Es mehren sich die Warnungen, dass die EU unter französischer Führung in Sahara und Sahel in einen Krieg verwickelt werden könnte, der dem in Afghanistan um nichts nachsteht. Die Afghanistan-Papers, welche die Washington Post jetzt veröffentlicht hat, geben einen Einblick, wie solch ein Krieg beginnt, der inzwischen 18 Jahre lang andauert.

Und die New York Times fragt: „What Did the U.S. Get for $2 Trillion in Afghanistan?“ Die Antwort:

The Taliban are gaining strength.
Opium production has quadrupled.
Osama bin Laden is dead.
Most Afghans live in poverty.

BERLIN taz | Seit inzwischen über 18 Jahren kämpfen US-Truppen in Afghanistan. Es ist der längste Krieg der US-Geschichte. Drei US-Präsidenten – George W. Bush, Barack Obama und schließlich Donald Trump – standen dem US-Militär in dieser Zeit als Oberbefehlshaber vor. Was alle drei eint: Sie haben die Öffentlichkeit andauernd über den Krieg belogen, und zu keinem Zeitpunkt verfügten die USA auch nur über eine einigermaßen kohärente Strategie, was sie mit diesem Krieg eigentlich erreichen wollen.

Das geht aus umfangreichen Dokumenten hervor, die die Washington Post nach langem Rechtsstreit aufgrund des Informationsfreiheitsgesetzes (Freedom of Information Act) einsehen konnte und jetzt veröffentlicht hat. […]

Grundtenor der Analysen: Die USA sind 2001 reflexhaft in Afghanistan einmarschiert, eigentlich um al-Qaida zu treffen, die mutmaßlichen Verantwortlichen der Anschläge in New York und Washington am 11. September. Die Taliban, die al-Qaida Unterschlupf gewährt hatten und sich weigerten, deren damaligen Chef Osama bin Laden zu übergeben, wurden eher nebenbei zum direkten Kriegsgegner. Eine Strategie, wie sie in Gespräche über ein zukünftiges Afghanistan einzubinden seien, gab es nicht. Und zu keinem Zeitpunkt verstanden die US-Entscheidungsträger*innen wirklich, wie die afghanische Gesellschaft konstituiert ist. […]

Bush, Obama und Trump versicherten öffentlich, in Afghanistan kein „nation building“ betreiben zu wollen, gaben aber genau dafür Rekordsummen aus: Insgesamt 133 Milliarden US-Dollar, mehr als der gesamte Marshallplan für Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg gekostet hat, haben die US-Regierungen in Afghanistan für Wiederaufbau, Hilfsprogramme und die afghanischen Sicherheitskräfte investiert – ohne damit jedoch nennenswerte Erfolge zu erzielen. Der Versuch, so geht es aus zahlreichen der veröffentlichten Interviews hervor, in Afghanistan eine demokratische Zentralregierung nach westlichem Vorbild aufzubauen, ist grandios gescheitert.

Und: Auf der Suche nach dem Sinn des einmal begonnenen Krieges wurden immer mehr Ziele formuliert: Kampf gegen den Terror, Demokratieaufbau, Durchsetzung von Frauenrechten, Kampf gegen die Drogen … Und entsprechend viele US-Institutionen mit zum Teil vollkommen widersprüchlichen Zielstellungen beteiligten sich. Die einen sprachen von Demokratie, Menschen- und Frauenrechten, während die anderen die direkte Zusammenarbeit mit afghanischen Warlords organisierten, die für das Gegenteil standen.

TAZ | 11.12.2019

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18 Jahre Krieg, 18 Jahre Lügen

Der Afghanistan-Krieg gerät nun zum Glück mehr in die Schlagzeilen. Grund hierfür sind die sogenannten Afghanistan Papers, die vor wenigen Tagen von der Washington Post veröffentlicht wurden. Die geheimen Dokumente sagen uns im Grunde nur, was viele schon längst wussten: Die Öffentlichkeit wurde belogen, und zwar immer und immer wieder. Von Emran Feroz aus Kabul.

Sobald ich in Kabul jemanden fragen würde, was er von der Veröffentlichung der Afghanistan Papers hält, würde er mich wohl nur ratlos anschauen und wahrscheinlich mit dem Kopf schütteln. Vor drei Tagen veröffentlichte die Washington Post ihre „huge story“ und veröffentlichte die geheimen Dokumente – einen 2.000-Seiten-Bericht, der deutlich macht, dass nichts, und zwar absolut gar nichts, gut ist am Hindukusch. Und zwar schon seit Beginn der NATO-Intervention im Jahr 2001.

„Uns fehlte ein grundlegendes Verständnis für Afghanistan. Wir wussten nicht, was wir taten. Wir hatten einfach nicht den blassesten Schimmer“, sind etwa die Worte von Douglas Lute, einem der wichtigsten Berater der Bush- und Obama-Administrationen, und er ist nicht der einzige, der im Bericht zitiert wird. Insgesamt wurden mehr als 400 Insider, darunter führende Militärs und Politiker, von John Sopko interviewt. Sie alle geben mehr oder weniger zu, dass der US-Krieg in Afghanistan ein einziges Chaos sei. Niemand scheint zu wissen, wie sich das Dilemma lösen lässt. Hier einige Beispiele, die das gesamte Ausmaß der Täuschung deutlich machen und deshalb einen genaueren Blick wert sind.

  • Laut mehreren Interviewpartnern war es in der US-Militärzentrale in Kabul gängige Praxis, den Krieg reinzuwaschen und der Öffentlichkeit einen baldigen Sieg vorzutäuschen. Man bestand stets darauf, sogar wenn Gegenteiliges der Fall war. Laut Bob Crowley, einem Oberst der US-Army, wurden jegliche Daten in einer Art und Weise manipuliert, um ein möglichst gutes Bild abzuliefern.
  • Klare (und dennoch fragwürdige) Worte fand auch der US-Diplomat James Dobbins: „Wir marschieren nicht in arme Länder ein, um sie reich zu machen. Wir marschieren nicht in autokratische Länder ein, um sie zu demokratisieren. Wir marschieren in gewalttätige Länder ein, um sie zu befrieden, und im Fall von Afghanistan haben wir eindeutig versagt“.
  • Auch Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der den Krieg damals begann, wusste mehr oder weniger, was auf die USA zukommen wird. In einem Memo aus dem Jahr 2002 sagt er unter anderem, dass man das US-Militär „niemals aus Afghanistan rausbekomme“, solange man sich nicht ernsthaft um eine Stabilität bemüht, die einen Abzug gewährleisten kann. Das Memo endet mit „Hilfe!“.
  • Ebenso deutlich wird aus dem Bericht, dass man so gut wie nichts über den „Feind“ wusste. Bekämpfte man Al Qaida, die Taliban oder andere Gruppierungen? Und wie präsent war dieser Feind überhaupt von Zeit zu Zeit? Bis heute behaupten das US-Militär und die Kabuler Regierung etwa, Al Qaida in Afghanistan zu bekämpfen, doch niemand weiß genau, um wie viele Kämpfer es sich dabei handelt. Vor einigen Jahren nahm ich an einer Afghanistan-Veranstaltung teil, auf der ein deutscher NATO-General, der lange in Afghanistan stationiert war, einen Vortrag hielt. Im Laufe des Vortrags zeigte der Mann eine Karte mit „Feinden“, darunter befand sich auch Al Qaida. Im Raum befand sich auch Thomas Ruttig, ein bekannter Afghanistan-Kenner. Er wollte vom General wissen, ob sich in Afghanistan 30, 300 oder 3000 Al-Qaida-Kämpfer befinden würden. Doch dieser geriet ins Stottern und hatte keine Antwort. Ähnlich verhält es sich auch mit vielen Interviewpartnern der Afghanistan Papers.
  • Unbekannt waren wohl auch viele „Freunde“. Als die USA in Afghanistan einmarschierten, förderten sie vor allem korrupte und brutale Warlords, die sich um Ex-Präsident Hamid Karzai versammelt hatten. Viele von ihnen, darunter auch Familienmitglieder Karzais, begannen allerdings schon bald, mit den Millionen von US-Dollar ihr eigenes Spiel zu spielen. Durch fingierte Anschläge erwarb man Verträge mit NATO-Truppen. Gleichzeitig stieg man mit den US-Subventionen ins Drogengeschäft ein. Nur zur Erinnerung: Kurz vor dem Einmarsch der NATO lag der afghanische Opiumanbau praktisch bei null. Mittlerweile ist das Land wieder Rekordexporteur. Männer wie Ahmad Wali Karzai, ein 2011 getöteter Bruder Hamid Karzais, gehörten zu den wichtigsten Drogenbaronen des Landes – und standen nebenbei auch auf der Kontaktliste der CIA. […]

nachdenkseiten | 12.12.2019

Ein neues Afghanistan?