Velika Kladuša ist eine kleine Stadt im Nordwesten von Bosnien und Herzegowina. Bis zur kroatischen Grenze sind es von dort aus zwei Kilometer. Aufgrund des Gerüchts, dass diese Grenze manchmal geöffnet sei, sind viele Migrant*innen in die Stadt gekommen, die dort nun festsitzen.

Bosnien, Samina will mit ihrem Enkel von Pakistan nach Deutschland, sitzt in Velika Kladuša fest und möchte das Ende ihrer Odyssee noch erleben

Andrea Jeska

Wir trafen Abdullah auf einem Feld bei Velika Kladuša, einer Kleinstadt im Nordwesten von Bosnien. Wie an vielen Tagen zuvor war er in die Stadt gekommen, um Informationen über die sich täglich verändernde Grenzsituation zu sammeln. Wollte hören, wo sich entlang des Zaunes, der Kroatien von Bosnien trennt und schwer bewacht ist, ein Schlupfloch finden könnte. An vielen Stellen führt dieser Zaun durch Hügel und Wälder, schwer einsehbar und von Patrouillen nicht vollständig zu kontrollieren. Nur an solchen Orten im geografischen Nirgendwo ist es noch möglich, die Grenze zu überqueren, um in diesen oder jenen EU-Staat zu gelangen.

Abdullah aus Pakistan, aus einem Ort in der Nähe von Karatschi, war zum Zeitpunkt unseres Treffens seit fast zwei Jahren unterwegs. Wie viele andere kam er über Griechenland, Albanien und zog durch die unwirtliche Hochgebirgsregion von Montenegro in Richtung Bosnien. Er wollte nach Deutschland, wo seine Eltern leben, die Pakistan bereits vor über sieben Jahren verlassen hatten. Abdullah hätte auf legalem Wege dorthin fliegen können, ihm war ein Familiennachzug zugebilligt. Dafür allerdings hätte er seine 72-jährige Großmutter Samina zurücklassen müssen, die ihn großzog, ihn kleidete, ihm die Schule bezahlte, mit ihm lebte. Die zwei Jobs hatte, um das zu schaffen – tagsüber arbeitete sie als Koranlehrerin, nachts bestickte sie Stoffe für den Verkauf auf dem Basar. Die Entscheidung, sich von ihr zu trennen, wollte und konnte Abdullah nicht treffen. „Es wäre wie Verrat gewesen.“ Also nahm er sie mit. […]

Als wir Abdullah und Samina schließlich zusammen in Velika Kladuša wiedersehen, haben sie all ihr Gepäck dabei. Samina trägt einen gesteppten Mantel, ein fliederfarbenes Tuch um die Haare, sie wirkt schwach und sehr müde, nur die Augen sind wach. Die beiden bitten uns um Begleitung, sie wollen ein Zimmer mieten, noch eine Nacht wollen sie gut schlafen, bevor sie eine weitere Runde des „Spiels“ spielen. So nennen die Menschen auf der Flucht den Versuch, die Grenze zu überqueren – „the game“. Ein Jahr ist es nun her, dass es die Bestimmung von Velika Kladuša wurde, Endstation für alle Träume von einem neuen Leben im westlichen Europa zu werden. Unverhofft wurde aus der Kleinstadt das Zentrum eines weiteren Dramas unablässig fortgeschriebener Flüchtlingsgeschichten der EU-Peripherie. Damals war der Weg über die Balkanroute bereits lange versperrt, weil Ungarn entlang der Grenze zu Serbien einen 175 Kilometer langen Zaun gebaut hatte, durch den es kaum noch ein Durchkommen gab.

Für alle, die schon auf dem Weg waren, und für jene, die nach ihnen kamen, endete die Flucht wenige Kilometer vor dem Ziel. Oft gab es dort, wo sie nicht weiterkamen – in den dünn besiedelten Grenzorten –, keine Versorgung, keine Zelte, kaum Medikamente, zu wenig Strom, wenig Wasser. Es dauerte, bis in Serbien und später in Bosnien Unterkünfte und eine Hilfsstruktur geschaffen wurden. Bis heute sind die meisten dieser Flüchtlingscamps überfüllt.

Es soll ein Gerücht gewesen sein, das den Ausschlag gab. Die Grenze zwischen Bosnien und Kroatien sei bei Velika Kladuša manchmal geöffnet, hieß es. Tausende kamen daraufhin in eine Stadt, die ihnen nichts zu bieten hatte außer einer weiteren Enttäuschung. Wie viele Flüchtlinge jetzt, im Spätsommer 2019, noch in Bosnien sind, darüber gibt es keine zuverlässigen Zahlen. Es ist eine stets wogende Masse, einmal konzentriert, dann wieder auseinanderstrebend. 20.000 sind in den Camps registriert worden, doch dürften es viel mehr sein, die sich allein ohne Hilfe durchschlagen. Die in den Wäldern schlafen, einsam bei Nacht wandern und sich am Tag verstecken aus Furcht vor Entdeckung. Bei den meisten handelt es sich um junge Männer, die kräftigsten ihrer Familien, die losgehen, um eine Weltgegend zu erreichen, die in ihrer Heimat als das „gelobte Land“ gilt. Häufig sind es Kinder, sogenannte unbegleitete Flüchtlinge, die von ihren Eltern auf den gefährlichen Weg geschickt werden, um sie vor Krieg, Vertreibung und bitterer Armut zu schützen. Menschen, so alt wie Samina, gibt es höchstens ein Dutzend, wenn überhaupt. […]

der Freitag | 29.08.2019

„Nie mehr zurück“