Rund um die Uhr gehen beim Alarmphone Notrufe vom Mittelmeer ein. Marion Beyer ist von Anfang an dabei – und weiß wie es ist, wenn am anderen Ende der Leitung niemand mehr antwortet.

von Timo Dorsch

Mit Blick auf die ungebrochen dramatische Situation im Mittelmeer gibt es eigentlich keinen Grund, zu lächeln. Und doch lächelt Marion Beyer, als sie sagt: „Wir sind heute weiter als vor fünf Jahren.“ Damals, im Oktober 2014, schufen sie und 50 weitere Aktivist*innen das Alarmphone, eine ständig erreichbare Telefonnummer, die Menschen auf ihrer Flucht über das Mittelmeer anrufen können, sobald sie in Seenot geraten. Heute sind es über 200 von ihnen, die in Europa und Nordafrika im Acht-Stunden-Takt Schichten übernehmen, Notrufe annehmen, Seekarten studieren, und europäische Küstenwachen kontaktieren, damit diese den Schiffbrüchigen zu Hilfe eilen.

Das Alarmphone entstand aus der Einsicht in die Notwendigkeit. Ein Jahr zuvor hatten sich vor Lampedusas Küste zwei Schiffsunglücke ereignet, die das europäische Handeln nachhaltig prägen sollten. Am 3. Oktober 2013 ertranken 366 Somalier*innen und Eritreer*innen, nachdem ihr libyscher Kutter gekentert war. Acht Tage später erneut ein Unglück; 268 Menschen verloren ihr Leben. Beide Vorfälle waren weder die ersten, noch sollten sie die letzten bleiben. Aber sie waren einschneidend für Marion Beyer und ihre Mitstreiter*innen.

Weder die maltesischen noch die italienischen Behörden fühlten sich zum Zeitpunkt der Unglücke verantwortlich, erinnert sich Marion Beyer. Später trafen sich Aktivist*innen mit den Überlebenden. Unter ihnen befand sich auch ein Vater, der mit seinem Kind die gefährliche Reise angetreten und einen Hilferuf mit dem Handy abgegeben hatte. Niemand hatte auf diesen Notruf reagiert. „Uns wurde klar“, erinnert sich Marion Beyer rund sechs Jahre später beim Treffen in einem Hanauer Imbiss, „es braucht eine zivile Notrufnummer.“ Entscheidende Hilfe bekamen sie und ihre Mitstreiter*innen von dem in der Schweiz lebenden eritreischen Priester Mussie Zerai, dessen private Mobilnummer bereits seit den 2000er Jahren unter sich auf der Flucht befindenden Menschen zirkuliert und selbst in libyschen Lagern eingeritzt in Wänden vorzufinden ist.

„Eine NGO würde diese Arbeit nicht stemmen können. Wir sind 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche erreichbar. Es gab sogar welche, die uns davon abrieten“ rekapituliert Marion Beyer. „Wir wussten nicht einmal, ob es bei den Menschen, die sich auf den Weg machen werden, Anklang findet.“ Und doch taten sie es. „Es braucht immer eine Handvoll Leute, die sagen: egal, wir ziehen das jetzt durch.“ Hinter ihnen steht keine humanitäre Organisation, kein philanthropischer Financier und keine politische Partei. Es ist ein Netzwerk von unten, ein Zusammenschluss Gleichgesinnter, die mehr als nur ein bisschen Freizeit in das Projekt reinstecken. Wie viele Arbeitstage sie bereits verbuchen könne? Wieder dieses einnehmende Lachen: „Das darfst Du nicht fragen!“ Und weil es ein Netzwerk von unten für unten ist, greifen die Aktivist*innen dann auch in die eigene Tasche, um anstehende Ausgaben zu stemmen. So konnten sie in diesen fünf Jahren 2800 Booten bei ihrer Überquerung beistehen.

Über drei Routen versuchen die Menschen, über die See nach Europa zu kommen. Über das westliche Mittelmeer zwischen Marokko und Spanien, die zentrale Mittelmeerroute von Libyen nach Italien, und schließlich die Ägäis, ein Nebenmeer des Mittelmeeres, zwischen der Türkei und Griechenland.

Alle drei Routen werden in ständig wechselnder Intensität benutzt, wenn auch die westlichste Route die am schwächsten frequentierte ist. Dennoch wurde sie zur meist benutzten im vergangenen Jahr, als beim Alarmphone bis zu 90 Anrufe wöchentlich eingingen. Zurzeit überqueren die Menschen wieder vermehrt die Ägäis. „Es ist wie Kaffeesatzlesen. Die nächsten Entwicklungen sind nicht vorhersehbar“, lässt die Aktivistin durchblicken. „Es hat viel mit lokalen Bedingungen zu tun, mit Krieg und Entrechtung. Ebenso aber auch mit der Militarisierung des Mittelmeers und europäischen Abkommen mit diktatorischen Politikern.“ Dadurch würde sich die Gewichtung der Routen immer wieder verlagern.

Es gibt noch einen dritten Faktor. Die Migration besitzt eine Eigendynamik. Plötzlich entstehen Wege, die vorher nicht existierten. Das passiert dann zur Überraschung aller, von europäischen Regierungen bis hin zu antirassistischen Netzwerken. So entstand im Sommer 2015 die Balkanroute, über die mehr als eine Million Menschen den Weg nach Deutschland fanden.

Zeigte die Tragödie von Lampedusa den Schrecken der Flucht, versprachen damals die Züge der Hoffnung einen Aufbruch, der sich nicht nur auf das Leben der einzelnen Geflüchteten reduzieren ließ. Die Gesellschaft der Vielen nahm an den deutschen Bahnhöfen kurzfristig Gestalt an.

Jene Eigenständigkeit der Migration trägt dazu bei, dass zuletzt immer mehr afrikanische Migrant*innen die historische Sklavenroute in Kauf nehmen. Von Kamerun, Nigeria oder dem Senegal aus überqueren sie den Atlantik nach Brasilien und reisen über Land gen Norden weiter. Der Weg ist länger und keineswegs ungefährlicher. Seit Monaten sitzen Tausende, die über diesen Weg kamen, an der mexikanischen Südgrenze in Tapachula fest. Der Willkür der mexikanischen Behörden und dem Einfluss des US-Präsidenten ausgesetzt, entscheiden sich manche für einen kurzen Seeweg auf dem Pazifik, um zumindest ein paar Militärkontrollen zu vermeiden.

Seenotrettung: Das Ziel

Safinaz hat es geschafft. Über die Balkanroute kam sie nach Deutschland. Zuerst in einer Kasseler Notunterkunft untergebracht, lebt die syrische Künstlerin heute mit ihrer Familie in der hessischen Provinz. Um den Wirren des Krieges zu entkommen, floh Safinaz, deren wirklicher Name ein anderer ist, vor vier Jahren mit ihrem Mann aus Damaskus in die Türkei, um von dort die Reise über die Ägäis anzutreten.

„Auf dem Schlauchboot waren wir zu viele“, berichtet sie heute von ihrem neuen Zuhause aus. Der Motor stockte. Panik brach aus. „Jemand hatte eine Nummer auf seinen Arm geschrieben. Wir dachten, es sei die Küstenwache. Ich war die Einzige, die auf dem Handy Netz hatte.“ Also nahm sie per WhatsApp Kontakt auf. Nicht die Küstenwache, sondern jemand aus Deutschland vom Alarmphone antwortete ihr. Sie schickte die GPS-Daten des Bootes. „Wir waren noch zu nah an der Türkei, und noch zu weit von Lesbos entfernt. Wir wollten nicht von der türkischen Küstenwache abgeschleppt werden.“ Sie fingen an, mit ihren bloßen Händen Richtung Europa zu paddeln. Dann jedoch ließ sich der Motor wieder starten und die Gruppe konnte aus eigener Kraft an einem Strand auf Lesbos anlegen. Währenddessen blieb Safinaz unentwegt in Kontakt mit dem Alarmphone. „Wenn man ganz alleine ist, und niemand sonst da ist, dann ist das sehr schwierig. Für mich war der Chat damals so wichtig. Das Notruftelefon ist humanitäre Hilfe.“

Auch nachdem sie in Hessen angekommen ist, bricht die Kommunikation nicht ab. Vor zwei Jahren kam es zu einem persönlichen Treffen. Die Aktivistin vom Alarmphone, die damals Safinaz und Dutzenden weiteren via Chat beistand, war Marion Beyer.

Alarmphone: Warum tun die das?

Warum sie all das auf sich nimmt? Marion Beyer ist anzusehen, wie sie hin- und hergerissen ist zwischen Aufrichtigkeit und Entschlossenheit, aber auch Wut: „Weil wegschauen schwieriger ist als sich einzumischen“, wird sie dann sagen. Einen Augenblick später schiebt sie hinterher: „Das Schwierige ist dann, wenn die Ohnmacht da ist. Wenn niemand mehr antwortet. Oder ein Kind stirbt. Dann habe ich immer die Hoffnung, dass die Person am anderen Ende sich irrt.“ Kurze Stille. „Man vergisst es nicht, wenn es nicht klappt. Wenn dann nur noch Tote geborgen werden.“

Hin und wieder organisieren sie auf Lesbos eine Gedenkveranstaltung zusammen mit Leuten vor Ort. Es sind Momente des Innehaltens. Die Zeremonien beenden die Aktivist*innen jeweils mit dem Versprechen, mit ihrer Arbeit nicht aufzuhören, bis das Sterben im Mittelmeer ein Ende nimmt. Marion Beyer hat in einem solchen Moment erkannt: „Von allem gibt es Bilder, sogar Live-Aufnahmen. Man kann den Menschen beim Ertrinken zusehen.“ Für sie steht fest: „Heute kann niemand mehr sagen, von nichts gewusst zu haben.“

Frankfurter Rundschau | 21.01.2020

„Seenotrettung: Chatten, um Leben zu retten“