Ist Erdogan auch bald Schleusenwärter der zentralen Mittelmeerroute? Deutschland übernimmt nächste Woche die EU-Ratspräsidentschaft

Thomas Pany

In Libyen bauen sich Fronten auf, die die EU in die Bredouille bringen. Zypern, Griechenland und Frankreich bilden im Streit über Erdgasvorkommen im Mittelmeer einen Block gegen die Türkei. Das türkische Militär ist in Libyen aufseiten der GNA-Regierung im Einsatz, die von der EU (und von der Nato) unterstützt wird.

Deren Gegner, die „Libysche Nationalarmee“ (LNA), steht unter dem Kommando von Khalifa Haftar. Der wird wiederum von Frankreich unterstützt, aber auch von einer Reihe von Staaten, angefangen von Ägypten, über Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und indirekt von Russland, bis hin zur syrischen Regierung unter Baschar al-Assad.

Mit ins Bild gehört, dass die Vereinigten Arabischen Emirate wie auch Saudi-Arabien zu den großen Abnehmern von französischen Waffen gehören, was vor gut einem Jahr durch deren Einsatz im Jemenkrieg kurz für einen öffentlichen Skandal sorgte (Frankreich: Waffenverkäufe für den schmutzigen Krieg im Jemen). Frankreich ist der zweitgrößte Waffen-Lieferant an die Vereinigten Arabischen Emirate, die in Libyen der stärkste militärische Unterstützer der LNA von Khalifa Haftar sind.

Bedrohungsanalyse der EU in Arbeit

In welcher Form diese spannungsgeladene Konstellation in der „Bedrohungsanalyse der EU“ verarbeitet wird und zu welchen Schlüssen sie kommt, bleibt der Öffentlichkeit noch verborgen. Es gibt aktuelle Stellungnahmen wie die des EU-„Außenministers“ Josep Borells, der dieser Tage in Griechenland zu Besuch ist. Heute versicherte Borell, dass die EU nicht nur solidarisch mit Griechenland sei, sondern dem Land verpflichtet. Er sei sich mit dem griechischen Verteidigungsminister darin einig, ein Minimum an Vertrauen und Dialog mit der Türkei wiederherzustellen, „um diese Eskalation zu stoppen“.

Angesprochen ist damit der Streit um die Erdgas-, aber auch Erdölvorkommen vor der zyprischen Küste, die als bedeutend eingeschätzt werden (Schatzinsel Zypern). Auch die beiden italienischen und französischen Energiekonzerne Eni und Total haben dort größere Interessen, was erkennen lässt, dass es beim Engagement der EU für Griechenland und Zypern im Streit mit der Türkei über Ausbeutungsansprüche auch realpolitisch um mehr geht als „Solidarität“.

Nicht zuletzt geht es bei den Gesprächen Borells in Griechenland auch um die Sicherheit der „äußeren Grenzen“. Auch da spielt die Türkei eine wichtige Rolle, die sich bei den Dramen an der türkisch-griechischen Grenze Anfang des Jahres brachial zeigte. Der Türkei wurde Erpressung vorgeworfen – dass sie das Drama orchestriert hat und Flüchtlinge mit falschen Versprechen an die Grenze gebracht hat, um die EU zu erpressen.

Türkei: Das Mittelmeer als „blaue Heimat“

Auch in Libyen geht es um die Außengrenzen der EU. Kurz vor dem Besuch Borells in Griechenland erklärte die englisch-sprachige Ausgabe der griechischen Zeitung Ekathimerini die Mittelmeer-Großstrategie der Türkei. Angeblich verfolgt die Türkei demnach eine Doktrin, die von „erzkonservativen Armeeoffizieren“ als „Blaue Heimat“ („Blue Homeland“) bezeichnet wird und die nichts weniger als eine Dominanz der Ägäis und „der größeren Teile des Mittelmeers“ im Sinn hat.

Zu dieser aggressiven Strategie würde gehören, dass die Türkei gerade in Verhandlungen mit der von ihr abhängigen GNA-Regierung in Libyen steht, um ihre militärische Stellung durch zwei permanente Basen, eine Marinebasis und ein Militärflughafen, zu festigen. Sind die Verhandlungen erfolgreich, so würde dies der Türkei einen libyschen Hafen bei Misrata, tauglich für größere Kriegsschiffe, und eine strategisch hervorragend gelegene Luftwaffenbasis bei al-Watija nicht nur für Kampfflieger und Drohnen, sondern auch für Transportflugzeuge einbringen.

Der Artikel in der griechischen Zeitung stammt von einem ehemaligen Berater des US-Außenministeriums, was man als sicheres Indiz dafür nehmen kann, dass die türkischen Ambitionen in Sicherheitskreisen diskutiert werden. Ganz sicher, was die energiepolitischen Auswirkungen betrifft, auch Libyen hat einiges an Schätzen zu bieten, und vielleicht auch was in dieser Analyse mithineingenommen wird: die geographische Ausweitung der türkischen Libyenpolitik bis hinein in die Sahelzone, wo Frankreich sich als Ordnungsmacht versucht.

Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU

Die Sahelzone gehört wie Libyen auch zum Konzept der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU, mit dem Unterschied, dass sich die EU dort auch militärisch engagiert, bislang beratend, im Gespräch ist aber längst der Einsatz einer gemeinsamen Spezialtruppe, wobei sich Deutschland nur politisch beteiligen soll.

Um die Kirche im Dorf zu lassen: Es geht hier nicht darum, um über eine militärische Eskalation in der Sahelzone zu spekulieren, bei der sich EU-Truppen türkischen Söldnern gegenüberfinden könnten, das ist ein weit entferntes, abgehobenes Szenario, sondern darum, dass die Verwicklungen auf der anderen Seite des Mittelmeers und in der Sahelzone noch komplizierter werden. (Dazu zählt auch, dass die Türkei mit der Unterstützung aus Algerien rechnen kann).

Und dies ein paar Tage, bevor Deutschland zum 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Zu den inhaltlichen Schwerpunkten gehört, wie das Verteidigungsministerium erklärt ein „starkes Europa in der Welt“. Daher werde die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) ausgebaut, um „um unsere Handlungsfähigkeit in zukünftigen Krisen zu stärken“.

Als ersten Schritt würde, erstmals auf europäischer Ebene, eine „Bedrohungsanalyse“ aufgestellt, so das BMVg.

„Was Europa gerade am allerdringendsten braucht, ist eine Leitstrategie“, ist eine der auffälligsten Bemerkungen, die einem Gespräch zu Prioritäten für europäische Sicherheitspolitik im Vorfeld der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zu entnehmen sind – immerhin hat die deutsche Verteidigungsministerin daran teilgenommen -, ansonsten nichts natürlich keine konkreten Aussagen zu realen problematischen Konstellationen in Libyen. Ganz ähnlich wie in Syrien: Probleme der echten Welt werden („welche Opposition zu Assad soll eigentlich wie regieren?“) mit symbolischen Groß-Aussagen und Ansprüchen („Demokratie“) zugestellt.

GNA: Militärische Aktionen nach Osten ausdehnen

Auch vor Libyen zieht sich eine zwar schwer genau zu ziehende, aber politisch deutlich spürbare Außengrenze der EU. Sollte die Türkei dort ihre Machtposition ausbauen – die von ihr unterstützte GNA will ihren Kontrollbereich nach Osten erweitern, Sirte, strategisch nicht nur militärisch, sondern auch energiepolitisch ein „Schlüsselort“, ist das nächste Eroberungsziel -, dann ist es gut möglich, dass sich die Türkei dort auch auf der zentralen Mittelmeerroute als Grenzschützer gerieren könnte und über Migranten Druck auf die EU ausübt.

Anderseits unterstützt die EU mit Millionenzahlungen, diplomatisch und mit der GSVP-Mission Eubam die libysche Regierung des nationalen Einvernehmens, die GNA, deren Chef Sarradsch gegenüber Forderungen der Türkei immer weniger in der Hand hat, je bedeutender die militärischen Erfolge seiner Regierung werden, die es ohne die militärische Unterstützung aus Ankara nicht gäbe.

Die „großen Erfolge“ der EU-Sicherheitspolitik in Syrien vor Augen, kann man nur hoffen, dass sie im Fall Libyen mehr Wert auf Realpolitik legt. Wie es momentan aussieht, haben Ägypten und Russland dafür wichtige Hebel in der Hand. Beide können auf die Opposition gegen die GNA einwirken. Dafür ist einiges Geschick notwendig, da deren militärischer Oberkommandeur Khalifa Haftar gerne eigene Wege geht, was auch in Russlands Führung für Verstimmung gesorgt hat.

Bei einer russischen Konferenz zu Libyen wollte Haftar keinen Waffenstillstand unterschreiben und die darauffolgende deutsche Libyenkonferenz in Berlin erreichte ebenfalls keine handfesten Zusagen zu einem Waffenfrieden in Libyen. Der Berliner Friedensprozess hat bisher nicht weit getragen.

Aber, wenn man Analysen aus Ägypten liest, so könnten Vorschläge von Aguila Saleh, dem Parlamentspräsidenten der international anerkannten Abgeordneten-Kammer im Osten des Landes, vielleicht eine Brücke schlagen. Auguia Saleh hatte sich gegen Khalifa Haftar gestellt, als dieser im April im Fernsehen Machtansprüche über das ganze Land geäußert hatte.

Ägypten droht dieser Tage mit einem Krieg gegen die GNA und ihre Verbündeten, sollten Sarradsch und die Türkei an ihrem Plan festhalten und auf militärischen Eroberungskurs im Osten gehen.

Man darf gespannt sein, welchen Einfluss die EU auf das Geschehen ausüben kann. Bislang werden zwar 2020 deutlich mehr Migranten gezählt, die in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum von Libyen aus nach Italien gelangt sind, doch sind die Zahlen im Vergleich zu früheren Jahren nach wie vor sehr klein. Doch nicht einmal bei der Verteilung von wenigen Migranten konnte die EU eine gemeinsame Politik beschließen, wie wird das erst sein, wenn der libysche Konflikt weiter hochkocht?

Telepolis | 25.06.2020

„Libyen: Die EU in Not“