Die Tagesschau meldete am 04.08.2019:

„Laut Report München verschließt die EU-Grenzschutzagentur Frontex die Augen vor Menschenrechtsverletzungen durch nationale Grenzbeamte. Darüber hinaus verstoße sie selber immer wieder gegen Menschenrechte.“

Beamte setzen Schlagstöcke und Pfefferspray ein, Hunde jagen Flüchtende durch den Wald – diese Szenen sind in internen Dokumenten der EU-Grenzschutzagentur Frontex beschrieben, die Reporter des ARD-Politmagazin report München, der britischen Zeitung „Guardian“ und des Recherchezentrums „Correctiv“ einsehen konnten. Die Dokumente geben einen Einblick in das, was sich an Europas Grenzen abspielt.

Es geht auch um sogenannte Push-Backs: illegale Aktionen von nationalen Grenzbeamten, die gegen das Völkerrecht verstoßen. Jeder Mensch hat das Recht, einen Asylantrag zu stellen – auch wenn er illegal über die Grenze kommt. Trotzdem gibt es seit Jahren immer wieder Berichte darüber, dass nationale Grenzbeamte an Europas Außengrenzen Menschen aus der EU über die Grenze zurückbringen – häufig unter Einsatz von Gewalt und Drohungen. […]

Die europäische Grenzschutzagentur Frontex unterstützt die Mitgliedsstaaten beim Grenzschutz und hat häufig auch eigene Beamte vor Ort im Einsatz. Dass ihr solche Vorwürfe bekannt sind, belegen nun zahlreiche interne Dokumente. Sie beschreiben etwa „exzessive Gewaltanwendung“, „Schlagen mit Draht“ und „Misshandlung von Flüchtlingen“.

Die Vorwürfe betreffen unter anderem Grenzpolizisten aus Bulgarien, Ungarn und Griechenland. Es geht um etliche Menschenrechtsverletzungen – in der EU. Doch viele Berichte enden mit der schlichten Mitteilung „case closed“ – „Fall geschlossen“. […]

Während Frontex es nicht schafft, zu unterbinden, dass Grenzbeamte der Mitgliedsstaaten offenbar äußerst brutal gegen Flüchtlinge vorgehen, ist es in einem anderen Fall die Agentur selbst, die Menschenrechtsstandards missachtet.

Ein interner Bericht aus dem März 2019 gibt Einblicke, was an Bord von Abschiebeflügen passiert, die die Agentur mittlerweile verstärkt durchführt: Frontex-Beamte verstoßen auf diesen Flügen gegen Menschenrechtsstandards und eigene Richtlinien.

So wurden Minderjährige ohne Begleitung von Erwachsenen abgeschoben, obwohl unbegleitete Minderjährige in Frontex-Rückführungsoperationen „nicht erlaubt“ sind, wie es in dem Papier heißt. Außerdem kritisiert die Grundrechtsbeauftragte deutlich den Einsatz von Handschellen: „Fesseln wurden nicht so genutzt, wie es notwendig und verhältnismäßig ist.“

ARD Tagesschau | 04.08.2019

Die Frontex Recherche ist am 06.08.2019 um 21:45 Uhr im ARD-Magazin report München zu sehen oder schon jetzt online.

Die Ergebnisse der Recherche haben dazu geführt, dass Frontex ungewollte mediale Aufmerksamkeit bekommt. Hier nur zwei von vielen Beispielen:

Die Umstände und glücklichen Fügungen ihrer Recherche beschreiben die investigativen Journalist*innen von Correctiv, Frontex: die Überwacher überwachen. Das liest sich wie ein Krimi.

Frontex betont immer wieder, dass es sich an das internationale Seerecht halte. Beweisen können die Seenotretter ihren Verdacht auch nicht. Das ist der Antrieb von Semsrott und Izuzquiza: Sie wollen mit ihren Mitteln das Geschehen auf dem Meer transparent machen. Denn wenn ein Flüchtlingsboot oder ein Rettungsschiff Hilfe anfordert, wenn die Küstenwache um Hilfe ruft, gibt es nach jedem Vorfall grundverschiedene Versionen. Außenstehende können kaum nachvollziehen, was eigentlich geschehen ist.

Das ist es, was Semsrott und Izuzquiza nicht akzeptieren. Sie finden, dass die Daten über Schiffsbewegungen und -positionen, die Lage- und Einsatzberichte von Frontex, die Protokolle der Beratungen zwischen den Regierungen über die Migrationspolitik für jedermann einsehbar sein sollten. Damit jemand die Überwacher überwachen kann. Dies ist die Geschichte ihres Kampfes. Sie haben sich einen mächtigen Gegner ausgesucht. […]

Die Europäische Union baut in Windeseile den Schutz ihrer Außengrenzen aus. Dreh- und Angelpunkt ihrer Bemühungen ist die EU-Agentur Frontex, die seit ihrer Gründung im Jahr 2004 wächst wie keine andere europäische Behörde. Damals nahm Frontex mit einem Budget von sechs Millionen Euro die Arbeit auf. 2021 werden es rund 1,6 Milliarden Euro sein. Statt bisher rund 1.500 sollen künftig zu jeder Zeit 10.000 Frontex-Beschäftigte für den Grenzschutz abgestellt werden. 2015 organisierte Frontex noch die Abschiebung von 3.500 Personen, 2017 waren es schon 13.000.

Macht ist schwierig zu messen, schon gar nicht mithilfe von Zahlen. Doch was Frontex tut, hat direkte Auswirkungen auf Menschen, die in Not sind. Die Agentur dürfte in dieser Hinsicht die mächtigste Behörde sein, die es in der EU je gegeben hat.

Und Frontex wächst weiter, und wird unabhängiger von den EU-Mitgliedsstaaten. Die Grenzbehörde darf eigene Schiffe, Flugzeuge und Fahrzeuge kaufen. Ihre Beamten dürfen neuerdings eigenständig Kontrollen an Grenzen durchführen und Daten von Migranten sammeln. Frontex schließt eigenständig Vereinbarungen mit Ländern wie Serbien, Nigeria und Kap Verde und sendet Verbindungsbeamte in die Türkei. War Frontex ursprünglich vor allem mit Aufgaben wie Risikoanalysen betraut, ist die Behörde heute an allen Außengrenzen der EU aktiv. Sie koordiniert sowohl Einsätze auf dem Mittelmeer als auch den Umgang mit neu ankommenden Flüchtlingen in EU-Staaten und anderen Ländern. […]

Correctiv | 04.08.2019

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„The brutality of @Frontex borderguards has been documented by activists on the ground for years. Finally, it’s reaching public attention through official reports, showing the large #EU funds towards the lethal practices of #Frontex. #FerriesNotFrontex“

Alarmphone auf Twitter

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Das Besondere an dieser Recherche ist, dass die Vorgänge an den EU-Grenzen in diesem Falle nicht mit den üblichen Gedächtnisprotokollen Überlebender oder heimlich gedrehten Videos gezeigt werden, sondern im Wesentlichen Frontex selbst die Geschichten von Menschenrechtsverletzungen und robusten Einsätzen erzählt. Mit Informationsfreiheitsanfragen ist es gelungen, das zumindest teilweise bereits bestehende Bild von Willkür und Menschenverachtung, das die europäische Grenzsicherung prägt, mit Hilfe von Aktenvermerken und internen Berichten nachzuzeichnen.

Das Sterben im Mittelmeer, die brutalen Bedingungen im Transit auf dem Balkan, die unwürdigen Zustände in türkischen Lagern, Folter und Sklaverei in Libyen, illegale Pushbacks: All das ist bekannt. Dass die EU-Staaten und ihre gemeinsamen Institutionen, ob nun an Menschenrechtsvergehen aktiv beteiligt oder diese stillschweigend in Kauf nehmend, kaum einen Finger rühren, um Menschenleben und -würde zu schützen, ist ebenfalls nichts Neues. Der ganze zutiefst rassistische Sicherheitsdiskurs um „Migrationsdruck“ und „Flüchtlingsströme“ hat in einer Organisation wie Frontex seit nunmehr 15 Jahren seine schweigsame behördliche Manifestation gefunden.

Um der geografischen und historischen Zufälligkeit von Grenzen und herbeihalluzinierter geschlossener Kulturräume den Charakter ewiger und unverletzlicher Absolutheit zu verleihen, wird rabiat zugelangt. Frontex lässt Menschen absichtlich im Mittelmeer absaufen, drückt beide Augen zu, wenn in Ungarn Hunde auf Menschen gehetzt werden, schweigt zu jenen, die auf dem Weg über den Balkan erfrieren, verletzt auf Abschiebeflügen das eigene Regelwerk? Keiner dieser Vorwürfe erscheint unplausibel, denn jeder einzelne beschreibt ein Vorgehen im Einklang mit dem Auftrag der Agentur. Der orientiert sich eben nicht an Menschen, sondern an der heiligen Grenze – und an der sind zivile Umgangsformen eher rar gesät.

Dass es innerhalb der EU, dieser unendlich privilegierten Insel, noch immer Menschen gibt, die diesen Zustand als unhaltbar kritisieren, dürfte wohl der Hauptgrund dafür sein, dass Frontex die Flüchtlingsboote nicht einfach versenkt und auf der Balkanroute ein paar Maschinengewehre aufstellt. Stattdessen wird die Verantwortung für das Leben unerwünschter Menschen mit subtileren Methoden abgeschoben, auf Wellengang und Warlords zum Beispiel.

Das kenntlich zu machen, der Grenzschutzagentur Frontex mit ihrem Milliardenhaushalt ganz genau auf die Finger zu schauen, ist deshalb dringend geboten. Es geht dabei nicht um überraschende Entdeckungen. Es geht darum, immer wieder unmissverständlich deutlich zu machen, dass jeder auf dem Weg nach Europa geschlagene, herabgewürdigte, gestorbene Mensch auf der Rechnung dieser Europäischen Union steht und dass alle Verantwortlichen das auch ganz genau wissen.

taz | 05.08.2019

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Ein gutes Video zur EU Deportation Machine

„Grenzschutzagentur Frontex: Exzessive Gewalt, Schläge, Misshandlungen“