Der Historiker Nedjib Sidi Moussa im Gespräch mit Bernd Beier über die Massenproteste in Algerien, den Einfluss der Islamisten und antifeministische Reflexe der Linken.

Wer sind derzeit die Kräfte der gesellschaftlichen Emanzipation?
Zunächst die Jugend, und insbesondere die studentische Jugend, die jeden Dienstag auf die Straße geht. Vorige Woche hat die Polizei Wasserwerfer und auch eine Schallkanone gegen sie eingesetzt.
An den Universitäten gibt es bereits Formen der Selbstorganisation. An der Fakultät von Constantine, der drittgrößten Stadt Algeriens, gab es gemeinsame Vollversammlungen von Studierenden, Verwaltungspersonal und Lehrenden. Bei den Aktivsten, unter anderem Trotzkisten, existiert eine studentische Koordination, die alles, was sich bewegt, koordinieren soll; aber das ist noch ziemlich embryonal. Die letzte große studentische Bewegung in Algerien gab es 2011, bis 2019 folgte nichts nach. Viele Traditionen der Selbstorganisation auf dem Campus sind verlorengegangen.
Ein weiteres dynamisches Element bei den Jugendlichen sind die Fußballfans, meistens Typen, gewohnt an Konfrontationen mit der Polizei. Sie sind radikaler, wenn es darum geht, etwas anzupacken.
Lohnabhängige aller möglichen Kategorien sieht man auch auf der Straße, Staatsangestellte, Personal aus dem Gesundheitssektor, Lehrer, Beschäftigte der Justiz, aber auch Anwälte und andere aus der Intelligentsia. […]

Es heißt, es seien viele Frauen auf den Demonstrationen.
Ihre große Beteiligung an den Freitagsdemonstrationen ist beeindruckend und sie sind sehr präsent bei den studentischen Protesten. Aber man muss präzisieren: Es gab auf der Freitagsdemonstration vom 29. März einen Angriff auf einen feministischen Block.
Während Frauen bei den Demonstrationen im Allgemeinen wohlwollend akzeptiert werden, sind Feministinnen nicht unbedingt gut angesehen. Es gibt ein antifeministisches und machistisches Gefühl, das in der Gesellschaft präsent ist, und das findet sich auch auf den Demonstrationen. Es gab Grapschereien und Übergriffe, man muss nicht übertreiben, aber das findet statt, auch auf der großen Demonstration am 8. März, am Frauentag, kam es vor. Aus taktischen Gründen haben die Feministinnen es vorgezogen, nicht groß darüber zu reden, um nicht beschuldigt zu werden, die Bewegung zu spalten oder in ein schlechtes Licht zu rücken, und damit Ehegatten oder Brüder die Frauen nicht daran hindern zu demonstrieren. Diese Frage ist in Algerien sehr heikel, auch im linken Milieu. […]

Wie verhalten sich die Islamisten?
Praktisch ganz Algerien ist auf der Straße, also auch die Islamisten. Sie haben in den vergangenen Jahren den kulturellen Kampf gewonnen und offensichtlich das Bewusstsein vieler Algerier geformt, aber ihr politisches Projekt wird nicht mehr als Alternative zum Regime gesehen. Das Regime hat im Gegenzug seine Sprache und seine Politik weitgehend islamisiert. Die Islamisten sind also da, aber sie sind in der Minderheit. In den vergangenen Jahren haben einige Islamisten hochrangige politische Positionen ausgefüllt, auch Ministerposten. Sie erschienen daher als Politiker wie alle anderen auch, auf der Seite der Macht und des Geldes.
Auch wenn es meiner Meinung nach keine islamistische Bedrohung als solche gibt, als klares politisches Projekt, das eine Alternative zum Regime darstellt, besteht die Gefahr, dass die Islamisten, wenn die Bewegung abflaut, wenn Repression einsetzt und Ressentiments entstehen, diese Ressentiments einfangen und ausnutzen. Das ist eine Möglichkeit. Mir scheint, die Leute, die heute auf die Straße gehen, wollen nicht unbedingt den Laizismus, aber jedenfalls keinen konfessionelleren Staat. […]

Was steht nun politisch auf dem Spiel?
Bouteflika ist zurückgetreten und die Armee tritt für einen Übergangsprozess »im Rahmen der Verfassung« ein, der aber im Wesentlichen antidemokratisch und dessen Pate die Armee ist. Einige »Demokraten« haben an die Armee appelliert, sie solle der »Garant« des Übergangsprozesses sein. Das ist in meiner Sicht ein schwerer politischer Fehler. Man sollte der Armee keine politische Rolle einräumen. Andere Oppositionelle, eher linke, haben gesagt, die Armee solle an ihrem Platz und in den Kasernen bleiben. Oft treten sie dafür ein, eine Übergangsregierung mit »nationalen« Persönlichkeiten zu bilden und dann eine verfassunggebende Versammlung einzurichten – ein Szenario ähnlich dem in Tunesien (nach dem Sturz Ben Alis 2011, Anm. d. Red.). Extreme Linke treten, wie gesagt, für die Selbstorganisation ein, aber das ist ein Schlagwort und gerade eher abstrakt. […]

Wie wird das Verhältnis zum sogenannten arabischen Frühling diskutiert?
2011 gab es in Algerien eine starke Propaganda des Regimes gegen den »arabischen Frühling«. Es warnte zunächst vor einem Rückfall in die neunziger Jahre, in die Zeit des algerischen Bürgerkriegs. Später spielte es, angesichts weitverbreiteter Ablehnung einer Einmischung, mit der Angst vor einer westlichen Intervention in Algerien zur Destabilisierung des Landes. Muammar al-Gaddafi, der in Algerien nicht sonderlich gut angesehen war, wurde für einige sogar zum Märtyrer. Auch vor diesem Hintergrund muss man die Einstellung der Leute in Algerien beurteilen. Der »arabische Frühling« wird somit im Wesentlichen mit negativen Szenarien in Verbindung gebracht, insbesondere Libyen und Syrien dienen derzeit als Schreckgespenster.
Als ich in Algier war, gab es auch Diskussionen zwischen tunesischen und algerischen Aktivisten; ich hoffe, dass sie einige Lehren aus dem ziehen, was in Tunesien und Ägypten geschehen ist. Die Algerier und Algerierinnen sind also keineswegs blind für das, was in der Region vor sich geht. Im Übrigen nennen sie die derzeitige Bewegung Hirak, das ist dasselbe Wort, das für die Massenproteste im Rif in Marokko verwendet wurde.

Jungle World | 18.04.2019

Algerien: „Kampfgeist und Enthusiasmus“