Sofian Philip Naceur hat am 03.05.2020 einen Artikel auf Telepolis veröffentlicht, in dem er die unterschiedlichen Auswirkungen der Coronakrise auf Marokko, Algerien, Tunesien und Ägypten untersucht. Hier ein Auszug aus dem Text, der im Weiteren auch auf die soziale Sprengkraft des Lockdown und auf die Erosion von Freiheitsrechten eingeht:

Zwischen Wirtschaftskrise und sozioökonomischem Kollaps

Angesichts des Missmanagements im Gesundheitswesen, der chronischen staatlichen Intransparenz und den urbanen Gegebenheiten ist Ägypten weiterhin der primäre Sorgenfall in der Region. Ein gesundheitspolitisches und soziales Desaster ist hier keine ferne Zukunftsdystopie, sondern im Bereich des Möglichen – auch wenn das von vielen prognostizierte Chaos im Gesundheitswesen bisher auf sich warten lässt.

Bisher gibt es nur zaghafte Anzeichen von sozial motivierten Protesten. Sollten solche jedoch ausbrechen, kann das autoritäre Militärregime unter Präsident Abdel Fattah Al-Sisi auf den für seine Zügellosigkeit und Brutalität bekannten Sicherheitsapparat zurückgreifen und dürfte diesen ohne mit der Wimper zu zucken für deren gewaltsame Niederschlagung einsetzen.

Das Land wird auf zusätzliche Kredite aus dem Ausland angewiesen sein, um die sozioökonomischen Folgen der Pandemie abzufedern und hängt bereits am Tropf internationaler Gläubiger. Das Regime hätte jedoch enorme, in dunklen Kanälen versickerte oder geparkte finanzielle Kapazitäten zur Hand, um Hilfsprogramme aufzulegen oder umfassend Ressourcen in die Gesellschaft zu pumpen.

In den letzten Jahren wurden diese jedoch vor allem für umfangreiche Rüstungseinkäufe eingesetzt. Ob die Generäle im Falle einer länger anhaltenden sozialen Notlage, die das Regime auch politisch zu destabilisieren droht, diese Mittel in die Gesellschaft umzuleiten bereit sind, ist unklar.

Während Tunesien angesichts der partiellen Demokratisierung seit der Revolte 2011 im Umgang mit Protestwellen kaum auf rohe Gewalt setzen wird, bleibt das Land wirtschaftlich schwach und hochgradig abhängig von ausländischen Geldgebern. Diese werden einspringen und das Land mit Geldmitteln versorgen, um die sozialen und ökonomischen Folgen der Pandemie zumindest teilweise abzufedern.

Im Gegenzug dürften Gläubiger wie die EU oder der Internationale Währungsfonds (IWF) neoliberale Strukturanpassungen in der Wirtschaft und eine verstärkte Kooperation in der Migrationspolitik einfordern. Europa ist in naher Zukunft zwingend auf ein politisch stabiles Tunesien angewiesen, wird das Land doch für die EU-Grenzauslagerungspolitik im Mittelmeerraum und in Nordafrika angesichts des Krieges in Libyen dringender gebraucht als je zuvor.

Im Falle einer länger anhaltenden Notlage ist auch in Tunesien eine Rückkehr zu autoritärer Herrschaft denkbar, sollte die politische Klasse nicht in der Lage sein, den sozioökonomischen Kollaps zu vermeiden und den Frust der Bevölkerung zu kanalisieren. Angesichts der komplexen innenpolitischen Lage und der demokratischen Öffnung seit 2011 dürfte ein solches Szenario jedoch nur schrittweise eintreten.

Algerien wiederum droht noch am ehesten, politisch destabilisiert zu werden. Auch ein kompletter Kollaps der Staatsfinanzen ist nicht ausgeschlossen. Das Land ist hochgradig vom Erdöl- und Erdgasexport abhängig und steckt seit 2015 in einer tiefen Wirtschaftskrise. Der jüngste Verfall der Ölpreise könnte Algerien früher als erwartet an den wirtschaftlichen Abgrund treiben.

Die autoritäre Staatsklasse wird zudem bereits seit 14 Monaten von einer fast alle gesellschaftlichen Schichten durchziehenden Protestbewegung herausgefordert, die einen tiefgreifenden politischen Wandel einfordert und mit ihrer Beharrlichkeit die Eliten durchaus in die Defensive zu drängen vermochte.

Die seit Februar 2019 allwöchentlich stattfindenden Proteste konnten nur durch den Ausbruch der Corona-Pandemie gestoppt werden, dürften aber mittelfristig wieder aufflammen. Im Falle eines gesundheitspolitischen Desasters könnte Corona dabei als Katalysator für den Konflikt zwischen Staatsklasse und Opposition fungieren, der mittelfristig auch gewaltsam eskalieren könnte.

Angesichts der vorhersehbaren sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Krise stellt sich eigentlich gar nicht die Frage, ob Proteste und Unruhen in diesen Staaten stattfinden werden, sondern vielmehr welcher Mittel sich Protestierende bedienen könnten, welche Ziele sie verfolgen werden und wie intensiv und ausdauernd die Mobilisierung sein wird.

Von kurzweiligen, lokal begrenzten Protesten bis zu monatelang andauernden Massenbewegungen ist alles denkbar. Entscheidend dafür wird sein, wie die einzelnen Regierungen auf die Pandemie reagiert haben, welche Mittel ihnen zur Verfügung stehen, die sozialen Folgen der Lockdowns abzufedern und ob sie gewillt sind oder die Kapazitäten haben, Protesten mit roher Gewalt zu begegnen. […]

Zwischen Legitimitätsgewinn und handfester Krise – Ein Ausblick

Die Corona-Pandemie wird in Nordafrika zu einem signifikanten Anstieg des sozioökonomischen Konfliktpotentials und einem Ausbau des Überwachungsstaates führen. Der Ausblick für alle vier hier diskutierten Länder könnte dennoch unterschiedlicher nicht sein.

Während Marokko zwar zunehmend autoritär regiert werden dürfte, könnte das Königshaus angesichts seiner vorausschauenden Krisenpolitik sogar an Legitimität in der Gesellschaft gewinnen – trotz weiterer Rückschritte in Sachen Meinungsfreiheit und Menschenrechten. In Ägypten dürfte das Regime im Falle fast unausweichlicher lokaler Proteste erneut auf eine Vorschlaghammerpolitik setzen, könnte aber aus machtpolitischem Kalkül und Selbsterhaltungstrieben dazu gezwungen sein, Teile seiner schwarzen Kassen zu öffnen.

In Tunesien wiederum drohen seit 2011 teuer erkämpfte demokratische und freiheitsrechtliche Errungenschaften sukzessive verwässert zu werden, ein radikaler Bruch mit dem politischen System dürfte aber trotz sozial motivierter Proteste in den marginalisierten Landesteilen nicht eintreten.

Tunesiens Regierungschef hatte sich im März mit Sondervollmachten ausstatten lassen, kann nun für zwei Monaten per Dekret regieren und damit das Parlament umgehen. Der Schritt wird zwar von Teilen der Opposition und der Zivilgesellschaft kritisch beäugt, dürfte jedoch unmittelbar kein Anzeichen einer Rückkehr zu autoritärer Politik sein. Die Regierungskoalition ist schlichtweg zu heterogen, um wie beispielsweise in Ungarn einem autoritären Rollback den Weg zu ebnen.

Schlechte Aussichten hat derzeit vor allem Algerien. Die Kombination aus etablierter politischer Massenbewegung, einem möglichen Staatsbankrott und einer sozioökonomischen Krise birgt ein Konfliktpotential, dass früher oder später zu explodieren droht. Eine langandauernde gewaltsame Eskalation ist dabei durchaus möglich und könnte verheerende Auswirkungen für die gesamte Region haben. Bisher gibt es nur vorsichtige Anzeichen dafür, dass die Staatsklasse bereit ist, sich bei internationalen Gläubigern zu verschulden und dafür weitreichende Strukturanpassungsprogramme in Kauf zu nehmen.

Seit Beginn der Wirtschafts- und Fiskalkrise 2015 hatte sich das Land beharrlich geweigert, sich international zu verschulden. Während Regierungsoffizielle in diesem Zusammenhang immer wieder betonten, man wolle sich nicht von ausländischen Geldgebern abhängig machen, könnte ein Grund für diese Zurückhaltung auch sein, dass die Eliten im Falle internationaler Kreditabkommen ihre Bücher öffnen müssten.

Somit könnte jedoch das Ausmaß der Korruption und Veruntreuung der letzten 20 Jahre ans Licht kommen – und das wollen die weiterhin an den Schalthebeln der Macht klebenden Profiteure der alten Ordnung um jeden Preise vermeiden.

Telepolis | 03.05.2020

Nordafrika: Die nächsten sozialen Unruhen?