In der SZ vom 07.11.19 resümiert Najem Wali die Ereignisse im Irak. Aufgrund der Beteiligung externer Akteure und drohender Lebensmittelknappheit spricht er vom „letzten Kapitel der Protestbewegung“. Andererseits schreibt Der Standard am 09.11.: „Die Proteste schwappen auf Kuweit über“.

Als Erste erhoben sich die Jugendlichen aus den Slums von Bagdad, aus Thawra, Schula, Hurrija. Sie waren Straßenverkäufer und Fahrer von Tuk-Tuks, Motorradtaxis. Die Regierung hatte ihre selbstgebauten Elendshütten niederreißen lassen und den Straßenverkauf verboten, dann schränkte sie die Tuk-Tuk-Routen durch die Stadt ein. Wo und wovon sollten sie leben? Das war Anfang Oktober.

Die Aufständischen besetzten den Tahrir-Platz und andere Flächen der irakischen Hauptstadt, und etwas Seltsames geschah. Bislang galten Straßenverkäufer und Tuk-Tuk-Fahrer als „Schmarotzer“, die vom Chaos profitierten und rote Ampeln überfuhren. Aber nun sang die Presse Loblieder auf die jungen Menschen. Frauen und Männer, Intellektuelle und einfache Bürger priesen ihren Mut, ihre Großzügigkeit und Opferbereitschaft, weil sie heldenmütig die Verletzten ins Krankenhaus brachten.

Denn die Regierung reagierte brutal – selbst nach den Maßstäben der Region. Sicherheitskräfte schossen mit Gummigeschossen, scharfer Munition und Tränengas. Jeder Protest in der arabischen Welt bringt verstörende Bilder hervor, aber die Szenen mit Leichen, aus deren Köpfen Rauch aufsteigt, weil die Menschen mit Tränengaskartuschen erschossen wurden, gehören sicher zu den furchtbarsten.

Für die Regierung ist das eine beispiellose Situation. Denn im Vergleich zu Sudan, Algerien und Libanon, die ebenfalls von Aufständen erschüttert werden, stehen sich im Irak Schiiten und Schiiten gegenüber. Über Wochen wurden die Proteste vor allem vom schiitischen Süden und der Hauptstadt getragen. In Mossul oder in den Sunnitenstädten im Westen blieb es ruhig. Zwar reihten sich in Bagdad Ende Oktober einige Sunniten ein, aber in den sunnitischen Vierteln wie Mansur, Qadisija, Jarmuk war es weiterhin so beschaulich, als gehörten sie zu einer anderen Stadt.

Die meisten der jungen Demonstranten haben keine Arbeit und bildeten noch bis vor Kurzem die Basis der schiitischen Parteien. Schiitische Anführer wie der Prediger Moqtada al-Sadr konnten auf sie zählen. Das ist vorbei. Die jungen Leute lassen sich nicht mehr mit weihevollen religiösen Worten abspeisen. Eine der ersten Parolen des Aufstandes lautete: „Die Diebe haben uns bestohlen im Namen der Religion.“

Aber das Bild wäre nicht vollständig ohne Iran. So wie seit dem Sturz Saddams die soziale Spaltung zunahm, wuchs Jahr um Jahr der Einfluss des Nachbarlandes. Inzwischen hat die schiitische Theokratie im Irak mehr Einfluss als die Vereinigten Staaten. An Euphrat und Tigris treffen die beiden verfeindeten Mächte aufeinander

Die zweite Protestwelle richtete sich deshalb gegen iranische Einrichtungen. Bilder der iranischen Religionsführer Ayatollah Chomeini und Chamenei verschwanden von den Straßen, Aufständische griffen das iranische Konsulat in der Provinz Kerbala an. Eine der wichtigsten Parolen lautet: der „iranischen Einmischung im Irak“ ein Ende bereiten.

Am Sonntag haben die Aufständischen in Bagdad und Basra zum zivilen Ungehorsam aufgerufen, in Basra die Straßen blockiert und den Verkehr zum Erliegen gebracht. Bald dürften Nahrungsmittel knapp werden. Die Protestbewegung erlebt ihr letztes Kapitel. Aber bei so vielen mächtigen Mitspielern außerhalb des Irak dürften die irakischen Aufständischen bald keine große Rolle mehr spielen. …

In Kuwait sind Demonstrationen an sich nichts völlig Ungewöhnliches: Im Gegensatz zu den anderen arabischen Golfstaaten ist das Recht darauf sogar verfassungsmäßig garantiert, solange sie friedlich, angemeldet und genehmigt sind. Aber in Zeiten, in denen der Süden des benachbarten Irak von Protesten und Unruhen überzogen wird, erhalten die jüngsten Kundgebungen in Kuwait-Stadt eine ganz andere Aufmerksamkeit. Die Golfstaaten befürchten Ansteckung.

Am Mittwoch hatten sich hunderte Demonstranten auf dem Erada-Platz in Kuwait-Stadt versammelt und unter der Parole „Jetzt reicht’s“ gegen Korruption, Arbeitslosigkeit, eine grassierende private Schuldenkrise und für Neuwahlen und eine neue Regierung demonstriert. Wie meist nahmen auch viele Staatenlose teil, die ihre Bürgerrechte einforderten, die sogenannten Bidun. Bidun heißt „ohne“, gemeint ist ohne Staatsbürgerschaft.

Das reiche Kuwait spürt den niedrigen Ölpreis. Die soziale Schere geht auseinander, immer mehr Kuwaitis können ihre hohen Kreditzinsen nicht zurückzahlen. Auch Jobs sind rar im Emirat, in dem die Staatsbürger nur 30 Prozent der 4,7 Millionen Einwohner ausmachen. Ausländische Arbeitskräfte werden oft gehandelt wie Ware – soeben rief eine einschlägige App die Empörung von Menschenrechtsaktivisten hervor.
Die Proteste am Mittwoch ähneln jenen im Irak und Libanon nur insofern, als sie von keiner bestimmten Gruppe angeführt werden. Sie haben jedoch einen Organisator, Saleh al-Mulla, der von den Behörden die Genehmigung zu einer „stillen Mahnwache“ einholte. Er ist Exparlamentarier und geriet 2015 wegen des Beleidigungsparagrafen mit dem Gesetz in Konflikt.

Die Staatenlosen

Die Bidun, die Staatenlosen, sind stets mobilisierbar, sie fallen in den letzten Jahrzehnten zunehmend aus dem System. Sie werden auf etwa 100.000 geschätzt. Die allermeisten sind in Kuwait geboren und sind trotzdem als „illegale Bewohner“ eingestuft. Das Phänomen geht auf die Zeit der Unabhängigkeit 1961 zurück: Damals war es für urbane Bewohner leichter, Papiere in dem neuen Staat in Ordnung zu bringen. Für manche Stammesaraber in der Region zwischen Kuwait, Irak und Saudi-Arabien war das Konzept einer territorial definierten Staatsbürgerschaft auch völlig fremd.

Später kamen Nichtkuwaitis dazu, die von Kuwait in die Armee und die Polizei rekrutiert wurden: Man wollte nicht zugeben, dass man Iraker und andere aufnimmt, ihnen aber auch keine Staatsbürgerschaft geben – so wurden sie Bidun. Und natürlich gab es auch (vor allem) Iraker, die ihre Papiere wegwarfen, in der Hoffnung, sich ein neues Leben in Kuwait aufbauen zu können. Lange hatten die Bidun Zugang zum Sozialsystem, das änderte sich erst in den 1980ern. Und als beim Überfall Saddam Husseins im Sommer 1990 nicht alle loyal zu Kuwait standen, wandte sich die öffentliche Stimmung gegen sie.
Die Bidun gingen heuer schon einmal auf die Straße – nach einem Suizid eines Bidun, von ihm begründet durch dessen verzweifelte Situation. Es folgte ein zweiter. Zwar gibt es einen Gesetzesentwurf, der vielen von ihnen zumindest ein Aufenthaltsrecht gewähren sollte, aber auch das ist im Parlament umstritten. Die Bidun wollen nicht weniger als die Staatsbürgerschaft. Es ist leicht zu prognostizieren, dass sie diese nicht bekommen werden.

Irak: Letztes Kapitel der Protestbewegung? Kuweit: Die Staatenlosen