Politikerinnen sind in gewisser Hinsicht Menschen wie Du und ich: auch sie können Elend schlecht mit ansehen. Sie finden es richtig, die Bilder von angeschwemmten Kinderleichen aus den Medien zu verbannen. Beim Besuch von Flüchtlingslagern finden sie menschliche Worte. Siegmar Gabriel wurde im Juni schwach. Die Not der Flüchtigen aus Syrien sei offenkundig. Neue, legale Zugangswege seien gefragt: Fähren!

Angela Merkels einsichtiger Moment überkam sie beim Fernsehen, beim Anblick der Bilder von verzweifelten Migrantinnen auf der Balkanroute. Das war am 3. September, und der Marsch von Keleti aus kam in Bewegung. Aufgrund von Merkels Entscheidung wurde ein dramatischer Rückstau der Migrantinnen auf dem Balkan mit Szenen von Drahtverhauen, Massenpanik, Schießbefehl, tot getretenen Kindern und eine Destabilisierung des Balkan selbst vermieden. Im Gespann mit den österreichischen Kanzler Faymann hätte Merkel den Friedensnobelpreis in diesen Stunden wirklich verdient. Sechs Wochen lang schien es sogar, als könne Merkel auf ein stabiles Fundament der deutschen Zivilgesellschaft bauen.

Das Meer der Ägäis ist im Sommer ruhig, im Herbst stürmisch. An stürmischen Tagen sinken die Preise für die Passage mit einem Schlauchboot, weil das Risiko steigt: mehr Menschen ertrinken, zuerst die Kinder. Dennoch nimmt die Zahl der Passagiere nicht ab. Die Menschen, die dem syrischen Kessel entkommen sind, oder diejenigen, die die Grenzen von Afghanistan in den Iran und dann die Grenze zur Türkei unter Beschuss und Todesdrohung überquert haben, lassen sich vom Risiko einer Bootspassage so kurz vor ihrem Ziel nicht abschrecken.

In der letzten Oktoberwoche erwuchs eine neue, dramatische Situation. Die Passage durch den Balkan war trotz Orban und alledem einigermaßen sicher, aber die Ertrinkenden der Ägäis machten Schlagzeilen.

I had to pick and choose whom I would save, that mother who is drowning, or the children who cannot swim, or the father who is drowning because the whole family is grabbing him. Yesterday we managed to save 242 people in total, but more than 50 had died. I saw them die. It was terrible. We are shattered physically and psychologically. And I am ashamed of Europe,” says Oscar Camps.
Oscar Camps is a volunteer lifeguard from Proactiva Open Arms, a Spanish NGO formed by professional lifeguards who moved to Lesbos Island, Greece to rescue and help the refugees who make a dangerous voyage through the Aegean Sea from the Turkish Coast to Greece.
On Wednesday (October 28, 2015), 242 refugees have been rescued from a capsizing of a boat carrying nearly 300 people through the stormy Aegean Sea, which sparked a huge search involving patrol vessels, fishing boats and a helicopter. At least 11 refugees died in the eastern Aegean Sea among them 7 children. More than 30 people are still listed as missing from this accident.
The Turkish and Greece Fishermen rushed to the boat and started rescuing people. It was shocking. We climbed into the boat to take the children because they [the refugees] said they had no strength to lift them. The Frontex boat did nothing, All they did is to throw ropes to the drowning, like in the movies, and they stayed there their ship deck watching people die. I wonder if they would do if their relatives were drowning in the sea. It was gruesome. Those who witnessed this tragedy must bear responsibility,” say Oscar referencing to the Frontex ship, an EU coastguard vessel with a Norwegian flag.

In der Nacht zum 30.10. ertranken wiederum mindestens 26 Menschen vor den griechischen Inseln. Ministerpräsident Tsipras fühlte nach eigenem Bekunden Scham angesichts der „Unfähigkeit Europas, seine Werte zu verteidigen“. Indes sah er sich nicht in der Lage, die Landgrenze zur Türkei zu öffnen, jenen 10 km langen und 4 m hohen Zaun zwischen Kastanies und dem Nachbarort Nea Vyssa, der die Migrantinnen seit 3 Jahren zwingt, auf die Ägäispassage auszuweichen. 600 griechische Demonstrantinnen, unter ihnen Mitglieder von Syriza, demonstrierten in Kastanies. Sie wurden mit Tränengas und Blendgranaten daran gehindert, den Zaun einzureißen. So wurden Europas Werte auch hier, von der Syriza-Regierung, begraben.

Der Bürgermeister von Lesbos, Spyros Galinos, forderte, dass künftig Fähren die Migrantinnen direkt und sicher aus der Türkei nach Griechenland bringen sollten Es bleibe keine andere Möglichkeit, als die Menschen zur Registrierung mit Fähren auf seine Insel zu bringen, damit sie nicht im Meer ertränken. »Wir müssen dieses Verbrechen beenden«, sagte Galinos der Athener Zeitung »Ekathimerini«. Die Leichenhallen der Insel seien voll mit Opfern.

Ganz offenkundig kann das Elend der Passagen über das Mittelmeer, der Ertrinkungstod Tausender, mit vergleichsweise einfachen Mitteln abgewendet werden. Mit Fähren, von Izmir nach Athen, und von Alexandria nach Italien. Die Fähren fahren ja bereits, nur dass die Migrantinnen sie nicht nutzen dürfen. Ein Erlass, ein paar Stempel. Setzt die Politik der Abschreckung wirklich darauf, dass man den Balkan stabilisieren und Deutschland vor der „Lawine“ retten könne, indem man die Migrantinnen in der Ägäis ertrinken lässt?

Das wird aus zweierlei Gründen nicht funktionieren: Erstens hält die Bedrohung durch Ertrinken die Migrantinnen nicht auf, das ist hinreichend bewiesen. Und zweitens wird sich die Europäische Zivilgesellschaft, die die Migrantinnen willkommen heißt, durch die Krokodilstränen der Politik nicht täuschen lassen. Am dritten November, genau 2 Monate nach Angela Merkels großem historischen Moment, kam es in einer Fernsehdebatte mit Norbert Blüm, dem wandelnden sozialen Gewissen der CDU, und Ralf Stegner, dem Erben Jochen Steffens in der SPD, zu einem denkwürdigen Auftritt. Die Runde diskutierte bei Sandra Maischberger über das mögliche Versagen der Großen Koalition angesichts des Flüchtlingsdramas. Michael Räber, ein freiwilliger Helfer auf Lesbos, berichtete, dass am Vortag zwischen 7.000 und 8.000 Flüchtlinge auf der Insel Lesbos angekommen seien. Er berichtete aber auch von ertrunkenen Menschen, die jeden Tag an den Stränden der Insel angespült würden. Um das zu verhindern, so sein Vorschlag, müsste man Fähren einsetzen. Sie sollten die Flüchtlinge aus der türkischen Hafenstadt Izmir abholen, um sie nach Athen oder nach Hamburg zu bringen.

„Was spricht eigentlich dagegen? Nichts. Es wäre ein Gebot der Humanität gegenüber den Flüchtlingen, die vor den Kriegen in Afghanistan, Syrien und dem Irak fliehen. Sie müssten sich nicht den Schleppern ausliefern, die bisher an der türkischen Ägäisküste die Überfahrt nach Lesbos organisieren. Sie ersparten sich zugleich die dramatische Wanderung über die Balkanroute nach Deutschland, die mittlerweile zu Spannungen zwischen den Anrainerstaaten führt. Die Kanzlerin sprach in diesem Zusammenhang sogar von einer drohenden Kriegsgefahr. Beim Asylrecht könne es keine Obergrenze geben, so der frühere Bundesminister Norbert Blüm (CDU). Ralf Stegner, der stellvertretende Vorsitzende der SPD, betonte zudem die guten Gründe der Menschen, ihre Heimat zu verlassen. Sie kämen nicht wegen der deutschen Sozialleistungen oder weil die Kanzlerin falsche Signale in die Welt ausgesendet habe. Sie seien auf der Flucht vor den Fassbomben des Damaszener Tyrannen in Syrien.“

Aber sowohl Blüm wie auch Stegner vermieden es sorgfältig, mit auch nur einem einzigen Wort auf den pragmatischen Vorschlag Michael Räbers einzugehen. „Kein Flüchtling müsste noch in der Ägäis ertrinken, gäbe es so eine direkte Route von der Türkei nach Deutschland. Ein ernstzunehmender Vorschlag also. Dass niemand ihn sich zu eigen machen wollte, zeigt die ganze Widersprüchlichkeit der Debatte“, so der Redakteur in der FAZ.

Es gibt aber eine Ökonomie der Menschlichkeit, ohne welche die westliche Welt nicht existieren könnte. Es ist in diesen Tagen so viel von Werten die Rede. Den Wert einer toten Migrantin kann man anhand der Schwankungen der Schlauchbootpreise in Bodrum errechnen. Den Wert eines buddhistischen Mönchs, der sich verbrennt, kann man im Westen vielleicht anhand der Sendezeit errechnen, in welcher über sein Opfer berichtet wird. Den Wert eines in der Ägäis ertrunkenen Kindes wird man nicht anhand der Bilder messen können, die in den Zeitungen zu sehen sind, sondern nur daran, ob es Fähren gibt, um den Tod weiterer Kinder zu verhindern.

Wäre es nicht denkbar, wenigstens Kindertransporte auf Fähren zu fordern und zu organisieren? Fähren direkt von Izmir, Mersin und Beirut nach Hamburg? Nicht als Einschränkung der Forderung nach Fähren für alle, sondern als eine Art Schrittmacher. Wer würde es wagen, eine solche Kinderfähre aufzuhalten?

Kommentar: Fähren jetzt!