Sofian Philip Naceurt zieht in der TAZ vom 19.02.2020 eine Zwischenbilanz nach 12 Monaten des Hirak in Algerien.

Es waren denkwürdige Szenen, die sich vor genau einem Jahr in der Stadt Khenchela abspielten – Szenen, die einen Vorgeschmack darauf gaben, was sich in den folgenden Wochen in Algerien ereignen sollte. Hunderte Menschen zogen an jenem 19. Februar vor das Kommunalparlament der ostalgerischen Stadt und forderten lauthals, ein überdimensionales Banner mit dem Konterfei des damals amtierenden Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika von der Fassade abzuhängen. „Entfernt das Foto, lasst die (algerische) Flagge hängen“, skandierte die Menge so lange, bis das Banner tatsächlich fiel.

Bereits einige Tage zuvor war es in der Berberregion Kabylei im Osten des Landes zu ersten Demonstrationen gegen Bouteflika gekommen, der bei der ursprünglich für April 2019 geplanten Wahl für ein fünftes Mandat antreten wollte. Doch so weit kam es nicht: Schnell griffen die Proteste auf das gesamte Land über und setzten eine Dynamik in Gang, die Algerien noch heute in Atem hält.

Nach beeindruckenden 52 Wochen ununterbrochener Massenmobilisierung gehen die Proteste unvermindert weiter. Seit vergangenem Wochenende erhalten sie erneut massiven Zulauf. Am Sonntag waren allein in der Kleinstadt Kherrata nahe der Oppositionshochburg Bejaia in der Kabylei Zehntausende Menschen auf die Straße gegangen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. „Ein ziviler Staat, kein militärischer“, hallte es stundenlang durch die Stadt.

Während man auf den allwöchentlichen Demonstrationen vergeblich nach Parteisymbolik Ausschau hält, ist die algerische Nationalflagge, die auch an der Fassade in Khenchela hängengeblieben war, allgegenwärtig. Wohl wissend, dass sich die heterogene Protestbewegung – im Land „Hirak“ (Bewegung) genannt – aus verschiedensten gesellschaftspolitischen Lagern speist, symbolisiert die Flagge, dass man trotz ideologischer Differenzen ein gemeinsames Ziel hat: die als äußerst korrupt geltende Elite zu echten Reformen zu zwingen. Zwar ist die Flagge auch Ausdruck einer nationalistischen Gesinnung, gleichzeitig aber schützt sie die Hirak-Bewegung vor Spaltungsversuchen der Staatsführung.

TAZ | 19.02.2020

Ein Jahr Aufstand in Algerien