Nachdem die italienische Regierung im stillen Einverständnis mit der EU der Sea-Watch 3 zwei Wochen lang die Landung im Hafen von Lampedusa verwehrt hat, hat sich die NGO heute entschieden, sich über das Verbot hinwegzusetzen und in italienische Hoheitsgewässer einzufahren. Kapitänin Carola Rackete und ihre Crew hatten vor 14 Tagen 53 Menschen aus Seenot gerettet, aber weder in Malta noch in Italien einen sicheren Hafen gefunden. Die italienische Marine hatte elf Migrant*innen, die am Rande ihrer Kräfte waren, nach Lampedusa gebracht, die verbliebenen 42 Boat-people mussten seitdem in Sichtweite der Insel auf dem Mittelmeer ausharren. Die Entscheidung, Lampedusa jetzt auch ohne Zustimmung der Hafenbehörde, sprich des Innenministeriums anzusteuern, begründet die Kapitänin mit der Notsituation an Bord. Migrant*innen und Geflüchtete hatten mit Hungerstreik und Suizid gedroht, viele seien traumatisiert.

Bei der Einfahrt drohen der Crew von Sea Watch  bis zu 150.000 Euro Geldbußen, die Beschlagnahmung des Schiffs als auch hohe Gefängnisstrafen wegen „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“. Erst kürzlich hat Italiens Regierung mit dem sogenannten Salvini-Dekret bis die Strafen für Rettungsorganisationen, die Flüchtlinge in Italien ohne Zustimmung an Land bringen, drastisch verschärft. Die Schmutzkampagne gegen Seenotretter*innen und deren Kriminalisierung hält also an. Am 25.06.2019 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Eilantrag von Sea-Watch, einen Hafen anfahren zu können, abgelehnt. Begründung: die Menschen an Bord befänden sich noch nicht in einer Notsituation.

In einem twitter-Beitrag kommentiert Hermann, einer der Geretten auf der Sea-Watch 3, daraufhin:

„Wir können das nicht mehr aushalten. Wir sind wie in einem Gefängnis, weil wir von allem abgeschnitten sind, wir können nichts tun, wir können nicht einmal gehen, ein bisschen weiter gehen, weil das Boot klein ist und wir viel sind. Es gibt keinen Platz mehr.“

Sea-Watch│24.06.2019

Den Schritt, jetzt in den Hafen einzufahren, begründet die Kapitänin in einem Interview mit La Repubblica mit den inhumanen Zuständen, der Notsituation an Bord. Die Menschen seien verzweifelt, einige drohten mit Hungerstreiks, andere sagten, sie wollen sich ins Meer werfen oder sich die Haut aufschneiden. Außerdem seien drei Minderjährige an Bord, viele Menschen seien in Libyen missbraucht worden und traumatisiert (vgl. auch taz vom 26.06.2019). Und Vorstandsmitglied Johannes Bayer kommentiert:

Wenn diese Situation der unbegrenzten, unrechtmäßigen Einsperrung auf unserem Schiff und des Entzuges grundlegender Bedürfnisse nicht die #Menschenrechte verletzt, was dann? Wir können nicht warten bis jeder Einzelne zum medizinischen Notfall wird. / Keine europäische Institution ist bereit, Verantwortung zu übernehmen und die Menschenwürde an der europäischen Grenze im #Mittelmeer zu wahren. Deshalb müssen wir die Verantwortung selbst übernehmen.

Sea Watch auf twitter | 26.06.2019| Beitrag 1

Sea Watch auf twitter | 26.06.2019 | Beitrag 2

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Die „Sea-Watch 3“ ist nach eigenen Angaben trotz drohender Strafen in italienische Hoheitsgewässer eingefahren. Das Rettungsschiff der Organisation Sea-Watch befand sich seit 14 Tagen vor der italienischen Insel Lampedusa. An Bord sind nach Angaben der Sea-Watch-Verantwortlichen 42 Menschen, die sie vor der libyschen Küste gerettet haben. […]

Die deutsche Kapitänin Carola Rackete hatte zuvor angekündigt, die „Sea Watch 3“ in die Hoheitsgewässer des Landes zu fahren. „Ich fahre in italienische Gewässer, und ich bringe sie (die Migranten) in Sicherheit auf Lampedusa“, sagte sie der Zeitung „La Repubblica“. Sie sei für die Geretteten verantwortlich, „und die halten es nicht mehr aus“.

ARD Tagesschau | 26.06.2019

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Europe Can’t Handle Responsibilities: Sea-Watch 3 Enters Italian Waters in State of Necessity

European institutions have once again proven their incapability of handling the responsibility to safeguard the rights of people rescued at their deadly sea border. Neither any of the European States nor the EU commission were willing to enforce what is the basis of their constitutions – human dignity. With yesterday’s political ruling furthermore the European Court of Human Rights (ECHR) failed to provide any expedient for the 42 survivors stuck aboard the rescue ship Sea-Watch 3. Their situation is now more desperate than ever. As a result, today at noon, the captain was forced to enter Italian territorial waters under emergency law.

Artist Elisabetta Ferrari’s interpretation of the Sea-Watch 3’s track along the border between Italian territorial waters and internarional waters. (Credit: Elisabetta Ferrari)

“No European institution is willing to take responsibility and to uphold human dignity at Europe’s border in the Mediterranean. This is why we have to take the responsibility ourselves. We enter Italian waters as there are no other options left to ensure the safety of our guests whose basic rights have been violated for long enough,” says Johannes Bayer, chairman of Sea-Watch. “The guarantee of human rights must not be conditional to a passport or to any EU negotiations, they have to be indivisible.”
“We have people on board that have gone through horrors in Libya, that have been heavily tortured, but even if this was not the case, any person rescued at sea, by law has to be brought to a place of safety. These are people with basic needs and basic rights. A rescue operation is not finished until every single person rescued has both feet on the ground,” says Haidi Sadik, cultural mediator on the Sea-Watch 3.

The initially 53 people had been rescued on June 12 from a rubber boat in international waters. Later that day, in an unprecedented attempt to make Sea-Watch complicit in a grave human rights violation, the so-called Libyan Coast Guard had named Tripoli as a POS (supposed to mean: place of safety) and asked the ship to illegally transport the survivors back to Libya. Italian minister Matteo Salvini, who quite seriously demanded Sea-Watch to follow the Libyan instructions, even prompted a reaction from the EU commission stating: „All ships sailing under an EU flag are obliged to comply with international law when it comes to search and rescue, which includes the need to take rescued people to a safe place. The Commission has always said that these conditions do not currently exist in Libya.“ However, the Commission did not give any indications as to where an actual safe place for disembarkation might be.

This incident was followed by a now 14 days long standoff in front of the closest safe port to the position of the rescue, Lampedusa. Italy denied entry to the ship and even hastily implemented a new decree of the interior ministry threatening Sea-Watch with absurd fines and criminal prosecution. In the course of this standoff, Italian authorities disembarked 10 of the survivors on medical grounds on June 15, and emergency evacuated one more on June 21 – leaving 42 others on board, including 3 unaccompanied minors, the youngest of which 12 years old. 36 of those remaining subsequently filed a “Rule 39” appeal for interim measures at the European Court of Human Rights, which was denied on June 25.

“The ECHRs decision in January was spiritless. This one is the court’s unconditional surrender to Europe’s right-wing anti-migration policy.” says Bayer, referring to a previous Rule 39 appeal by Sea-Watch 3 rescuees. “If this situation, including indefinite unlawful detention on our ship and deprivation of most basic necessities, is not violating our guest’s human rights, then what is? We can not wait until every single one becomes a medical emergency by time.”
Sea-Watch | 26.06.2019

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Carola Rackete: Wir werden trotz Verbot anlegen – unabhängig davon welche Strafen drohen. Ich kann die Sicherheit der Menschen nicht mehr gewährleisten. Die Geretteten sind psychologisch extrem angegriffen. Ich mache mir Sorgen, dass sich einige selbst verletzten könnten. […] Die Lage [an Bord] ist extrem angespannt und spitzt sich immer weiter zu. Unser Schiff ist nicht dafür ausgelegt, mit 53 Menschen für zwei Wochen auf dem Meer zu sein. Unser medizinisches Team kann die Menschen zwar erstversorgen, weitere Behandlungen sind aber kaum möglich. Bereits elf der 53 Geretteten mussten aus medizinischen Gründen von italienischen Behörden evakuiert werden. Viele der Menschen wurden wegen der hohen Wellen seekrank. Wir sind hier bei starker Hitze auf engstem Raum. Privatsphäre ist praktisch nicht vorhanden … […]
Viele bringen traumatische Erfahrungen mit: Die Geschichten reichen von Versklavung, über sexuelle Gewalt, Entführung und Zwangsarbeit. Es besteht die Gefahr von Retraumatisierungen. Vermutlich brauchen alle Geretteten eine psychologische Betreuung, weil sie Menschenrechtsverletzungen erleben mussten. Auch für die drei unbegleiteten Minderjährigen ist die Situation unzumutbar. Das ist ein Skandal, denn im Seerecht ist klar geregelt, dass Schiffbrüchige so schnell wie möglich an Land gebracht werden müssen.

taz | 26.06.2019

Italien: Sea Watch 3 läuft in italienische Hoheitsgewässer ein