Lesehinweis

Camilla Toulmin
Land, Investment and Migration
Thirty-fife years of village life in Mali
Oxford University Press 2020

Enclosures und Bauernlegen, die Inwertsetzung der Flächen und die Förderung des Anbaus von Cash-Crops sind eine wesentliche Ursache der sozialen Konflikte im Sahel. Die Getreideexporte aus Mali sind in den letzten Jahren stark angestiegen, während der Anbau für den Eigenbedarf und die Flächen für die Viehherden von Jahr zu Jahr stärker eingeengt werden. Die enterbten jungen Männer bilden Motorradbanden und stehlen Waffen, Vieh und alles, was sich zu Geld machen lässt. Die sozialen Konflikte werden ethnisiert und von djihadistischen Agitatoren einerseits und dem Militär andererseits in Gang gehalten. Dieser unterschwellige Krieg ist ein Medium, in dem Landraub und Vertreibung vorangetrieben werden. Getreideexporte und Djihadismus, Militär und Modernisierung bilden ein schwer zu entflechtendes Amalgam. Die EU betreibt, indem sie eine „antiterroristische“ Agenda mit der Abwehr von Migrationsbewegungen verknüpft, das Militär der G5-Staaten unterstützt und die Grenzen aufrüstet, eine Politik, die mit der Modernisierung der Agrarproduktion zugleich die Chronifizierung des sozialen Kriegs mit sich bringt.

Das Buch von Camilla Toulmin ist ein Glücksfall. Es schreibt eine Forscherin, die ihre erste Feldstudie 1980 in einem Bambara-Dorf auf der North Bank nördlich des Niger und der Provinzstadt Ségou durchgeführt hat und die dieses Dorf damals 2 Jahre lang intensiv kennen lernen durfte.[1]Die Ergebnisse hatte Toulmin 1992 in einem Buch beschrieben, dessen Titel sie vielleicht heute nicht mehr so gut findet: Camilla Toulmin (1992): Cattle, Women, and Wells. Managing Household Survival … Continue reading Sie hat dieses Dorf seither mehrmals besucht und hat zuletzt in den Jahren 2016-19 eine Serie von Interviews geführt – von Ségou aus und mit Hilfe von lokalen Assistent*innen, weil die Sicherheitslage einen längeren Aufenthalt im Dorf nicht mehr ratsam erscheinen ließ.

Camilla Toulmin ist Ökonomin und Klimaforscherin, engagiert im International Institute for Environment and Development (IIED), das sie viele Jahre lang geleitet hat, und im Institute for New Economic Thinking (INET). Aus ihrem Buch spricht nicht nur die Forscherin, sondern zugleich eine Person mit einem hohen Maß an Empathie und Anteilnahme. Das erinnert an das Mali-Buch von Charlotte Wiedemann,[2]Charlotte Wiedemann (2014): Mali oder das Ringen um Würde. Meine Reisen in einem verwundeten Land, München – das Bemühen, den Menschen in schwierigen Verhältnissen ihre Würde nicht abzusprechen, bleibt immer erkennbar.

Eine erste Information zum Inhalt erschließt sich aus dem Klappentext:

In the early 1980s Camilla Toulmin spent two years in Dlonguebougou (DBG). She has since revisited to explore how climate change, population growth, new technologies and land-grabs have been affecting the livelihoods and prospects of local people since. [The book] brings together her findings. A trebling in population, unpredictable rainfall, and the arrival of Chinese investment have forced people into new ways of making ends meet and building up wealth – and some doing much better than others. This book presents the search for new cash incomes, the shift of people from village to towns, and the errosion of collective solidarity at household and village levels. [… It] shows the vibrancy of the village economy, rapid uptake of mobile phones and solar panels, and increased migration. It also shows the persistance of large family structures which offer some protection from the risks thar many villagers take“.

Es sei hier vorweg genommen, dass die Lebensbedingungen in DBG nicht allein durch den Zuwachs an Bevölkerung und durch die klimabedingte Ausbreitung der Wüste beeinflusst werden (diese Faktoren werden ja in jedem Schulbuch angeführt), sondern nicht minder durch die fortschreitende kapitalistische Landnahme vom Süden her, durch die Vertreibung der Bevölkerung aus dem nahe gelegenen Office du Niger (ON), durch die Beschränkung der Migrationen und vor allem durch die zunehmende Unsicherheit aufgrund djihadistisch aufgeladener Konflikte. Gern wird in diesem Zusammenhang auf die „Stammeskonflikte“ zwischen bäuerlichen Bevölkerungen wie den Bambara, den Malinké oder den Dogon einerseits und den viehzüchtenden Fulani andererseits verwiesen, und natürlich gab es derartige Konflikte um die zunehmend knappen Ressorcen seit jeher[3]In der Tat wurde das Einrücken der französischen Koilonialverwaltung in den 1930er Jahren von vielen dort lebenden Menschen in Zeiten einer protokolonialen Warlord-Economy als Versicherheitlichung … Continue reading – um so wichtiger ist die Information, dass die großen Rinderherden, welche die Felder in den „New Frontiers“ des Sahel zertrampeln, oft einflussreichen „Big Men“ gehören: prominenten Politikern, gut vernetzten Kaufleuten aus der Stadt oder hohen Militärs. Die Felder brauchen den Dung der Herden, aber zu gegebener Zeit, und die Bauern verhandeln aus einer Situation der Schwäche, denn ihre Einsprüche könnten mit militärischer Gewalt bestraft werden.

Toulmin beschreibt die Nutzung der Dorf- und der Buschfelder, die überwiegend mit Pflug und Hacke bewirtschaftet werden. Das ganze soziale Leben kreist um den vom Regen bestimmten Jahreszyklus, der durch die Arbeitsschritte der Feldarbeit und der Viehhaltung bestimmt wird.[4]Siehe das Schema Annual household farming cycle at DBG, S. 75 Die meiste Arbeit, das Jäten und die Ernte, fallen zum Ende der Regenzeit an; zwischen Juli und Oktober versammeln sich viele Familienangehörige im Dorf, um auf den Feldern zu helfen und anschließend zu feiern. Von der Kooperation und dem Zusammenhalt der Haushalte wird der Ertrag wesentlich bestimmt – nicht zuletzt auch davon, ob der Haushalt für die Menschen, die vom Oktober bis Juli nach Ségou oder Bamako migrieren, attraktiv bleibt und ob sie bereit sind, ihre materiellen und sozialen Ressourcen einzubringen – einschließlich der neuen Medien und der Connectivity, denn in den Haushalten von DBG findet sich ein bunter Mix von Altem und Neuen.

Was haben wir uns unter den „Haushalten“, die Toulmin untersucht hat, vorzustellen? Eine Beschreibung von Swen Etz[5]Swen Etz (2007): Möglichkeiten und Grenzen der Verbesserung des nachhaltigen Kanalunterhalts durch bäuerliche Selbstorganisation, Potsdam, S. 39, … Continue reading ist hilfreich, um sich eine Vorstellung zu machen:

Die Familie lebt unter der Direktion des ältesten männlichen Familienmitgliedes. In einer Familie leben neben seinen Frau(en) und Nachkommen auch seine jüngeren Brüder mit ihren jeweiligen Frauen und Kindern. Zudem sind meist noch mehrere Lohnarbeiter, oft entfernt verwandte junge Männer und Frauen, saisonal oder ganzjährig Teil der Familie. Eine Familie weist deshalb meist 15-20 Familienmitglieder oder mehr auf. Der Hof der Familie besteht aus den Zimmern der verschiedenen Familienmitglieder. Alle Türen öffnen sich zu einem gemeinsamen Hofraum, in dem gekocht, gewaschen und gemeinschaftlich gegessen wird und worin sich auch die Latrinen, Getreidespeicher und, wenn vorhanden, der familiäre Brunnen befinden. Eingegrenzt wird der Hof von einer Lehmmauer, die zur Gasse hin eine Einfahrt aufweist. Der Familienchef hat die Verantwortung über sämtlichen Besitz der Familie …“.

Die jüngeren Altersgruppen sind miteinander in Peer-Groups verbunden, die ein Gegengewicht zur Herrschaft der alten Männer bilden; die Frauen sind untereinander vernetzt und halten Verbindung zum Bruder ihrer Mutter. Von dort können sie in Konfliktsituationen Unterstützung einfordern. Die traditionellen Solidaritätsstrukturen in den patriarchalen Familienverbänden erodieren, wie Toulmin es an vielen Beispielen beschreibt. Viele Haushalte zerbrechen, mehr und mehr Migrant*innen kehren aus den Städten nicht mehr zurück. Andererseits können die Peer-Groups bei der Selbstorganisation und die Organisation gegenseitiger Hilfe bei Migrationsbewegungen eine wichtige Rolle spielen.

Aus der Fülle der Informationen, die Toulmins Buch anbietet, sollen hier drei Aspekte hervorgehoben werden:

  • die Nähe zum Office du Niger (ON),
  • die Landknappheit, „From Abundance to Land Scarcity“ (Kap.4) und
  • die Migrationen, „Leaving the Village on Migration“ (Kap.7).

Das Office du Niger (ON)[6]Einen Einblick in die Organisation und das Leben in Dörfern des Office du Niger gibt die Studie von Swen Etz (2007), Möglichkeiten und Grenzen der Verbesserungdes nachhaltigen Kanalunterhaltsdurch … Continue reading liegt in unmittelbarer Nachbarschaft von DBG. Es handelt sich um das größte Bewässerungsprojekt des Kontinents, errichtet in den 1930er Jahren von kolonial rekrutierten Zwangsarbeitern, besiedelt zunächst von zum Reisanbau zwangsverpflichteten Familien, die großenteils von den ihnen zugeteilten Parzellen fliehen konnten. Drei Viertel der Familien im ON leben derzeit unterhalb der Armutsschwelle; viele bauen in den benachbarten Trockenzonen Hirse und Sorghum an, um nicht zu verhungern. Ein Erweiterungsprojekt des ON, das sich an Kleinbauern richtet, wurde in den letzten Jahren von niederländischen Agenturen, aber auch von der KfW finanziert. Die KfW bewertet die Investitionen in das ON mit den Schulnoten 4-5 und merkt an:

Die den Erwartungen nicht entsprechenden Resultate lassen sich vor allem darauf zurückführen, dass es sich bei dem Vorhaben nicht um die Rehabilitierung bereits bestehender Perimeter, sondern um eine Umwandlung von Busch-und Baumsavanne in Bewässerungsflächen handelte und die Anbaupraktiken von den Bauern (zuvor halbnomadische Viehhalter) noch nicht ausreichend beherrscht werden. Die Normen des Trägers ON, die eine Mindestgröße der Parzellen von 3 ha verlangen, wurden – offenbar aufgrund hohen Bevölkerungs-bzw. Nachfragedrucks – nicht eingehalten.“ [7]https://www.kfw-entwicklungsbank.de/PDF/Evaluierung/Ergebnisse-und-Publikationen/PDF-Dokumente-L-P/Mali_Bew%C3%A4sserung_2016_D.pdf

Das ON breitet sich aus, der Staat unterstützt dabei weniger die bäuerliche Existenzsicherung als die Ansiedlung hoch kapitalisierter Betriebe.[8]Die Planungen der großen Investoren beziehen sich zunehmend nicht auf Reis und Zuckerrohr, sondern auf Ölsaaten und auf Jatropha. Vgl. Amandine Adamczewski et al., Domestic and Foreign Investments … Continue reading Die sandigen Böden rund um DBG sind nicht geeignet für den Anbau von Reis, Zuckerrohr oder Baumwolle – aber sie könnten sich für den Weizenanbau als Cash-crop eignen, oder eben auch für Jatropha, das speziell für die Biosprit-Produktion auf Trockenböden gezüchtet wird.[9]https://www.biooekonomie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/jatrosolutions-l-aus-der-jatropha-pflanze-fuer-biosprit-und-mehr Um auch diese Anbauflächen zu kapitalisieren, müsste die Bevölkerung, die in den letzten zwei Jahrzehnten stark angewachsen ist, allerdings – über die meist saisonalen Migationsbewegungen hinaus – radikal reduziert werden. Bekanntlich funktionieren kapitalistische Entwicklungskonzepte dann am besten, wenn sie auf Bevölkerungsbestände keine Rücksicht zu nehmen brauchen.[10]Dass kapitalisierte Kleinbetriebe zwangsläufig eine „Überschussbevölkerung“ produzieren, hat Rainer Tetzlaff in seiner Weltbank-Studie schon vor 40 Jahren nachgewiesen: Rainer Tetzlaff, Die … Continue reading

Zur Entwicklung der Bodenknappheit fragt Toulmin zusammenfassend nach den Gründen, warum in DGB, das 1980 über unendliche Bodenressourcen verfügte, nur 25 Jahre später das Land knapp wurde.

„Die Antwort liegt teilweise in der Verdreifachung der Bevölkerung, der Verbreitung von durch Ochsen gezogenen Pflügen und dem extensiven Anbau. Aber der wichtigste Faktor ,, war, dass hunderte Bauern aus dem Süden in das Gebiet kamen auf der Suche nach Land, um ihre Familien zu ernähren. Die erste Wellte der Bauern kam in den späten 80er Jahren aus Dörfern, deren Ernten schwer durch Vögel geschädigt wurden, die sich in der Nähe der bewässerten Flächen des ON stark vermehren konnten. Die zweite Welle kam nach Eröffnung der Zuckerrohrplantage in N-Sukala, 40 km südöstlich von DBG, die in den Jahren 2010/11 20.000 ha Land bewässerte und eine Zuckermühle baute. Hunderte Familien verloren ihr Land und die Vogelplage breitete sich weiter aus. Da die Regierung plant, das Bewässerungsprojekt weiter auszudehnen, kommen auf DBG und die Nachbardörfer zweifellos viele weitere Cousins zu, die um Land betteln. …

Die Viehzüchter der Region sind durch den Einstrom von Bauern, die das Land besiedeln, ebenfalls betroffen und die Spannungen zwischen Bauern und Hirten nehmen zu“[11]Toulmin, S. 106

An anderer Stelle heißt es,[12]Toulmin, S. 213 dass die zunehmende Kultivierung des Lands mehrere Konsequenzen habe: Erstens verliert der Boden seine Fruchtbarkeit aufgrund des fehlenden Dungs der Weidetiere. Zweitens können die Herden schlechter zwischen den Wasserstellen und den Weideflächen wandern. Drittens haben die Menschen in DBG die Kontrolle über das Land und seine Ressourcen verloren; Viehdiebstähle nehmen zu, Bäume werden zur Holzkohleproduktion abgeholzt, die Jäger finden kein Wild mehr. Die Landrechte sind undurchschaubar: einerseits wurden traditionelle Bodenrechte im Jahr 2000 gesetzlich verankert,[13]Im Code Dominale et Foncier, siehe S. 86 f. andererseits wurde das gesamte Land wie zu kolonialen Zeiten zu Staatseigentum erklärt und das ON beansprucht Sonderrechte.[14]Moussa Djiré bezeichnet das Verhältnis von Landrechten und lokalen Praktiken als Labyrinth: Sur le traces du droit vivant dans le labyrinthe du droit foncier et des practiques locales au Mali, in: … Continue reading Zudem verschaffen sich die Big Men wie Militärs, große Kaufleute und Bürgermeister eigene Sonderrechte.

In der europäischen Geschichte waren die Enclosures und das Bauernlegen mit dem Wachstum der Städte und mit globalen Migrationsbewegungen verknüpft, wobei die Eroberung und Besiedlung Amerikas und Australiens an erster Stelle zu nennen sind.[15]Vgl. insbesondere die Rolle des Homestead Act für den amerikanischen Mittleren Westen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Solche Migrationsbewegungen sind im Prozess der Agrarmodernisierung der wichtigste Ausweg für die betroffenen Menschen. Den Menschen im Sahel aber werden die transnationalen Migrationswege versperrt – die Schließung der Grenzen ist ja inzwischen das wichtigste Anliegen der europäischen Militärpräsenz im Sahel.[16]www.migration-control.info Die Migrationsbewegungen im Sahel führen, so lange die Menschen noch selbst entscheiden können, ganz überwiegend in die regionalen Städte und in die Hauptstädte, aber aufgrund der Kombination von Landknappheit und Militarisierung führen sie zunehmend auch in die Flüchtlingslager der Nachbarländer. Im Sahel gelten derzeit nach UN-Angaben mehr als 3 Millionen Menschen als Vertriebene, 831.000 sind als Refugees anerkannt.[17]https://www.theguardian.com/world/2020/jul/09/at-least-civilians-killed-burkina-faso-town-says-rights-group

Gemessen an den Zuständen in vielen Nachbarregionen erscheinen die Zustände in DBG noch überschaubar und weitgehend selbstbestimmt. Camilla Toulmin beschreit den Wandel der Patterns of Migration in DBG für die Jahre 1980, 1996 und 2016. Sie stützt ihre Beobachtungen auf eine Reihe von Interviews.[18]Vgl. Table 7.1, S.178 Derzeit fahren viele Jugendlichen, oft nach der Jätezeit, mit Freund*innen aus ihren Peer-Groups für ein paar Monate nach Bamako oder sie verdienen etwas Geld bei der Erntehilfe in der Region. Bei den Männern spielte 2016 auch die Migration zu den Goldminen im Süden von Mali, die in Region Kaya und die Migration nach Europa eine Rolle. Ihre Einkünfte behalten die Männer überwiegend für sich und nur ein kleiner Teil fließt in den Familienhaushalt; die jungen Frauen sparen das Geld für die Ausstattung. Dieser fast idyllische Zustand einer Erhaltungs-Auflösung ist, wie Toulmin andeutet, ein Spiel auf Zeit. DBG hat, wie der Blick zurück zeigt, auch schon andere Tage gesehen, zum Beispiel die Flucht vor den französischen Zwangsrekrutierungen in die englischen Kolonialgebiete oder die Migrationen der 1960er Jahre in das verheißungsvolle Elfenbeinküste.

Nicht zufällig sind die Fulani-Viehzüchter, die an vielen Oerten im Sahelgürtel ihre Weidegebiete zwischen den Eclosures des Süden und der vordringenden Wüste verlieren, überproportional häufig Opfer von Milizen und Militärs und viele von ihnen wurden in die Flüchtlingslager vertrieben, während sich die Jugendlichen auf ihren Motorrädern in gewalttätigen und teils djihadistisch firmierenden Gruppen organisieren. Wir lesen das Buch von Camilla Toulmin vor dem Hintergrund der Debatte über MINUSMA und der deutschen Beteiligung an dieser Mission.[19]https://ffm-online.org/staatlichkeit-und-militaer-weitere-anmerkungen-zur-minusma-debatte/ Der Krieg wird im Sahel auf Dauer gestellt – zwischen den lokalen Jacquerien, den Selbstverteidigungsmilizen der Bauerndörfer, die Fulani massakrieren, den Djihadisten, die als Verteidiger lokaler Interessen auftreten und die zugleich den Drogenschmuggel organisieren, den kriminellen Unternehmen, die sich als Djihadisten tarnen, den Militärs, die am Drogenschmuggel oder am Waffenhandel verdienen oder die sich bisweilen ebenfalls als Djihadisten ausgeben, um den Djihadismus präsent und die Unterstützung aus den USA und aus der EU flüssig zu halten – und dann gibt es die politischen Eliten der Städte, die am „ehrlichen Fortschritt“ und an Staatlichkeit interessiert sind und die zum Teil Anteile an Firmen erworfben haben, die im ON aktiv sind, oder die selbst Rinderherden bessitzen. Sie begrüßen MINUSMA als Garantie eines Status Quo, in dem sie sich auf Seiten der Gewinner sehen. Hinzu kommt eine politische Opposition, die ihren Anteil am Kuchen fordert – darunter auch Sozialist*innen, die das Staatseigentum aus Gründen der Dogmatik gegen das lokale Gewohnheitsrecht der Dörfer stellen. All dies sind in wechselnden Konstellationen Faktoren eines prolongierten, chronifizierten Kriegs an einer „New Frontier“, der irgendwie dafür geeignet sein soll, moderne und kapitalistische Verhältnisse zu implementieren, wie das vor 150 Jahren im amerikanischen Mittleren Westen möglich war, wie es aber in Mali in absehbarer Zeit sicher nicht gelingen wird. Die Zeit des Kriegs und der Entwicklungsblockade wird andauern und die Zahl der Refugees wird steigen. Der Sahel droht zum europäischen Afghanistan zu werden.

Wie geht es mit DBG weiter? Sattelitenbilder der Nachbarregion von Ségou, Mopti, lassen einen Zusammenhang von Dijadismus, Antiterrorismus und Landknappheit erkennen, der auch für DBG der nächste Schritt in die Zukunft sein könnte:

Hundreds of villages now had buffer zones of no more than 2 km in which farmers were able to cultivate. Crops are now grown closer together when compared with older satellite images that showed villages completely surrounded by farmland. […]
Islamist armed groups have been operating in Mopti since 2017, but tensions are growing between the Dogon and Fulani communities. Several major attacks in 2019 targeted Fulani villages, raising concerns about ethnic cleansing.
Large parts of the UN human rights council’s January report on Mali focused on Mopti, detailing cases of children being found dead in fields and a villager killed after going in search of his wandering cattle. It also reported animal theft and food stores being burned in attacks by rival militias.[20]https://www.theguardian.com/global-development/2020/jul/10/a-drastic-loss-satellite-imagery-reveals-malis-farmers-forced-off-land-by-militias

Mark Levene hat zur Genesis des Genocid im Zusammenhang der Expansion des Westens ein sehr erhellendes Buch verfasst, das wir für die hier diskutierten Zusammenhänge als Folie nehmen könnten.[21]Mark Levene(2005): Genocide in the Age of the Nation State, Vol.2, The Rise of the West and the Coming of Genocide, London The Rise ofe the West, Nationalismus und Genozid gehen Hand in Hand. Levenes Namensvetter Mark LeVine hat, quasi diesen Spuren folgend, in einem Aufsatz für Al Jazeera gerade den Begriff des Nekrokapitalismus geprägt.[22]https://www.aljazeera.com/indepth/opinion/neoliberalism-necrocapitalism-20-years-200715082702159.html

Whether it is academia or think-tanks, Haaretz or The Guardian, Noam Chomsky or Naomi Klein, or myriad progressive international NGOs – all have put the blame on neoliberalism, hoping that „coronavirus spells the end of the neoliberal order“ and the „uniquely American virus that is neoliberalism“.

But the focus on the neoliberal present is literally misplaced, for the current system is merely the latest iteration of a 500-year-old matrix of forces that continues to shape the modern world today. Like an invasive plant, this system must be dealt with at the roots, not the newest leaves. And the roots of the present crisis lie deep in the unfolding of capitalism, in the morphology of the nation-state, and in the generative order of colonialism that has fertilised them both. […]

Cameroonian critical theorist Achille Mbembe first described the role of extreme violence in the functioning of larger biopolitical orders as „necropolitics“ – not merely a state’s „right“ to kill and to organise people to be killed (as opposed to live), but to expose them to extreme violence and death and reduce entire segments of populations to the barest and most precarious existence. All in order to preserve the established economic and political hierarchies of the capitalist system.

Bio- and necropolitics cannot exist without each other, but the specific (im-)balance between them depends on the particularities of racial capitalism and ethnonationalism in each country. Two dynamics have always ensured a far more central place for necropolitics in the capitalist system than most realise. The first is what Peruvian theorist Anibal Quijano termed the „coloniality of power“, which ensures that the same violent, racialised and necropolitical dynamics at the heart of colonial governance are adopted in both the metropoles and the „postcolonies“ after formal decolonisation.

The second aggravating factor in the imbalance between bio- and necropolitics in most societies is the reality that modern states and governing structures have from the start shared the same DNA as large-scale criminal enterprises or „rackets“ – whose power comes from extorting money, resources and loyalty from communities in return for protection from internal and external threats (which, more often than not, they created or exacerbated).

BLM – dem gilt es heute im Sahel Achtung zu verschaffen, noch dringlicher als in den vergleichsweise sicheren Regionen der Welt. Wer von Berkhane und MINUSMA redet, sollte zum Nekrokapitalismus nicht schweigen.

(Aktualisierte Fassung 23.07.20)

Lesehinweis: Camilla Toulmin, Land, Investment and Migration

Fußnoten

Fußnoten
1Die Ergebnisse hatte Toulmin 1992 in einem Buch beschrieben, dessen Titel sie vielleicht heute nicht mehr so gut findet: Camilla Toulmin (1992): Cattle, Women, and Wells. Managing Household Survival in the Sahel
2Charlotte Wiedemann (2014): Mali oder das Ringen um Würde. Meine Reisen in einem verwundeten Land, München
3In der Tat wurde das Einrücken der französischen Koilonialverwaltung in den 1930er Jahren von vielen dort lebenden Menschen in Zeiten einer protokolonialen Warlord-Economy als Versicherheitlichung wahrgenommen
4Siehe das Schema Annual household farming cycle at DBG, S. 75
5Swen Etz (2007): Möglichkeiten und Grenzen der Verbesserung des nachhaltigen Kanalunterhalts durch bäuerliche Selbstorganisation, Potsdam, S. 39, https://publishup.uni-potsdam.de/opus4-ubp/frontdoor/deliver/index/docId/510/file/PKS41.pdf
6Einen Einblick in die Organisation und das Leben in Dörfern des Office du Niger gibt die Studie von Swen Etz (2007), Möglichkeiten und Grenzen der Verbesserungdes nachhaltigen Kanalunterhaltsdurch bäuerliche Selbstorganisation. Das Beispiel der OERT im Bewässerungsgebiet des Office du Niger/Mali, Potsdam, https://publishup.uni-potsdam.de/opus4-ubp/frontdoor/deliver/index/docId/510/file/PKS41.pdf, sowie die Broschüre von Mathias Becker (2009): Alles für die Katz? Lehren aus der Entwicklungspolitik, Lüneburg, http://www.mali-mali.de/Entwicklungspolitik.pdf
7https://www.kfw-entwicklungsbank.de/PDF/Evaluierung/Ergebnisse-und-Publikationen/PDF-Dokumente-L-P/Mali_Bew%C3%A4sserung_2016_D.pdf
8Die Planungen der großen Investoren beziehen sich zunehmend nicht auf Reis und Zuckerrohr, sondern auf Ölsaaten und auf Jatropha. Vgl. Amandine Adamczewski et al., Domestic and Foreign Investments in Irrigible Land in Mali: Tensions Between the Dream of Large-Scale Farming and the Reality of Family Farming, in: Sandra Evers et al. (2013): Africa for Sale?, Leiden and Bosten, pp. 159-180
9https://www.biooekonomie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/jatrosolutions-l-aus-der-jatropha-pflanze-fuer-biosprit-und-mehr
10Dass kapitalisierte Kleinbetriebe zwangsläufig eine „Überschussbevölkerung“ produzieren, hat Rainer Tetzlaff in seiner Weltbank-Studie schon vor 40 Jahren nachgewiesen: Rainer Tetzlaff, Die Weltbank: Machtinstrument der USA oder Hilfe für die Entwicklungsländer? Zur Geschichte und Struktur der modernen Weltgesellschaft, München 1980, S. 512
11Toulmin, S. 106
12Toulmin, S. 213
13Im Code Dominale et Foncier, siehe S. 86 f.
14Moussa Djiré bezeichnet das Verhältnis von Landrechten und lokalen Praktiken als Labyrinth: Sur le traces du droit vivant dans le labyrinthe du droit foncier et des practiques locales au Mali, in: Jan Abbink and Mirjam de Bruijn (2011): Land, Law and Politics in Africa, Leiden, pp. 287-312
15Vgl. insbesondere die Rolle des Homestead Act für den amerikanischen Mittleren Westen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
16www.migration-control.info
17https://www.theguardian.com/world/2020/jul/09/at-least-civilians-killed-burkina-faso-town-says-rights-group
18Vgl. Table 7.1, S.178
19https://ffm-online.org/staatlichkeit-und-militaer-weitere-anmerkungen-zur-minusma-debatte/
20https://www.theguardian.com/global-development/2020/jul/10/a-drastic-loss-satellite-imagery-reveals-malis-farmers-forced-off-land-by-militias
21Mark Levene(2005): Genocide in the Age of the Nation State, Vol.2, The Rise of the West and the Coming of Genocide, London
22https://www.aljazeera.com/indepth/opinion/neoliberalism-necrocapitalism-20-years-200715082702159.html