Faktisch hält die neue italienische Regierung nach wie vor an der Politik der geschlossenen Häfen fest: weder die „Alan Kurdi“ noch die „Ocean Viking“ können in italienische Gewässer einfahren und die Boat-people in Italien sicher an Land bringen, ohne befürchten zu müssen, dass die Boote beschlagnahmt werden und die NGOs Bußgelder in Höhe von mehreren Hunderttausend Euro bezahlen müssen. Noch gilt das „Sicherheitsdekret bis“, das die alte Regierung mit den Stimmen des M5S wenige Tage vor dem Misstrauensvotum des Lega-Innenministers Salvini verabschiedet hatte. Geändert hat sich die Tonlage, geändert hat sich auch, dass führende Vertreter der PD fordern, private Rettungsboote müssten „ohne Wenn und Aber in einen Hafen einfahren“ können. Deren Parteigenosse Minitti hat als damaliger Innenminister allerdings die fürchterlichen Verträge mit der Scheinregierung in Libyen zu verantworten, welche die Überfahrten nach Europa drastisch reduziert und die KZ-ähnlichen Lager in Libyen gefüllt haben. Im Unterschied dazu setzen Ministerpräsident Conte und seine neue Koalition nun auf Europa: da eine umfassende Reform des Dublin-Abkommens auf die Schnelle nicht durchsetzbar ist, strebt die neue Regierung eine pragmatische Lösung an. Wer auch immer in Italien oder Malta anlandet, soll innerhalb eines Monats von anderen europäischen Ländern aufgenommen werden. Gemäß der Maxime: die Migrant*innen wollen nicht nach Italien, sondern nach Europa.

[…] Am vergangenen Montag gewann Italiens neuer-alter Ministerpräsident Giuseppe Conte im Abgeordnetenhaus die Vertrauensabstimmung. Einen Tag zuvor hatte das Rettungsschiff Ocean Viking der Organisation Ärzte ohne Grenzen vor Libyens Küste 50 Migranten an Bord genommen. Am Dienstag dann lief die Vertrauensabstimmung im Senat und am gleichen Tag übernahm die Ocean Viking weitere 34 Flüchtlinge, die zuvor von dem Segelschiff Josefa gerettet worden waren.

In Rom regiert zwar jetzt ein neues Bündnis aus Fünf Sternen (M5S) und der sozialdemokratischen Partito Democratico (PD), doch den Seenotrettern präsentiert sich auch diesmal das altbekannte Problem. Auf die Anfrage der Ocean Viking nach einem sicheren Hafen in Italien oder Malta antwortete keiner der beiden Staaten. Nur Libyen meldete sich, Tripolis stehe als Hafen zur Verfügung. […]

Wenigstens verbal zeigte sich Conte am Montag und Dienstag in den beiden Kammern des Parlaments bemüht. Die Stärke seiner Regierung messe sich nicht in der „Arroganz unserer Worte“, erklärte er, eine „sanfte Sprache“ werde in Zukunft zu hören sein, „neuer Humanismus“ solle herrschen, kurzum: „Wir müssen das menschliche Gesicht dieser Republik zeigen.“ Bei der Flüchtlingspolitik, schob er hinterher, „vermeiden wir, uns auf die Slogans offene Häfen, geschlossene Häfen zu konzentrieren“.

Das darf man durchaus als Abkehr von Salvinis grober Sprache verstehen, der ja zum Beispiel die deutsche Kapitänin Carola Rackete als „Zecke“, als „verwöhnte, reiche Kommunistin“, ja als „Verbrecherin“ geschmäht hatte. Die Frage aber, die viele in Italien, viele auch in Europa sich stellen: Folgt der verbalen Abrüstung auch eine Umkehr in der Sache? […]

Auch die PD vertritt spätestens seit 2017 nicht mehr eine Politik der offenen Häfen. Damals noch an der Regierung unter dem Ministerpräsidenten Paolo Gentiloni – der jetzt für Italien zum Mitglied der EU-Kommission wurde – setzte sie schon vor Salvini die Wende in der Flüchtlingspolitik durch, schloss sie Abkommen mit der libyschen Regierung in Tripolis ebenso wie mit diversen Warlords, spendierte sie den Libyern neue Patrouillenboote für deren Küstenwache.

Daher überrascht es nicht, dass die Koalitionsvereinbarung zwischen den beiden neuen Regierungspartnern in Rom beim Thema Flüchtlinge einigermaßen vage bleibt. Conte kündigte im Parlament an, Salvinis beide Sicherheitsdekrete sollten „überarbeitet“ werden, Genaueres jedoch ließ er nicht wissen. Der offene, theatralisch inszenierte Konflikt mit den NGOs wird wohl aufhören. Was stattdessen kommt, ist offen.

Eine Hoffnung eint dabei die M5S und die PD: Europa. Über alle Parteigrenzen gilt in Italien die Ansage, dass die anlandenden Flüchtlinge „nicht in Italien, sondern in Europa ankommen“ – und die neue Regierung setzt darauf, dass diese Maxime endlich zur europäischen Migrationspolitik wird. Darf man der Turiner Tageszeitung La Stampa glauben, stehen die Chancen dafür gar nicht schlecht. Am 23. September treffen sich auf Malta Frankreich, Deutschland und Italien zum Flüchtlingsgipfel. Dort, so berichtet das Blatt am Dienstag, solle ein Flüchtlingsumverteilungsprogramm verabschiedet werden, das endlich Italien und Malta Lasten abnehmen werde. Wer auch immer in den beiden Staaten anlande, solle zukünftig binnen eines Monats von anderen EU-Ländern aufgenommen werden. Deutschland und Frankreich, so La Stampa, hätten schon die Übernahme von je 25 Prozent der Flüchtlinge zugesagt und jetzt warte Italien auf Garantien für die übrigen 50 Prozent.

Das wäre zwar noch nicht die von Italien angestrebte umfassende Reform der Dublin-Abkommen, nach denen bisher allein der Ankunftsstaat für die Aufnahme und die Abwicklung der Asylverfahren zuständig ist. Doch es wäre ein entscheidender erster Schritt, der der wütenden Salvini-Rhetorik gegen die Flüchtlinge genauso wie gegen Europa die Grundlage entziehen würde.

Zeit Online | 12.09.2019

 

„Italien: Was von Salvini bleibt“