Viele Europäer wirken, als hätte sie Carola Racketes Verhaftung wie ein Blitz getroffen. Doch das Desaster kam mit Ansage

Bartholomäus von Laffert

Im April 2017 sahen Carola Rackete und ich uns das letzte Mal. Zwei Wochen hatten wir gemeinsam an Deck der Sea-Watch 2 gestanden und Ausschau nach Flüchtlingsbooten gehalten. Sie war als Rettungsboot-Fahrerin eingeteilt, sollte im Notfall Menschen von den Schlauchbooten evakuieren. Ich wollte darüber berichten. Bis zu zehn weitere nicht-staatliche Seenotrettungsboote waren damals auf dem Mittelmeer aktiv. Als Carola und ich uns damals auf Malta verabschiedeten, konnte wir uns nicht vorstellen, dass die zivile Seenotrettung eines Tages nicht mehr sein würde.

Zweieinhalb Jahre später, die Sea-Watch 3 ist in diesem Moment das letzte nicht-staatliche Seenotrettungsschiff auf dem Mittelmeer, sehe ich Carola Rackete wieder. Auf Twitter. Sie spricht in eine Kamera: „Ich habe beschlossen in den Hafen von Lampedusa einzufahren. Ich weiß, was ich riskiere, aber die 42 Geretteten sind erschöpft. Ich bringe sie jetzt in Sicherheit“. Kurz darauf wird sie in Italien festgenommen und unter Hausarrest gestellt. Das Schiff, das jetzt Sea-Watch 3 heißt, wird beschlagnahmt. Dass Carola Rackete am Dienstagabend freikommt, ändert nichts daran, dass ich mich frage: Wie konnte es soweit kommen?

Die Kriminalisierungskampagne, die nun ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat, hatte bereits im Frühjahr 2017 begonnen: Erst behauptete der Direktor der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex, Fabrice Leggeri, das Retten würde das Schlepper-Geschäft befeuern, bald der italienische Staatsanwalt Carmelo Zuccaro, Schlepper und NGOs würden direkt zusammenarbeiten.

Rechte Politiker ritten auf diesen unbelegten Behauptungen in Richtung Macht. Matteo Salvini wurde Innenminister in Italien, die zivilen Seenotrettungsschiffe wurden festgesetzt, zuletzt die Sea-Watch 3. Die Reaktionen im Internet darauf vermitteln den Eindruck, Racketes Verhaftung habe Europas liberale Öffentlichkeit wie ein Blitz getroffen. Tatsächlich hat sich die EU schon vor langem in diese Situation manövriert.

Das Manöver heißt Dublin und sollte einst die europäische Asylpolitik regeln: Asylbewerber müssen dort einen Antrag stellen, wo sie zum ersten Mal EU-Boden betreten haben. Wie ein Fanal steht das Verfahren für die Entsolidarisierung der reichen Zentrumsstaaten Deutschland und Frankreich gegenüber der Peripherie – Spanien, Griechenland und vor allem Italien. Das Ergebnis: Eine Politik der Gleichgültigkeit auf dem Mittelmeer, als handelte es sich bei den Toten, die schon in den 2000ern auf Lampedusa angespült wurden, um Opfer einer Naturkatstrophe, die irgendwo an Europas Rändern tobte, für die aber niemand verantwortlich sei.

634 Tote an zwei Tagen

Die Gleichgültigkeit zerschellte im Herbst 2013 in Form zweier Schiffwracks an der Küste Lampedusas. Am 3. und 11. Oktober ertranken 634 Menschen. In Europa sprachen Politiker und Zeitungen von der „Schande Europas“. Die Antwort darauf? Lieferte Italien.

Sie nannte sich Mare Nostrum. Eine militärisch-humanitäre Mission der italienischen Marine, die zum einen Schlepper jagen, zum anderen Menschenleben retten sollte. Neun Millionen pro Monat kostete Mare Nostrum die Italiener, 150.000 Menschen wurden in einem Jahr gerettet. Der Dank der EU? Blieb aus. Dafür die Diffamierung als „Pull-Faktor“. An vorderster Front der damalige deutsche CDU-Innenminister Thomas de Maizière, der sagte: „Mare Nostrum war als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen“.

Mare Nostrum wurde geschasst, ersetzt durch die Frontex-Mission Triton, eine Grenzüberwachungsmission ohne Search-and-Rescue-Auftrag. Die Folge? Bei zwei Schiffsunglücken im April 2015 ertranken 1.200 Menschen.

Es war zu dieser Zeit, als die Sea-Watch 1 zur ersten Mission aufbrach: 98 Jahre alt und 21 Meter lang das Schiff, acht Mann Besatzung. An Bord die kritische Zivilbevölkerung, die die EU für die Toten zur Verantwortung ziehen wollte. Sea-Watch war die direkte Antwort auf politisches Versagen. „Wir hatte nie vor, eine Seenotrettungsorganisation zu werden, deswegen heißen wir ja Sea-Watch und nicht Sea-Rescue“, sagte mir Mitgründer Ruben Neugebauer einmal. Zu Rettern wurden die Freiwilligen, weil sie ihre im Seerecht festgeschrieben „Duty to rescue“ wahrnahmen. Bald taten es ihnen andere Organisationen gleich.

Die Italiener waren froh über die Hilfe der Zivilbevölkerung, während sie andere EU-Staaten im Stich ließen. Italienische Küstenwache, europäische Militärschiffe und zivile Seenotretter arbeiteten zwischenzeitlich reibungslos zusammen. 2016 schien es als wirkten die NGOs systemstabilisierend, würden zu Gehilfen einer italienischen Regierung, die Salvinis Atem im Nacken spürte. Es war eine Art Gentlemen’s Agreement zwischen der Regierung und den Seenotrettern, dass die Schiffe nicht beschlagnahmt wurden, wenn sie mit Geretteten italienische Häfen anfuhren. Der Frust der italienischen Bevölkerung wuchs, Salvinis Atem wurde heißer.

Und die EU? Statt Solidarität versuchte sie jene Politik der Gleichgültigkeit auf dem Mittelmeer zu reetablieren, die bis Oktober 2013 geherrscht hatte. Sie zog Boot um Boot vom Mittelmeer ab und versprach gleichzeitig einer Regierung in Libyen, die kaum eine solche zu nennen ist, viel Geld für den Ausbau einer Küstenwache und dafür, dass sich keine Menschen mehr auf den Weg Richtung Europa machen. Unbeachtet blieben die grausamen Bedingungen in libyschen Flüchtlingscamps wie die Toten in der Sahara. Die Seenotretter waren als letzte verbliebene Zeugen für das Sterben, Störfaktoren, sollten beseitigt werden. Die Kriminalisierungskampagne war da bloß konsequent.

Einige Organisationen gaben auf, andere wurden zum Aufgeben gezwungen. Sea-Watch blieb und wurde wieder zu dem, als was es gegründet worden war: Eine politische Organisation, die das europäische Grenzregime herausfordert. Wenn Sterbenlassen zum Status quo wird, dann wird Retten zum politischen Akt.

Heiko Maas heuchelt

Weder ist Sea-Watch das Problem noch die Lösung. Sea-Watch ist der Finger in der eitrigen Wunde, die die Rechtspopulisten in Europa hineingeschnitten haben und aus der die sogenannten europäischen Werte rinnen. Carola Rackete ist mitten in diese Wunde gefahren, als sie gegen den Willen der Behörden in Lampedusas Hafen einfuhr. Was jetzt als Provokation umgedeutet wird, war ein Notruf.

„Seenotrettung darf nicht kriminalisiert werden“, twitterte Außenminister Heiko Maas (SPD), und „Das Geschachere um die Verteilung von Flüchtlingen muss ein Ende haben“. Heuchelei in zwei Tweets. Genauso wenig wie Sea-Watch das Problem ist, ist es Matteo Salvini; der ist zumindest in seiner Menschenverachtung ehrlich.

Das Problem ist ein auf nationalstaatliche Egoismen beschränktes Kerneuropa, ohne Solidarität und Bereitschaft zur Aufnahme Asylsuchender, das einen Matteo Salvini überhaupt ermöglicht hat. Es ist die lähmende Angst vor den Rechtspopulisten im eigenen Land, die damit paradoxerweise eben diesen Rechtspopulisten in Europa zur Durchsetzung ihrer den europäischen Werten zuwiderlaufenden Politik verhilft.

Die gute Nachricht: Die Flucht über das Mittelmeer ist keine Naturkatastrophe. Das Problem ist ein politisches. Carola Rackete hat es aufgezeigt. Jetzt ist es an Maas und Co., es zu lösen. Die Abschaffung von Dublin wäre ein erster Schritt.

Dieser Text erschien zuerst in der Wochenzeitung Der Freitag.

Der Freitag | Ausgabe 27 / 2019

„Das war ein Notruf“ – Der Freitag