Vorsichtige positive Signale zur Seenotrettung im zentralen Mittelmeer poppen auf, während sich im Hintergrund die Mächte der Festung Europa neu formieren. Zunächst das Positive:

Heute morgen ab 4 Uhr retteten zwei Schiffe der italienischen Küstenwache fast 100 Boat-people vor Libyen. Ihr Boot drohte zu Kentern. Mehrere Stunden lang hatte das WatchTheMed Alarmphone die maltesischen und italienischen Behörden auf die drohende Schiffskatastrophe aufmerksam gemacht.

Der Staatsanwalt Luigi Patronaggio in Agrigent eröffnete gestern die Ermittlung gegen drei Folterer aus dem staatlichen libyschen Internierungslager in Zawiya, wie sogar The New York Times berichtete. Die Folterer waren mit zahlreichen ihrer Gefangenen aufs Meer geflüchtet und von dem Schiff „Alex“ der Rescue-NGO „Mediterranea“ gerettet worden. An Bord beschrieben die Boat-people erlittene Qualen der Vergewaltigung, der Schläge, des Zwangs, Meerwasser zu trinken u.v.a.m. Sie wurden im Internierungslager Zawiya Zeugen von Morden an Mitgefangenen, deren Angehörige keine weiteren Erpressungsgelder an die Kerkermilizen zahlten. Diese neue Ermittlung gegen die drei Folterer, die sich jetzt in italienischer Haft befinden, und die folgende Anklageerhebung werden das EU-gestützte Lagersystem in Libyen sowie die EU-Förderung der libyschen Küstenmilizen zum Gegenstand machen können. Auch die Rolle der IOM kann zur Sprache kommen. Mitarbeiter dieser UN-Organisation waren im Lager anwesend und handelten nicht, als vor ihren Augen Internierte starben – wegen unbehandelter Wunden, Krankheiten oder durch Mord.

Sodann hat die römische Justiz die Wiederaufnahme der Klageerhebung zur Schiffskatastrophe vom 11./12.10.2013 im zentralen Mittelmeer angeordnet, der Prozess ist auf den 03.12.2019 bei der Zweiten Strafkammer des Gerichts in Rom angesetzt. 268 Boat-people ertranken damals, unter ihnen 60 Kinder. Angeklagt wurden jetzt erneut – nach Einstellung des ersten Verfahrens – Leopoldo Manna und Luca Licciardi, zwei hohe Befehlshaber der italienischen Marine und der Küstenwache. Sie griffen über Stunden nicht ein, um den Schiffsbrüchigen zu helfen, obwohl sie das Kriegsschiff „Libra“ mit Helikopter und mit umfangreichen Rettungsdispositiven in großer Nähe der Schiffbrüchigen stationiert hielten. Einem syrischen Arzt, der seine Töchter bei der Schiffskatastrophe verlor, ist es zu verdanken, dass dieser Fall des massenhaften Ertrinkenlassens bekannt wurde und nun vor Gericht kommt. Er hatte als Überlebender seine Notrufe an die italienischen und maltesischen Rettungsstellen nicht nur penibel festgehalten, sondern ist anschließend an die Öffentlichkeit gegangen. Der „Espresso“ veröffentlichte das Protokoll der unterlassenen Hilfe. WatchTheMed recherchierte mit Interviews unter Überlebenden und mit maritimer Sachkenntnis das staatlich beobachtete Sterbenlassen. Für das WatchTheMed Alarmphone wurde diese Katastrophe im Oktober 2013 zum konzeptionellen Ausgangspunkt des praktischen Handelns.

So weit zu den positiven Signalen dieser Tage. Sogar die deutsch-französische Initiative der künftig regulären Aufnahme jeweils eines Viertels der NGO-Geretteten könnte man hinzuzählen.

Doch im Hintergrund läuft eine Formierung der Macht in Europa, die kaum an die Öffentlichkeit gerät. Deutschland, Frankreich und die EU-„Nordländer“ wollen zumindest einen Teil der Frontex-Truppe mit einer „Einmarschkompetenz“ ausstatten, sodass bewaffnete Frontex-Polizisten am Mittelmeer ohne Bewilligung der jeweiligen „Süd-Staaten“ agieren könnten.

Emmanuel Macron wechselte in einer Ansprache an Parlamentarier*innen gestern in die „Kärcher“-Rhetorik, die an Sarkozy erinnert: Macron wolle sich nun in der Immigrationsfrage mit den „Classes populaires“ verbünden, die die Last der Überfälle, Raube und anderer Delikte von Migranten trügen. Die „städtische Bourgeoisie“ kenne ja diese Probleme nicht und sollte daher in den Migrationsangelegenheiten nicht mehr den Ton angeben.

Betont nüchtern analysiert Alexander Stille in den „Foreign Affairs“  die Chancen eines echten Wechsels in Italien. Er charakterisiert die jetzige migrationspolitische Einigung Italiens, Deutschlands und Frankreichs als „großen Bluff“. Nur wenn die EU die „Dublin“-Regel aufhebe und durch beträchtliche ökonomische Zugeständnisse die Lebensverhältnisse in Italien wieder anhebe, wäre mit einer wirklichen Alternative der Immigrationspolitik zu rechnen. Die „Dublin“-Regel und die EU-Austeritätspolitik werde mittelfristig noch mehr Wähler*innen in das Lager von Matteo Salvini treiben, der allerdings zuvor auch keine Mehrung des Wohlstands in Italien durchsetzen konnte.

Alexander Stille weist darauf hin, dass Italien Anfang der 1990er Jahre mit seinem Bruttoinlandsprodukt mit Großbritannien gleichauf lag. Jetzt ist das italienische BIP 30 Prozent niedriger als das britische. Der Bildungsstand der jungen Italiener*innen sinke im Vergleich zu anderen EU-Staaten immer weiter ab, und viele weitere Beispiele für den erzwungenen Niedergang werden genannt.

Tatsächlich sah es in der letzten Woche so aus, als ob der frischgebackene italienische EU-Kommissar Paolo Gentiloni im Verbund mit Anderen die EU-Austeritätsverhältnisse ein ganz klein wenig zum Tanzen bringen könnte. Aber seine Richtlinienkompetenzen wurden sofort durch den neuen EU-Austeritätskommissar Valdis Dombrovsiks beschnitten. So wird in der EU-Wirtschaftsordnung wohl alles beim Alten bleiben.

Die einzige Neuigkeit dieser Tage ist – neben den kleinen genannten Lichtblicken der Seenotrettung – , dass der deutsche Innenministers Horst Seehofer mehr Realität erkennt: Abgeklärt wies er darauf hin, dass in Nordafrika keine EU-Auffanglager eingerichtet werden können – und er schwieg zu den EU-libyschen Internierungslagern. Diese werden weiter existieren, und das Massensterben wird wohl auch weitergehen – falls sich die zahlreichen Initiativen der politischen Seenotrettung „von unten“ nicht zu neuen Handlungsperspektiven zusammenfinden und neuen Druck entfalten werden.

Und soeben kommt die Meldung:

Vor 11 Minuten

According to Tunisian sources, a occurred last night near the coastal city of Sfax in . 8 bodies have been found so far, more deaths are expected. Local fishermen and the Tunisian coastguards are still searching.

Dass tunesische Boat-people vor wenigen Tagen kurz vor der italienischen Küste ertranken, fand fast keinen Eingang in die Nachrichten. Fast täglich erreichen Boat-people aus eigener Kraft Sizilien oder Lampedusa. Wieviele dieser sogenannten Geisterschiffe, die bei Seenot keine SOS-Rufe absetzen, in diesen Monaten untergegangen sind, ist gänzlich unbekannt.

Ertrinkenlassen, Seenotrettung und die Festung Europa

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