllister dafür, „gemeinsame Patrouillenfahrten von EU-Staaten und angrenzenden Ländern am Mittelmeer“, etwa Tunesien, durchzuführen, „um das Auslaufen von Schiffen der Schlepper möglichst frühzeitig zu unterbinden“.

UN-Appelle

Zu völlig gegenläufigen Forderungen kommen die Vereinten Nationen sowie diverse Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen. So dringen der Leiter des UN-Flüchtlingshilfswerks, Filippo Grandi, sowie IOM-Generaldirektor António Vitorino, darauf, die EU müsse ihre Seenotrettung im Mittelmeer umgehend wieder aufnehmen, die geretteten Flüchtlinge in sichere Häfen bringen und die Lager in Libyen, in denen Flüchtlinge festgehalten, misshandelt und oft sogar gefoltert werden, so rasch wie möglich evakuieren. Der Rücktransport von Flüchtlingen nach Libyen sei unter allen Umständen zu unterlassen. Laut Grandi und Vitorino geht es alles in allem um fast eine Million Menschen – rund 50.000 registrierte Flüchtlinge sowie mutmaßlich 800.000 weitere Migranten, die unter prekären Umständen in Libyen leben.[7]Freilassung aller Flüchtlinge in Libyen gefordert. dw.com 12.07.2019. Der European Council on Refugees and Exiles (ECRE) hat sich gemeinsam mit Amnesty International und Human Rights Watch der Forderung angeschlossen und ruft zudem die Afrikanische Union auf, sämtliche verfügbaren Mittel zu nutzen, um Druck auf die EU auszuüben, ihren Kurs zu ändern.[8]EU should offer to evacuate migrants trapped in Libyan detention centres. amnesty.org.uk 14.07.2019. Die Union bewegt sich bislang nicht.

Weniger als Rom

Dabei zeigen aktuelle Statistiken des UNHCR, dass Berlin, während es sich moralisch über die brutale Flüchtlingsabwehr der italienischen Regierung erhebt, im Rahmen der regulären UNHCR-Evakuierungen deutlich weniger Flüchtlinge aufnimmt als Rom. Wie die Statistiken belegen, ist es dem UN-Flüchtlingshilfswerk in den vergangenen drei Monaten wegen der neuen Eskalation des Krieges in Libyen nur gelungen, 589 Flüchtlinge von dort zu evakuieren. 294 von ihnen wurden in den Niger zurückgebracht, 295 nach Italien ausgeflogen.[9]UNHCR Update Libya. 3 July 2019. Etwaige Evakuierungen in die Bundesrepublik vermeldet das UNHCR nicht.

German Foreign Policy | 15.07.2019

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European Union/Libya: Act Now to Save Lives

European Union foreign ministers gathering in Brussels on July 15, 2019, should issue a clear call to Libyan authorities to close their migrant detention centers, Human Rights Watch, Amnesty International, and the European Council on Refugees and Exiles (ECRE) said today. The EU ministers should make a commitment on behalf of EU states to facilitate the evacuation of detainees to safe places, including outside of Libya and to EU member states.

“Expressions of outrage over dire conditions and dangers to detainees amid fighting in Tripoli ring hollow without urgent life-saving measures to get people out of harm’s way,” said Judith Sunderland, associate Europe and Central Asia director at Human Rights Watch. “EU governments should offer concrete support to Libyan authorities to close all migrant detention centers and take immediate action to help evacuate those most vulnerable and at risk.”

Libyan authorities have shown an openness to release people from official detention centers, in the wake of a deadly attack on the Tajoura detention center earlier in July. The outgoing EU high representative for foreign affairs, Federica Mogherini, said on July 10 that, “Libya’s current system of detaining migrants has to end.” Citing “ghastly conditions” in detention centers, on June 7, the United Nations high commissioner for human rights appealed to Libyan authorities and the international community to ensure that all migrants and asylum seekers detained in centers in Tripoli are “immediately released.” […]

Human Rights Watch | 12.07.2019

„Das Meer des Todes“

Fußnoten

Fußnoten
1Lindner kontert Maas-Vorschlag mit Unterkünften in Nordafrika. welt.de 14.07.2019.
2, 5Bamf-Chef Sommer für Schutzzone in Libyen. www1.wdr.de 10.07.2019.
3Minister Müller fordert Rettungseinsatz für Migranten in Libyen. welt.de 08.07.2019.
4Christoph B. Schiltz: „EU soll neue Seerettungsmission starten“. welt.de 11.07.2019.
6Karina Mössbauer: Muss jetzt Militär für Ordnung in Libyen sorgen? bild.de 08.07.2019.
7Freilassung aller Flüchtlinge in Libyen gefordert. dw.com 12.07.2019.
8EU should offer to evacuate migrants trapped in Libyan detention centres. amnesty.org.uk 14.07.2019.
9UNHCR Update Libya. 3 July 2019.