Die Radaktion möchte in Zukunft die wichtigsten Nachrichten in ein- bis zweiwöchentlichen Abständen zusammenfassen, damit denen, die wenig Zeit haben, nicht so viel verloren geht. Vielleicht wird daraus in absehbarer Zeit ein Newsletter.

Wahlkampf in der BRD

Ob es wirklich eine gute Idee war, dass SPD Kandidat Schulz das Fass Flüchtige und Mittelmeer für den Wahlkampf noch einmal aufmachen wollte? In Italien stand er als Randfigur da und in -schland kann seine Initiative vielleicht der AfD ein paar Punkte mehr bringen, aber sie wird der SPD nicht nützen, denn diese hat und ist keine Alternative. 50% der Bevölkerung sind für die Aufnahme von Geflüchteten, aber sie werden von keiner Partei vertreten.

Sind die Aufrüstungen der libyschen Küstenwachen effektiv?

Nach Zahlen von UNHCR stehen die Daten für Juli auf einem historischen Tiefststand:

Die Zahlen (einschließlich Spanien und Griechenland) lauten:

Monat20172016
April15.01613.265
Mai25.96122.268
Juni27.89924.608
Juli13.16125.930

Während wieder mehr, in absoluten Zahlen aber nach wie vor wenige Boat People die schwierige Route von Algerien und Marokko nach Spanien benutzen, ist die Zahl derer, die im Juli über die zentrale Mittelmeerroute nach Italien gekommen sind, stark rückläufig, wie aus den Informationen von UNHCR hervorgeht.

Am Mittwoch 26.07. berichtete die Welt:

In diesem Juli ist die Zahl der Flüchtlinge, die im Mittelmeer gerettet und nach Italien gebracht worden sind, stark gesunken. Zumindest im Vergleich zum Vorjahreszeitraum – also vom 1. bis zum 25. Juli 2016 – sind bisher rund 14.000 Flüchtlinge weniger angekommen, nicht 23.552 wie 2016, sondern 9396.
Dies sei kein Zufall und wegen der günstigen klimatischen Bedingungen in den Hochsommermonaten auch ungewöhnlich. Es sei auf die „intensive Arbeit des Innenministers Marco Minniti in den vergangenen Monaten“ zurückzuführen, wie DIE WELT aus hohen Regierungskreisen erfuhr. „Vor allem hat die Kooperation und Unterstützung der libyschen Küstenwache funktioniert“, hieß es.
Die italienische Regierung hat in den vergangenen Monaten die Mitarbeiter der libyschen Küstenwache geschult, der Einheit technische Hilfe, Material und Boote zur Verfügung gestellt. Deren Rettungsboote bringen aufgegriffene Migranten an die libysche Küste zurück.
Als Ende Juni die Zahl der in Italien angekommenen Flüchtlinge noch einmal hochschnellte und 12.000 Flüchtlinge in 48 Stunden Italiens Häfen erreichten, brach Innenminister Minniti spontan eine USA-Reise ab und kehrte nach Rom zurück. Sein Krisenmanagement sah vor, die Kooperation mit den Libyern noch einmal zu intensivieren.

Möglicherweise ist dies der Beginn einer Entwicklung, die dem EU-Türkei-Deal in ihrer Bedeutung für die Migrationsbewegungen kaum nachsteht. Schon zwei Wochen vorher hatte der italienische Innenminister Minniti zusammen mit dem deutschen Innenminister de Maizière in der Welt ein Statement veröffentlicht, das wir zunächst eher als Beschwichtigungsversuch gegenüber Italien gedeutet hatten, das angesichts der nun bekannt gewordenen Zahlen wohl auch als Kriegserklärung gegen die Boat People verstanden werden muss, die Wirkung zeigt.

Die Migrationskrise wird in Afrika bewältigt
Von Thomas de Maizière, Marco Minniti | Veröffentlicht am 12.07.2017
[…] Wir müssen daher das Geschäftsmodell der Schleuser zerstören. Damit bekämpfen wir sie am wirksamsten. Zunächst müssen wir die Schleusung von Migranten durch Libyen verhindern. Wir müssen Libyen bei der Kontrolle der See- und Landgrenzen helfen.
Zusammen haben wir vorgeschlagen, nach Möglichkeiten zu suchen, wie wir Libyen bei der Kontrolle seiner Landgrenze im Süden mit der Einrichtung eines modernen Grenzschutzes unterstützen können. Eine libysche Küstenwache ist im Aufbau.
Italien hat Libyen vier Patrouillenboote überholt und wird sechs weitere Boote bereitstellen. Ebenso übernimmt Italien die Ausbildung der Crews und leistet technische Hilfe. Es werden bereits Migranten aus Schlauchbooten nach Libyen zurückgebracht. Die libysche Küstenwache hat bereits 10.000 Schiffbrüchige gerettet.
Es ist wichtig, einen Wettstreit zwischen der libyschen Küstenwache und den NGOs zu vermeiden, zu dem es vor der Küste Libyens manchmal kommt. Ein Code of Conduct ist dabei eine operative Notwendigkeit. Italiens Initiative wurde in Tallinn begrüßt, und die Minister waren sich einig, dass ein Code of Conduct gebraucht wird. […]

Wie sollen wir die aktuellen Zahlen deuten? De Maizière und Minniti verkaufen sie natürlich gerne als Erfolg ihrer politischen Strategie, auch wenn diverse andere Interpretationen denkbar sind, die den Einbruch eher als kurzfristige Schwankung erklären. Trotzdem lässt sich nicht ausschließen, dass die ‚Anleitung zum diskreten Völkerrechtsbruch‚ vor der libyschen Küste mit einem gewissen ‚Erfolg‘ umgesetzt wird. Jedenfalls fehlen gegenüber dem Vormonat und dem Vorjahr viele Tausend Migrant*innen. Wie ist es ihnen weiter ergangen? Das Schicksal dieser Menschen gibt Anlass zu großen Sorgen. Wir bleiben dabei: Fähren nach Europa sind die einzige mögliche Lösung!

The new Great Game

Während De Maizière und Minniti, Schulz und Gentilini Einigkeit demonstrierten, werden die Weichen gestellt für ein neues Great Game, in dem es nicht nur um Flüchtlingabwehr geht. Die Cameron-Hollande-Koalition hat das libysche Regime 2011 effektiv kaputtbombardiert und damit auch die Liaison zwischen Gaddafi und Berlusconi. Dabei ging es um Migration, aber auch um Öl und geostrategische Interessen in Afrika. Offenbar macht sich Macron anheischig, nun ein paar Früchte auf Kosten Italiens einzusammeln. Einzelheiten dieser neuen Konstellation wurden von Il Manifesto, dem Handelsblatt und der NZZ analysiert. Es bleibt zu hoffen, dass sich zwischen Macron und der italienischen Regierung Unstimmigkeiten auftürmen, die der Flüchtigenbewegung über das zentrale Mittelmeer Handlungsräume eröffnen.

Aus der Flüchtlingsperspektive betrachtet hat die EU mit den Abschottungsanforderungen Italien in eine Sackgasse getrieben. Daher versucht die italienische Regierung die NGOs an die Kandare zu nehmen und kündigt abenteuerlicherweise die Entsendung von Kriegsschiffen in Richtung westlibyscher Küste an. Abenteuerlich, weil dort libysche Milizen italienische Pipelines bewachen und gleichzeitig die Boat People auf die Schlauchboote befördern. Da reicht ein Streichholz und alles gerät auch militärisch außer Kontrolle. Eine Syrisierung Libyens wäre die Folge: eine Kriegszone als Cordon sanitaire gegen die Flüchtlingsbewegungen.

Trotzdem: die Drohung einer italienischen Seeblockade, selbst wenn sie vielleicht zu Recht als ‚Brüllen einer Maus‘ charakterisiert wurde, gibt Anlass zu großer Besorgnis. Erinnerungen an das Flüchtlingsschiff Kater I Rades werden wach, das am 28. März 1997 mit 105 Personen an Bord von der italienischen Marine versenkt wurde. Italien steht mit dem Rücken zur Wand und die voreilige Ankündigung des Einsatzes von Kriegsschiffen in libyschen Gewässern ist Ausdruck davon. Das Hin und Her in Fragen der Migration kennzeichnet die italienische Politik der letzten Wochen. Wie lange kann sie sich das noch leisten ohne Gesichtsverlust? Wie wird aus Krise Krieg? Schließlich macht Macron mit seinen Provokationen den Italienern die Führungsrolle streitig, die sie für sich in Sachen Libyen und zentraler Mittelmeerroute beanspruchen.

Tote

Weiterhin gibt es zahlreiche Berichte über havarierte Boote. Wieder Tote. Dass deren Zahl im Mittelmeer noch schneller steigen wird, wenn nun dubiose libysche Küstenwachen tausende Boat People innerhalb der 12-Meilen-Zone kapern, ist zu befürchten. Den libyschen Warriers kommt es auf Menschenleben nicht an.

Lager in Europa

Das ist in Europa anders, es gibt eine spezifische Mischung von struktureller und unmittelbarer Gewalt in den Lagern. HRW hat über die Tränengas-Spray-Angriffe gegen Migrant*innen in Calais berichtet. NYT berichtet über aktuelle Zahlen. MSF hat eine Dokumentation zu Lesbos herausgegeben. ECRE klagt die schleppenden Verfahren in -schland zur Family Reunification an.

Heribert Prantl hat das EU-Gerichtsurteil zum Dublin-System in der Süddeutschen Zeitung folgendermaßen kommentiert:

„Das auf den Dublin-Zuständigkeitsregeln aufbauende europäische Asylrecht ist ein System der Unverantwortlichkeit. Die Europarichter haben es versäumt, diesem System ein Ende zu setzen. Sie haben es versäumt, dieses System wenigstens deutlich zu kritisieren und neue, praktikablere und gerechtere Regeln vorzuschlagen. Sie haben es versäumt, Perspektiven für eine neue Flüchtlingspolitik aufzuzeigen. Die Richter hätten den Grundstein für eine solidarische Flüchtlingspolitik in Europa legen können. Sie haben es nicht getan. Sie überlassen die Flüchtlingspolitik und die Flüchtlinge ihrem Schicksal.“

Children on the Move

Einen besonderen Akzent setzt eine Studie von UNICEF zur Situation Minderjähriger:
Über die Hälfte der befragten afrikanischen Jugendlichen gab nach der Ankunft in Italien an, dass Europa ursprünglich gar nicht ihr Ziel war. Die katastrophalen Bedingungen in Libyen haben sie häufig dazu gebracht, letzten Endes die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer zu wagen. Außerdem sind die Jugendlichen oft ohne Absprache oder das Wissen ihrer Familien aufgebrochen.
Das Bild ist in beiden Ländern sehr unterschiedlich: Während in Griechenland hauptsächlich Mädchen und Jungen mit ihren Familien aus Syrien, dem Irak und Afghanistan eintreffen, stammen Minderjährige in den Aufnahmezentren in Sizilien meist aus afrikanischen Ländern, sind männlich und allein unterwegs. In den ersten sechs Monaten des Jahres sind rund 12.000 minderjährige Flüchtlinge in Italien angekommen, 93 Prozent von ihnen waren unbegleitet.

2016 sind mehr 60.000 unbegleitete Minderjährige in Europa angekommen, die Hälfte davon syrische und afghanische Flüchtlinge. Zehntausend gelten laut Europol als vermisst.

FFM Weekly 30/2017