Christine Longine berichtet in der TAZ 07.11.19 über die Räumung von Flüchtlingscamps in Paris. Einen Tag vorher hatte Macron eine härtere Politik gegenüber Refugees abgekünfigt. Offenbar soll auch das Dublin-Karussell beschleunigt werden.

PARIS taz | Monatelang hausten Hunderte Flüchtlinge an der Porte de la Chapelle im Norden von Paris in Igluzelten und unter Plastikplanen. Doch am Donnerstag ging es plötzlich ganz schnell: Ab drei Uhr morgens bekamen die ersten Bewohner der Zeltstadt unter der Ring­auto­bahn Périferique die Aufforderung, im strömenden Regen ihre notdürftigen Unterkünfte zu verlassen. Als es hell wurde, zeigte das französische Fernsehen ein heilloses Durcheinander aus Zelten, Matratzen und Schlafsäcken.

Die Flüchtlinge waren in Bussen weggebracht worden, begleitet von 600 Polizisten. Polizeipräfekt Didier Lallement warnte die Menschen aus Afghanistan, Somalia, dem Sudan, Eri­trea und anderen afrikanischen Staaten davor, ihre Lager wieder unter der Brücke aufzuschlagen. „Wir werden das Gelände halten und mit zahlreichen Patrouillen überwachen“, kündigte er an, als handele es sich um einen Armeeeinsatz.

Nicht zufällig sei die Aktion einen Tag nach Ankündigung einer neuen, harten Linie in der Flüchtlingspolitik erfolgt. So sollen Asylbewerber erst drei Monate nach ihrem Antrag zum Arzt gehen können. Nach Ablehnung ihres Antrags gilt die Krankenversicherung für sie nur noch sechs statt wie bisher zwölf Monate. Die Regierung will so einen „Behandlungstourismus“ bekämpfen.

„Wir müssen die Kontrolle über unsere Einwanderungspolitik zurückgewinnen“, hatte Premierminister ­Edouard Philippe angekündigt und gleichzeitig 16.000 Unterkünfte versprochen. Die sollen nicht nur für die Flüchtlinge in Paris geschaffen werden, sondern auch für die entlang der Kanalküste, die auf eine heimliche Überfahrt nach Großbritannien hoffen.

In Wirklichkeit besteht das Problem der Unterbringung der Flüchtlinge seit Jahrzehnten. Im Norden von Paris, der Stadt mit den meisten Touristen weltweit, hausen die Menschen aus Afrika oder Afghanistan zu Hunderten neben ein paar Dixi-Klos. Zum Waschen müssen sie eine der öffentlichen Duschen der Hauptstadt aufsuchen. Versorgt werden sie von Hilfsorganisa­tio­nen, der Stadtverwaltung oder von Nachbarn.

Die Räumung am Donnerstag war die 59. seit dem Sommer 2015. „Diese kurzfristigen Antworten, die in aller Dringlichkeit erfolgen, können nicht ausreichen“, kritisierte die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo auf Twitter. Die Sozialistin hatte 2016 eine Erstaufnahmeeinrichtung an der Porte de la Cha­pelle geschaffen, die allerdings nur für zwei Jahre geplant war und deshalb im vergangenen Jahr geschlossen wurde.

Seither landen die Flüchtlinge direkt in Aufnahmezentren, wo ihre Identität festgestellt wird. Bei den meisten handelt es sich um „Dubliner“ – also um Flüchtlinge, die irgendwo in Europa bereits erfasst wurden. Ihnen droht die Abschiebung, denn nach den Regeln der Dublin-Vereinbarung ist dasjenige Land für die Bearbeitung von Asylanträgen zuständig, in dem Geflüchtete zuerst europäischen Boden betreten haben.

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Laut der stellvertretenden Pariser Bürgermeisterin Dominique Versini hätten sich hunderte Menschen vor der Aktion versteckt, da sie nicht in offizielle Unterkünfte wollten. 15 bis 20 Prozent der Menschen in diesen Camps seien Flüchtlinge, die Asyl gewährt bekommen haben, aber keine Wohnung finden können. Insgesamt war es die 59. Evakuierung illegaler Camps in Frankreich seit 2015.
Nach der Schließung eines Flüchtlingscamps 2016 in Calais zogen immer mehr Flüchtlinge nach Paris. Unter anderem deswegen gibt es im Norden der französischen Hauptstadt zahlreiche illegale Zeltlager, in denen Tausende Menschen leben. Sie wurden schon mehrfach geräumt, wenige Wochen später entstanden aber immer wieder neue Camps. Hauptsächlich wohnen Männer ohne Asylperspektiven dort, aber auch Frauen und Kinder.
Video ansehen 01:33Migrantenlager in Saint-Denis geräumt
Erst am Mittwoch hatte Frankreichs Innenminister Christophe Castaner angekündigt, die illegalen Zeltstädte noch vor Ende des Jahres zu räumen. Nach einem Ministerausschuss hatte die französische Regierung verschiedene Maßnahmen im Bereich Einwanderungspolitik bekanntgegeben und den Kurs verstärkt.
So soll Asylbewerbern erst nach drei Monaten Zugang zum allgemeinen Gesundheitssystem gewährt werden. Auch soll schneller abgeschoben werden und die Bearbeitungszeit der Asylanträge soll verkürzt werden. Premierminister Édouard Philippe betonte, es müsse ein „Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten bei der Migration“ geben.

DW 07.11.19

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Hilfsorganisationen schätzen, dass mehr als 3000 Menschen in den illegalen Zeltstädten im Norden von Paris leben. 1600 allein in den beiden Camps, die geräumt wurden. Einige der Migranten haben einen Asylantrag gestellt, hätten eigentlich Anspruch auf eine Unterkunft, sagt Véa La Vaillant von der Hilfsorganisation Utopia. „Aber alle Unterkünfte sind voll. Die Menschen haben das Recht, aber sie werden nicht untergebracht.“ Sie zweifle stark daran, dass von den Behörden auf einmal Platz für 1600 Menschen aus dem Hut gezaubert werden.

La Vaillant vermutet, dass die Menschen in provisorische Unterkünfte gebracht werden – zum Beispiel in Turnhallen. Das bestätigt auch die Polizeipräfektur der Stadt Paris. Wie lange die Menschen in den Turnhallen außerhalb von Paris bleiben können und was danach mit ihnen passiert? Diese Frage kann niemand beantworten. Trotzdem steigen die Geflüchteten freiwillig in die Busse. Alles ist besser als die Zelte, in denen sie seit Monaten gehaust haben.

„Drei Jahre habe ich hier geschlafen“, erzählt ein junger Mann aus Eritrea, der seinen Namen nicht nennen will. Ihm läuft die Nase, seine Hose ist zerrissen, seine Schuhe voller Löcher. Er steht an der Porte de la Chapelle, dem Camp neben der Auffahrt zur Pariser Ringautobahn Péripherique. Es ist der Ort, der das Elend der Migranten von Paris so verdeutlicht wie kaum ein anderer.

Es stinkt nach Exkrementen. Der Geruch von Plastik, das viele Geflüchtete in Lagerfeuern verheizen, brennt in der Nase. Neben den Menschen in ihren Zelten leben hier auch Drogenabhängige auf der Straße. Es ist der Hauptumschlagplatz für Crack.

„Immer wieder sind sie gekommen, haben uns weggebracht und wir sind wieder gekommen, wir müssen hier schlafen“, sagt der junge Eritreer. Geduldig wartet er darauf, in einen der großen Reisebusse zu steigen, die im Minutentakt leer vor- und dann vollbesetzt abfahren. Fast 1000 Menschen werden so von dem Flüchtlingscamp weggebracht.

Tagesschau 07.11.19

„Polizei räumt Zeltstädte in Paris“