Die Dynamisierung der Kanalroute und die Radikalisierung ihrer Bekämpfung

Über 4.000 Menschen sind seit Jahresbeginn auf über 300 kleinen Booten durch den Ärmelkanal nach Großbritannien eingereist. Vierzig Prozent der Passagen erfolgte seit dem 1. Juli, über 1.000 allein im Juli. Wenn die Situation anhält, werden in diesem Sommer so viele Passagen gelungen sein wie im gesamten Zeitraum seit der Etablierung der Kanalroute im Herbst 2019. Dies markiert einen bisherigen Höhepunkt der channel crossings und lassen die Dynamik dieser bislang wenig beachteten innereuropäischen Migrationsroute zu Tage treten. Zugleich radikalisiert die britische Regierung ihre Grenzpolitik und wird möglicherweise das Militär einsetzen. Wir verfolgen diese Dynamiken seit der Gründung des Blogs (siehe hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier) und werden sie weiter ausleuchten. Hier ein Überblick über die vergangenen Wochen.

Gehen wir zunächst zurück an den Anfang dieser Dynamisierung.

Zu diesem Zeitpunkt, also Ende Juni 2020, hatten etwa 2.400 Menschen den Kanal auf kleinen Booten passiert, damals schon mehr als im gesamten Vorjahr. Obschon dies im Gesamtgeschenen der Migration nach Großbritannien nur eine verschwindende Rolle spielte und weniger als ein Prozent der jährlichen Einwanderung ausmacht, wie der BBC-Journalist Dominic Casciani kürzlich anmerkte, waren die channel crossings bereits 2019 zu einem innenpolitischen Reizthema geworden. Seine außenpolitische Dimension wurde nun ebenfalls deutlich.

Im vergangenen Herbst hatten die Innenminister beider Staaten angekündigt, dass sie die Frequentierung der Kanalroute bis zum Frühjahr reduzieren und die Schmugglernetzwerke zerschlagen würden. Spätestens im Frühjahr war das Scheitern dieser Politik offensichtlich. Am 1. Juli zitierte die BBC den früheren Interims-Direktor der britischen Border Force, Tony Smith, mit der Einschätzung, alle bisherigen Anstrengungen der Behörden beiderseits des Kanals seien an der Realität der channel crossings gescheitert. Smith plädierte für ein neues zwischenstaatliches Abkommen „that would enable us to return people, once we have established they are safe and well“. Wesentlich ist in unserem Kontext weniger der Ruf nach einer neuen zwischenstaatlichen Regelung des Grenzregimes, sondern eine Einschränkung, die Smith vornahm. Denn er lehnte Pushbacks auf hoher See ab, da sie ohne die Gefährdung von Menschenleben nicht durchführbar seien. Im gleichen BBC-Beitrag kam auch Staatssekretär im britischen Innenministerium Chris Philip zu Wort. Er erklärte, die Regierung arbeite an einer Revision aller gesetzlichen Regelungen „that prevent us from taking stronger action to stop illegal migration.“ Beide Aussagen werden uns wieder begegnen.

Als die britische Innenministerin Priti Patel am 12. Juli in Calais mit ihrem neuen französischen Amtskollegen Gérald Darmanin zusammentraf und einen „new operation approach“ ankündigte, vereinbarten beide Seiten lediglich die Einsetzung eines gemischten Teams von sechs britischen und sechs französischen Beamten zur Bündelung von intelligence zur Bekämpfung des Schleuserwesens. Es war offensichtlich, dass zwischen beiden Staaten kein Konsens über ein Abkommen zur Rücknahme der Bootsflüchtlinge erreichbar war. Stattdessen präsentierte Darmanin der britischen Ministerin die im Vorfeld des Treffens durchgeführten Zerstörungen der Calaiser Camps als Maßnahme zur Eindämmung der crossings (siehe hier, hier und hier). Ironischerweise verzeichnet die Statistik für den gleichen Tag einen Hochstwert von 180 Personen, die Großbritannien innerhalb eines Tages erreicht hatten, wobei rund 200 weitere Personen von den französischen Behörden abgefangen worden waren (vgl. BBC am 12.7. und 13.7.).

„French authorities are not intercepting boats at sea… even boats that have just left, that are 250 yards or so away“, erklärte Patel laut BBC wenige Tage später und übernahm damit einen u.a. von britischen Rechtsradikalen erhobenen Vorwurf. Sie sprach von „difficult discussions“ mit Darmanin und davon, „how boats can be returned safely“. Boats. Nicht people, once we have established they are safe and well, wie es bei Smith unter Verweis auf die Gefährdung von Menschenleben bei Pushbacks auf See geheißen hatte. […]

JungleofCalais | 08.08.2020

„Sommer der Passagen“