EU-Flüchtlingsabwehr: Mehr Tote im Mittelmeer als auf allen anderen Fluchtrouten weltweit. Kirchen gehen in Opposition

Beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, sind auch dieses Jahr wieder mehr Flüchtlinge zu Tode gekommen als auf jeder anderen Fluchtroute überhaupt. Von den 3.170 Menschen weltweit, die seit dem 1. Januar 2019 auf der Flucht ihr Leben verloren, starben 1.246 auf dem Weg aus Nordafrika in die EU – fast doppelt so viele wie auf der berüchtigten Fluchtroute aus Lateinamerika in die USA (659). Sogar mehr als die Hälfte aller Menschen, die seit 2014 auf der Flucht umkamen, gehen auf das Konto der deutsch-europäischen Flüchtlingsabwehr. Dessen ungeachtet kooperieren Berlin und Brüssel weiterhin mit repressiven Regimen und mafiösen Milizen in Nordafrika, um Flüchtlinge auf dem afrikanischen Kontinent festzuhalten. Zusätzlich bereitet die Union den Einsatz von Langstreckendrohnen für Abwehroperationen im Mittelmeer vor. Zehntausende Flüchtlinge, die es in die EU schaffen, enden in Lagern in Griechenland, wo sie unter katastrophalen Verhältnissen dahinvegetieren. Opposition kommt in zunehmendem Maß aus den großen christlichen Kirchen.

Die tödlichste Fluchtroute der Welt

Im zu Ende gehenden Jahr 2019 sind erneut weit über tausend Flüchtlinge beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, ums Leben gekommen. Die International Organization for Migration (IOM) dokumentierte mit Stand vom gestrigen Donnerstag 1.246 Todesopfer allein seit dem 1. Januar 2019. Insgesamt sind, auch dies nach Angaben der IOM, seit dem 1. Januar 2014 mindestens 18.744 Flüchtlinge auf dem Mittelmeer verstorben; mehr als die Hälfte sämtlicher weltweit auf der Flucht umgekommenen Menschen (32.538 seit dem 1. Januar 2014) gehen damit auf das Konto der deutsch-europäischen Flüchtlingsabwehr. Die Zahl der Todesopfer auf den berüchtigten Fluchtrouten aus Lateinamerika in die USA lag – die US-amerikanisch-mexikanische Grenze inklusive – im selben Zeitraum mit 3.373 bei einem Sechstel der Zahl der Todesopfer im Mittelmeer. Dabei sind die Flüchtlinge nicht eingerechnet, die den Versuch, über die Kanarischen Inseln nach Europa zu gelangen, nicht überlebten. Zuletzt ertranken dort Anfang Dezember mindestens 62 Menschen, nachdem ihr Boot gekentert war. Ebenfalls nicht eingerechnet sind die Flüchtlinge, die auf dem Weg an die nordafrikanische Küste bereits in der Sahara verdursten. Vor zwei Jahren teilte ein IOM-Sprecher mit, man schätze ihre Anzahl auf „mindestens das Doppelte“ der Todesopfer im Mittelmeer.[1]Tom Miles, Stephanie Nebehay: Migrant deaths in the Sahara likely twice Mediterranean toll: U.N. reuters.com 12.10.2017.

Repressive Helfershelfer

Um die Zahl der Flüchtlinge, denen die Reise über das Mittelmeer in die EU gelingt, möglichst niedrig zu halten, greifen Berlin und Brüssel ganz unverändert auf eine enge Kooperation mit repressiven Regimen und mafiösen Milizen in Nordafrika zurück. Unterstützung für die deutsch-europäische Flüchtlingsabwehr leistet unter anderem Ägypten; die seit dem Putsch vom Jahr 2013 in dem Land herrschenden Generäle, denen gravierende Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden (german-foreign-policy.com berichtete [2]S. dazu Mubarak 2.0 und Mubarak 2.0 (II).), verhindern das Ablegen von Flüchtlingsbooten von der ägyptischen Küste seit Ende 2016 konsequent. Auch die in Algerien herschenden Militärs leisten einen Beitrag dazu, Flüchtlinge von der Reise nach Europa abzuhalten (german-foreign-policy.com berichtete [3]S. dazu In die Wüste abgeschoben.). Hinzu kommt die bis heute fortdauernde Zusammenarbeit der EU mit libyschen Milizen, die nicht nur die von der Union geförderte „Küstenwache“ stellen, sondern auch mörderische Flüchtlingslager betreiben.[4]S. dazu Europas Hilfspolizisten (II) und Das Meer des Todes. An der Nordküste des Mittelmeers kooperieren Berlin und Brüssel mit der Türkei, damit Ankara die fast vier Millionen dort lebenden Flüchtlinge nicht in die EU weiterreisen lässt. Die Kooperation wird seit Jahren scharf kritisiert, dauert aber ebenfalls bis heute an.[5]S. dazu Der Türsteher der EU.

Mit Drohnen auf Flüchtlingsjagd

Zusätzlich zur Zusammenarbeit mit Anrainerstaaten jenseits der EU baut Brüssel seine eigene Flüchtlingsabwehr im Mittelmeer weiter aus. So wird die Grenzbehörde Frontex bis 2027 zu einer 10.000 Grenzbeamte starken Einrichtung aufgebläht, die eigenständig Einsätze durchführen darf – auch im Mittelmeer. Berichten zufolge will Frontex nicht nur Flugzeuge und Schiffe beschaffen, sondern auch Drohnen. Eine Ausschreibung für Langstreckendrohnen, die Flüge vor Griechenland, Italien oder Malta durchführen sollen, ist demnach bis zum vergangenen Freitag befristet gewesen. Die Fluggeräte sollen mindestens 20 Stunden lang in der Luft bleiben und Tag und Nacht sowie bei allen Wetterlagen operieren können. Sie sollen mit elektro-optischen und mit Wärmebildkameras ausgerüstet sein sowie mit „daylight spottern“, die bewegliche Ziele verfolgen können. Zudem sollen sie über Anlagen für die Ortung von Mobil- und Satellitentelefonen verfügen.[6]Matthias Monroy: Frontex stationiert Langstreckendrohnen im Mittelmeer. heise.de 17.12.2019. Ihr Radius wird bis an die Küsten Tunesiens, Libyens und Ägyptens reichen. Damit wäre es leicht möglich, Flüchtlinge schon beim Ablegen oder aber kurz danach aufzuspüren und die Küstenwachen der nordafrikanischen Anrainer zu mobilisieren. Beobachter urteilen, die Drohnen könnten „bereits im ersten Quartal des kommenden Jahres“ einsatzbereit sein.[7]Matthias Monroy: Frontex stationiert Langstreckendrohnen im Mittelmeer. heise.de 17.12.2019.

Abschreckung durch Lager

Flüchtlinge, die es trotz allem nach Europa schaffen, werden in zunehmendem Umfang in Lagern festgehalten – unter katastrophalen Lebensbedingungen. Bekanntestes Beispiel dafür sind die Lager auf mehreren griechischen Ägäisinseln. Bereits Ende November wurde berichtet, in Lagern auf Lesbos, Chios, Leros, Kos und Samos, die offiziell rund 6.200 Plätze hätten, lebten bereits mehr als 36.000 Flüchtlinge. Allein im Lager Moria auf Lesbos, in dem offiziell höchstens 2.138 Personen untergebracht werden dürfen, vegetieren aktuell laut Angaben des UNHCR 18.330 Flüchtlinge dahin.[8]Holly Young: This school at a refugee camp in Lesbos is a safe haven for children. pri.org 17.12.2019 Die Verhältnisse dort sind bereits seit Jahren desolat. Insassen beklagen regelmäßig nicht nur eine völlig unzureichende Ausstattung des Geländes, sondern auch eine mangelhafte bis inexistente medizinische Betreuung und sogar eine unzureichende Versorgung mit Nahrungsmitteln einschließlich Wasser. Erst kürzlich starb ein neun Monate altes Baby nach Angaben von Ärzten an extremer Dehydrierung.[9]Annette Kögel: Griechenland will geschlossene Lager für Flüchtlinge bauen. tagesspiegel.de 25.11.2019. Weil die Lage gänzlich außer Kontrolle zu geraten droht, kündigte die griechische Regierung im November an, sie wolle die Lager schließen, diejenigen Flüchtlinge, die – nach wessen Einschätzung auch immer – Aussicht auf Asyl hätten, auf das griechische Festland bringen und alle anderen in Containerlagern internieren – zwecks Abschreckung: Die Lager sollten, kündigte ein Athener Regierungssprecher an, eine „klare Botschaft an diejenigen sein, die eine illegale Einreise planen“.[[10]Annette Kögel: Griechenland will geschlossene Lager für Flüchtlinge bauen. tagesspiegel.de 25.11.2019.

Kirchen in der Opposition

Während die Bundesregierung, die zur Legitimation außenpolitischer Aggressionen oft angebliche oder tatsächliche Menschenrechtsverletzungen gegnerischer Länder anprangert, die mörderische EU-Flüchtlingsabwehr weiter forciert, gehen die großen christlichen Kirchen zunehmend zu ihr in Opposition. Papst Franziskus hat die EU-Flüchtlingsabwehr bereits mehrfach öffentlich attackiert.[11]S. dazu Das Leiden des Anderen und Die erbärmlichen Tiefpunkte der Flüchtlingsabwehr. Am vergangenen Wochenende hielten nun der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, im Münchner Liebfrauendom einen Gedenkgottesdienst zur Erinnerung an die Todesopfer im Mittelmeer ab. Bedford-Strohm erklärte, man müsse „Politiker in die Verantwortung rufen und Menschen helfen, die in Lebensgefahr sind“. Die EKD sammelt Geld für ein Seenotrettungsschiff, das womöglich zu Ostern 2020 in den Einsatz im Mittelmeer starten kann.[12]EKD sammelt Spenden für Flüchtlings-Rettungsschiff. evangelisch.de 03.12.2019. Marx, der schon mehrmals private Seenotretter mit großzügigen Spenden unterstützt hatte, erklärte, der christliche Religionsstifter identifiziere sich „mit jedem, der Opfer wird“: „Die Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, sind Christus“. Dass immer noch Menschen an der Grenze Europas zu Tode kämen, sei ein „Skandal“.[13]Marx: Ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer „sind Christus“. vaticannews.va 16.12.2019.

German-Foreign-Policy | 20.12.2019

„Europäische Werte“

Fußnoten

Fußnoten
1Tom Miles, Stephanie Nebehay: Migrant deaths in the Sahara likely twice Mediterranean toll: U.N. reuters.com 12.10.2017.
2S. dazu Mubarak 2.0 und Mubarak 2.0 (II).
3S. dazu In die Wüste abgeschoben.
4S. dazu Europas Hilfspolizisten (II) und Das Meer des Todes.
5S. dazu Der Türsteher der EU.
6, 7Matthias Monroy: Frontex stationiert Langstreckendrohnen im Mittelmeer. heise.de 17.12.2019.
8Holly Young: This school at a refugee camp in Lesbos is a safe haven for children. pri.org 17.12.2019
9, 10Annette Kögel: Griechenland will geschlossene Lager für Flüchtlinge bauen. tagesspiegel.de 25.11.2019.
11S. dazu Das Leiden des Anderen und Die erbärmlichen Tiefpunkte der Flüchtlingsabwehr.
12EKD sammelt Spenden für Flüchtlings-Rettungsschiff. evangelisch.de 03.12.2019.
13Marx: Ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer „sind Christus“. vaticannews.va 16.12.2019.