Die NZZ berichtet in diesem Artikel über alle Schiffskatastrophen der letzten Tage, über die laufende Verweigerung der Seenotrettung für 100 Boat-people sowie über zwei Flüchtlingsboote, die es eigenständig bis nach Lampedusa geschafft haben.

Migranten auf Booten im Mittelmeer setzen Notrufe ab – doch in Libyen geht niemand ans Telefon

In diesen Tagen sind vor Libyen 170 Migranten ertrunken, ein weiteres Boot ist in Seenot – doch Italien und Libyen schieben die Verantwortung hin und her. Das nächste Unglück ist absehbar. Und die Zahl der Überfahrten nimmt wieder zu.

Andrea Spalinger, Rom

Bei zwei Schiffsunglücken im Mittelmeer sind in den letzten Tagen 170 Migranten ums Leben gekommen. Vor der Küste Libyens ertranken am Freitag 117 Männer, Frauen und Kinder, die stundenlang vergeblich auf Hilfe gewartet hatten. Nur drei Überlebende wurden schliesslich von einem Helikopter der italienischen Marine geborgen und nach Lampedusa gebracht. Zwischen Marokko und Spanien waren kurz zuvor 53 Migranten ertrunken. Ein einziger Überlebender konnte dort von einem Fischerboot gerettet werden.

Während die Zahl der Überfahrten laut der Statistik des Uno-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) seit vergangenem Jahr deutlich zurückgegangen ist, hat die Zahl der Todesopfer im Verhältnis dazu stark zugenommen. Dies hat vor allem damit zu tun, dass die libysche Küstenwache die Verantwortung für die Such- und Rettungsaktionen vor der eigenen Küste übernommen hat und kaum mehr Rettungsschiffe von Hilfsorganisationen in der Zone präsent sind.

Der Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge hat deshalb einen alarmierten Appell an die EU gerichtet. Man beobachte mit Sorgen, wie europäische Staaten Hilfsorganisationen daran hinderten, Rettungsaktionen durchzuführen, sagte Filippo Grandi. Gleichzeitig gebe es für Flüchtlinge noch immer kaum andere Wege, um in Europa Asyl zu beantragen. […]

Der Fall der 117 ertrunkenen Migranten sorgte in den italienischen Medien am Wochenende für einige Aufregung. Denn wie im Nachhinein aus den Berichten der Überlebenden und den Funkkontakten zwischen Hilfsorganisationen und Küstenwachen rekonstruiert werden konnte, hätte die Tragödie durchaus verhindert werden können. […]

Das Gummiboot war Donnerstag spät bei Garabulli, sechzig Kilometer östlich von Tripolis, ins Meer gestochen. Nach zehn Stunden begann es Luft zu verlieren. Es war Freitag kurz nach 13 Uhr. Die Schiffbrüchigen befanden sich rund 45 Seemeilen vor der libyschen Küste und wurden von einem Überwachungsflugzeug gesichtet, das mit der Hilfsorganisation Sea Watch kooperiert. Die Küstenwachen in Rom, Tripolis und Tunis wurden alarmiert. Die Italiener antworteten, dass nach internationalem Recht Libyen zuständig sei. Die Libyer schickten offenbar ein Schnellboot, das wegen einer Panne aber umkehren musste. Danach ging in der Koordinationszentrale in Tripolis keiner mehr ans Telefon.

Das Boot ging schliesslich unter. Viele der Migranten konnten nicht schwimmen und verschwanden in der Tiefe des Meeres. Einige wenige konnten sich an Überresten des Boots festklammern und harrten im kalten Wasser noch eine Weile aus. Doch Hilfe kam keine. Das Rettungsboot der Sea Watch befand sich zu weit weg. Ein Handelsschiff, das sich in der Nähe befand, kam auch nicht zu Hilfe. Erst abends gegen 21 Uhr intervenierte die italienische Marine und brachten die letzten drei Überlebenden, zwei Sudanesen und einen Gambier, mit einem Helikopter in Sicherheit.

Am Samstag war lange von 25, dann von 50 Toten die Rede gewesen. Mittlerweile ist klar, dass es 117 waren, unter ihnen auch ein Dutzend Frauen und zwei Kleinkinder. Wären drei Migranten nicht im letzten Moment noch gerettet worden, gäbe es überhaupt keine Zeugen für das Unglück. […]

Laut einem Sprecher der Internationalen Organisation für Migration verlassen in diesen Tagen so viele Boote wie schon lange nicht mehr die libysche Küste. Das zur Verfügung stehende Rettungsdispositiv sei dabei absolut ungenügend. Seit Anfang Jahr seien bereits über 200 Migranten im Mittelmeer ertrunken. […]

Am Sonntagmorgen hat ein weiteres Boot mit rund 100 Migranten 60 Seemeilen vor Misrata einen Notruf abgegeben. Die Situation auf dem Boot soll sehr ernst sein, und es sollen sich schon mehrere Leichen an Bord befinden. Bis am Nachmittag gab es keine Meldungen über eine Rettungsaktion. Am Wochenende sind mindestens sechs Boote aus Libyen losgefahren. Zwei von ihnen, mit insgesamt 81 Migranten an Bord, haben es bis nach Lampedusa geschafft. Zwei weitere wurden von der libyschen Küstenwache abgefangen und zurückgebracht. Ein Boot geriet am Samstag auf offenem Meer in Seenot, seine 47 Passagiere wurden von Sea Watch gerettet.

NZZ | 20.01.2019

„Migranten auf Booten setzen Notrufe ab – in Libyen geht niemand ans Telefon“