1.

In einem Beitrag zur causa Mbembe hat Michael Pesek, der sich mit der deutschen Kolonialgeschichte ausgiebig beschäftigt hat, wohl zu Recht darauf verwiesen, dass sowohl die Diskurstheorie wie auch der postkoloniale Diskurs der Wirklichkeit der postkolonialen Staatlichkeit in vielen Regionen Afrikas nicht entsprechen, und schon gar nicht im Sahel.[1]Michael Pesek, Was weiß der Postkolonialismus vom Kolonialismus?, FAZ 04.05.2020 Algerien war sicherlich die große Ausnahme. Achille Mbembe habe sich auf Fanon bezogen, aber er habe dem postkolonialen Staat in Afrika in Du gouvernement privé indirect  keinerlei Totalität zugesprochen, sondern vielmehr die Mächtigen des heutigen Afrikas mit einem brutalen, aber auch lächerlichen Behemoth verglichen. „Herrschende und Beherrschte sind in einem grotesken Wechselspiel verbunden.“

Mbembe ist nicht zuerst ein postkolonialer Theoretiker, sondern auch ein Autor, der einen schwarzen Kosmopolitanismus beschrieben und quasi herbeigeredet hat[2]Achille Mbembe, The New Africans, Between Nativism and Cosmopolitanism (2002), in: Peter Geschiere et al., Readings in Modernity in Africa, Bloomington 2008, S. 107 und es wäre allein schon in dieser Hinsicht ein großer Verlust, wenn seine klugen Interventionen im Strudel der Kritik an BDS, welches als Antisemitismus gezielt missverstanden wird,  beschädigt werden würden.

Im gleichen Jahr wie Mbembe hat, wie Pesek weiter schreibt, auch der amerikanische Politikwissenschafter Jeffrey Herbst ein Buch über den Staat in Afrika veröffentlicht.[3]https://en.wikipedia.org/wiki/States_and_Power_in_Africa:_Comparative_Lessons_in_Authority_and_Control

„In dieser Sichtweise auf den kolonialen Staat folgten in den nächsten Jahren viele Historiker. Für den Gegensatz von absoluter Macht, die der koloniale Staat für sich beanspruchte, und den geringen Ressourcen für die Umsetzung dieser Ansprüche hat der Historiker Frederik Cooper das Bild der Insel geprägt. Nur an einigen Orten konnten die Europäer eine wirkliche Kontrolle über die Afrikaner etablieren: in den kolonialen Ballungszentren, in Minen und Plantagen und in der Kaserne.“

Es geht hier nicht darum, ob die Historiker*innen gegenüber den Literaturwissenschaften in den akademischen Debatten wieder etwas Gleichgewicht gewinnen, aber wir sollten uns erinnern, dass sowohl Spivak wie auch Mbembe sich im Ursprung mit konkreten historischen Themen des antikolonialen Widerstands auseinandergesetzt haben. Eine gebührliche Auseinandersetzung mit Autor*innen wie Cooper, Mbembe oder Spivak ist ohnehin nur möglich, wenn wir den konkreten Versuch, uns an die Seite der Verlorenen zu stellen, nicht aufgeben.

2.

Wir haben in einem der letzten Posts auf das Werk von James Scott verwiesen – seit den frühen 80er Jahren waren wir von seiner Übertragung der Thompsonianischen „Moral Economy“ auf Südost-Asiatische Verhältnisse inspiriert[4]https://en.wikipedia.org/wiki/The_Moral_Economy_of_the_Peasant:_Rebellion_and_Subsistence_in_Southeast_Asia und sind auch seiner Anregung, anders als ein Staat zu denken, gern gefolgt.[5]https://en.wikipedia.org/wiki/Seeing_Like_a_State Es erscheint uns sinnvoll, an Scott, Mbembe, Herbst, Cooper anzuschließen und  die missglückte Staatlichkeit im Sahel in der Debatte über MINUSMA stärker zu betonen.

Versuchen, die Dinge nicht wie ein Staat zu sehen. Territorialstaaten Typ 1648 sind im Sahel keine Friedenslösung. Und die Militärmissionen Europas und der USA sind, wie der französische Politikwissenschaftler Marc-Antoine Pérouse de Montclos erklärt, schädlich:

Der Krieg ist nicht zu gewinnen, denn das Grundproblem ist kein militärisches. Die Lösung ist in erster Linie politisch, denn das Grundproblem ist schlechte Regierungsführung und die Unfähigkeit der Staaten, Konflikte anders als durch Repression zu lösen. […] Im Moment hält die internationale Gemeinschaft korrupte und oft autoritäre Regime künstlich an der Macht. Militär- und Finanzhilfe ermutigt nicht zu Reformen, sie ist eine Art Lebensversicherung für diese Regime.[6]„Der Krieg ist nicht zu gewinnen“: Interview mit Marc-Antoine Pérouse de Montclos. In: taz, 09.03.2020

Vor fünf Jahren hat der US-Afrikanist Gregory Mann ein Buch unter dem sprechenden Titel veröffentlicht: From Empires to NGOs in the West African Sahel. The Road to Nongovernmentality. [7]Gregory Mann (2015), From Empires to NGOs in the West African Sahel. The Road to Nongovernmentality. Cambridge University Press Während der Hungerkatastrophe 1973-74 seien die NGOs als formatives Moment der internationalen Politik in Erscheinung getreten und hätten dem Sahel ein neues Gesicht gegeben. Mann beschreibt dies anhand des Verkehrs in der Nähe einer Straßensperre:

Whatever “government” is on these roads, it is stationary, present at the border crossings between administrative districts, absent for long stretches, immobile. Take your motorbike; gendarmes and customs agents will wave to you as you pass. It’s the NGOs that are on the move. They are visible, powerful, and appear to be unstoppable. […]
Empirically, the Sahel is characterized by mobility: human, pastoral, essential. Seen from the outside, it is bound by poverty, stitched together by foreign aid and interventions, and held in the loose grip of more or less feeble states. This perception is not new. It is, however, inadequate. Closer to the mark is the idea that in countries such as Mali and Niger, „aid functions like a form of govern-mentality“, manipulated by states and NGOs alike.

Den nächsten Einbruch in der Geschichte der postkolonialen Sahelstaaten markierte der Einmarsch der französischen Truppen im Januar 2013, die der Bamako-Regierung gegen die Aufstände im Norden Malis zur Hilfe kamen und den Sahel bis heute nicht wieder verlassen haben. Die UN-Mission MINUSMA sollte die französische Operation Sérval mit 11.000 Soldaten absichern; hinzu kommen von Seiten Europas die EUCAP Sahel und EUTM Mali als Hilfen beim Aufbau eines malischen Militärs.

Seit 2015 und im Zusammenhang der Externalisierung der europäischen Abschottungspolitik haben die französischen Fremdenlegionäre der Operation Barkhane, in Zusammenarbeit mit MINUSMA und G5-Sahel einen Bedeutungswandel erfahren, der als Kombination von Migrationskontrolle und Counterinsurgency beschrieben werden kann. In der Tat operiert G5-Sahel ausschließlich in den Grenzzonen zwischen den Sahelstaaten;[8]https://migration-control.info/wiki/g5-sahel/ besonders die Soldaten aus dem Tschad sind dort eine der marodierenden Kriegsparteien.

Das Zusammenspiel von MINUSMA, Operation Barkhane und G5-Sahel wird übrigens derzeit von der US-Regierung hinterfragt, die einen Amerikaner an die Spitze von MINUSMA stellen und den Einsatz limitieren möchte:

The French want to adapt the mission and expand its mandate to support operations beyond Mali’s border, an initiative that comes with greater costs, officials familiar with the matter said. But the Trump administration – which have shown greater skepticism toward the U.N. and tried unsuccessfully last year to shave 2,000 troops from the Mali mission – is expected to renew its campaign to cap costs and troop levels, several U.S. officials familiar with the matter said. The United States wants to advance a plan in which the mission has clear-cut benchmarks for success and a timetable to wind down operations without expanding the mission’s budget, U.S. officials said.[9]https://foreignpolicy.com/2020/05/21/trump-united-nations-terrorism-threat-west-africa-united-states-minusma-sahel-counterterrorism-mali/

3.

Wir haben vor drei Tagen in einem Post, Militärmassaker an Zivilbevölkerung als Counterinsurgency, ein Interview mit Helmut Asche zitiert, in welchem dieser die Aufrechterhaltung der Unsicherheit als strategische Option sowohl der Staaten wie auch der Milizen beschreibt.

[…] es sind sich praktisch alle Fachleute einig, dass die [Militär-]Interventionen nicht erfolgreich sind, weil sich die Armeen in Mali, im Niger und in Burkina Faso Teile der Bevölkerung selbst zum Feind machen. Sie operieren in den Konflikten dort straflos mit ethnischen Tötungen, vor allem von Menschen, die vermeintlich Angehörigen der Fulbe und der Tuareg sind. Wir stellen uns damit [mit der Verlängerung des Bundeswehr-Einsatzes] an die Seite von Armeen, die Konflikte bewusst verschärfen. Ich sage bewusst, weil es offensichtlich in allen drei Ländern Kräfte gibt, die an der Ethnisierung der Konflikte durch den Einsatz von Armee und Milizen interessiert sind.

Das heißt, mit der militärischen Unterstützung gießen Deutschland, Frankreich und die Europäische Union zusätzlich Öl ins Feuer?

So ist es, wenigstens mit der einen Hand. Zudem hat etwa die malische Armee, also vor allem die Armeeführung und das höhere Offizierskorps, gar kein Interesse daran, das Gewaltmonopol im Lande wiederherzustellen und Konflikte zu beenden. Die Armee in Mali – und das gilt wohl auch für das Militär in Burkina Faso und im Niger – ist im Wesentlichen ein Instrument, um Finanzmittel und Hilfe aus dem Ausland einzustreichen. Deshalb funktioniert auch das Friedensabkommen von Algier der malischen Regierung mit einigen Tuareg-Gruppen im Norden des Landes aus dem Jahr 2015 nicht: Weder die Regierung noch diese Gruppen sind daran interessiert, dass das Abkommen umgesetzt wird. Der jetzige Schwebezustand hilft beiden Seiten, weiter Unterstützung zu fordern. Obendrein ist das Abkommen in sich umstritten. Das sagen alle Analysen übereinstimmend, nur bei den Bundestagsabgeordneten ist es noch nicht recht angekommen.[10]https://www.welt-sichten.org/artikel/37767/bundeswehr-mali-wir-verschaerfen-den-konflikt

Unsicherheit ist ein Medium der Transformation und der Modernisierung. Unsicherheit wird geschürt, Tote werden produziert, Menschen vertrieben, nicht nur um Agrarland frei zu machen, sondern auch um den Ruf nach Ordnung, irgendeiner Ordnung, zu provozieren und Finanzzuflüsse zu generieren. Counterinsurgency ist das Spiel mit Verunsicherung. Gegenüber den eher aggressiven Fremdenlegionären und den Soldaten aus dem Tschad ist MINUSMA vielleicht ein schwaches Korrektiv – eines, welches das Geschäft legitimiert und abschirmt.

Die Mali-Kommission von AEI hat auf die Kritik der IMI an einem Vortrag von Olaf Bernau vor dem Bundestagsausschuss, welcher die Fortführung von MINUSMA befürwortete, ausführlich geantwortet[11]https://afrique-europe-interact.net/1832-0-Aktivitten-Europa.html und darauf verwiesen, dass Mehrheiten der Bevölkerung und insbesondere auch Angehörige der Linken in Mali die Präsenz der MINUSMA befürworten würden und dass das Militär in Mali und Niger – anders als im Tschad, in Nigeria oder Togo – das Vertrauen der Bevölkerung genieße. In der zitierten Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung wurden knapp 2.000 Personen in Bamako und den Provinzhauptstädten interviewt – die 60 Prozent der Bevölkerung, die nicht urbanisiert sind, wurden also nicht gefragt.[12]http://www.fes-mali.org/images/Rapport_Final_Malimetre_N11_Site.pdf; https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Urbanisierung Die Mitarbeiter*innen der FEST legitimieren mit solchen Daten ihre zweifelhafte Anwesenheit in Mali, während die positiven Umfragewerte für die malische Armee in den Städten wesentlich der Tatsache geschuldet sein dürften, dass diese Armee ineffizient ist und durch Gefälligkeiten und Benzinabzweigungen mit Teilen der Bevölkerung verbunden ist. Die FEST reproduziert die staatsfernen Räume, die Jeffrey Herbst beschrieben hat. Die Sympathie für die Armee steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Kampfkraft. Nur leider wollen die Europäer mit EUCAP Sahel und EUTM Mali die malische Armee zu einer Killing Force machen und sie dem Volk entfremden.

Was den Zusammenhang von postkolonialem Staat und Armee angeht, sollten wir auf den Ausgangspunkt zurück kommen. Die Eindrücke von Jeffrey Herbst und Gregory Mann sind ja nach wie vor valide: die Abwesenheit des postkolonialen Staats in einer immensen Fläche und auch die Abwesenheit der NGOs in vielen Regionen. Die Fremdenlegionäre geistern durch unbekanntes Gelände. Gouvern-mentalité ist fake. In vielem ähnelt die Situation im Sahel dem vor-revolutionären Russland. Die Aktualität der Moral Economy, Mobilität und Konnektivität, der Erfindungsreichtum und die Emanation der „New Africans between Nativism and Cosmopolitanism“ werden für die Entwicklungen der Zukunft entscheidend sein. Die Auflösung der regionalen Macht- und Gewaltstrukturen, Interessenkonflikte, Generationenkonflikte wird nur regional und von unten her möglich sein. Können dabei auch traditionelle Formen des Interessenausgleichs eine Rolle spielen?[13]https://www.clingendael.org/publication/legitimacy-traditional-authorities-mali-niger-and-libya; https://www.clingendael.org/publication/malian-customary-justice-and-international-human-rights Vielleicht, aber darüber haben wir nicht zu entscheiden. Wenn es je gelingen könnte, einen Weg der Entwicklung jenseits der Staatlichkeit zu erfinden, dann steht das in Afrika jetzt an.

Warum setzt AEI auf das Militär, und ausgerechnet auf die G5-Sahel-Truppen, mit seinen französischen Befehlsketten und wo sich die Marodeure aus dem Tschad tummeln? Die Einschließung der Menschen in Staatsgrenzen und Flüchtlingslagern ist einer der Faktoren ihrer Schutzlosigkeit. Warum nicht in dieser Situation den Gedanken an Nicht-Staatlichkeit, No Border und Selbstorganisation der Menschen selbst zum Ausgangspunkt nehmen? Und auch die Rolle der NGOs immer wieder hinterfragen?

Staatlichkeit und Militär: Weitere Anmerkungen zur MINUSMA-Debatte

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