Das Africa Yearbook (2017) charakterisiert den Tschad wie folgt:

Déby’s regime remained superficially stable by keeping to its practice of frequently changing its top personnel. Relative peace prevailed in the heartland of the country. Effective repression by a heavily militarised regime with additional military support from France and the US managed to control insurgent movements in northern Chad/Southern Libya.[1]Africa Yearbook Online: Chad, Vol 14, 2017

Die Liste bewaffneter Rebellionen gegen die Militärdiktatur in N’Djamena ist lang.[2]Zur Geschichte des Nord-Süd-Konflikts im Tschad siehe Helga Dickow, https://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/176525/tschad In der letzten Zeit haben bewaffnete Konflikte um den Goldabbau im Tibesti-Gebirge an Intensität zugenommen. Friedensschlüsse haben in der Vergangenheit wiederholt dazu geführt, dass Milizen in die “reguläre” Armee integriert wurden. Die nomadischen bzw. halbnomadischen Tubu-Gesellschaften von Händlern, Viehzüchtern und Dattelpalmenwächtern im Norden des Tschad, deren Netzwerke die Grenzen nach Sudan, Libyen und Niger weit überschreiten, führen gewissermaßen ein Doppelleben: einerseits verteidigen sie ihre regionale Autonomie und ihre Lebensweise, andererseits verstehen sie es, aus der Koexistenz mit dem Militärregime bestmöglich Nutzen zu ziehen. Brachet und Scheele beschreiben eine spezifische Situation der “Remoteness”,[3]Brachet, Julien und Judith Scheele, Remoteness is power: disconnection as a relation in northern Chad, Social Anthropology/Anthropologie Sociale (2019) 27, 2 156–171 die es den Tubu-Männern erlaubt, je nach Situation eine Rolle als Händler oder als Berater, als Miliz oder als Militär zu übernehmen.

Als der heutige Tschad im Jahre 1920 zur französischen Kolonie wurde, ging es um den Anbau von Baumwolle und um die Extraktion von Arbeitskraft aus dem “Chad utile”, dem südlichen Drittel des Tschad, während die Sahelzone und die Sahara weitgehend sich selbst überlassen blieben. Seit der formalen Unabhängigkeit, 1960, wird das Land diktatorisch von Fort Lamy, heute N’Djamena, aus militärisch in Schach gehalten. Bis 1990 prägten Rebellenkriege, wechselseitig unterstützt aus Libyen, dem Sudan und aus Frankreich, das machtpolitische Geschehen. 1986 wurde die erste französische Militärbasis in N’Djamena eröffnet, 1990 übernahm der Militärbefehlshaber Idriss Déby die Macht.

In den Jahren 2005 bis 2010 konnte Déby seine Position gegen mehrere Rebellenbewegungen verteidigen; diese Kämpfe überschnitten sich mit den Fluchtbewegungen aus Dafur und den Übergriffe der sudanesischen Janjaweed Milizen im Grenzgebiet. Durch ein Arrangement mit Gaddafi konnte Déby weite Zonen der nördlichen Landesteile gegen die Tubu unter Kontrolle halten. Das gelang, mit französischer Hilfe, auch nach dem Sturz Gaddafis.

2013 in der Opération Serval zur Vertreibung von islamistischen Rebellen aus dem Norden Malis, 2015 in Nigeria gegen Boko Haram, als drittgrößter Truppensteller in der aktuellen Blauhelm-Mission in Mali (Minusma) mit 1.392 Soldaten und als wichtiger Akteur in der G5-Sahel ist das Militär des Tschad zum “Herzstück der französischen Herrschaft über den Sahel” geworden. Seit 2018 kooperiert das Déby-Regime mit der französischen Operation Barkhane; im Gegenzug bombardiert Frankreich von N’Djamena aus “Söldner und Terroristen“, der tschadischen Oppositionsbewegung UFR (Union der Widerstandskräfte).[4]https://www.taz.de/!5567423/, https://de.wikipedia.org/wiki/Streitkr%C3%A4fte_des_Tschad Im letzten Jahr konnte Déby sich faktisch als Diktator auf Lebenszeit installieren. Schon 2016 wurde seiner Frau und den Kindern sicherheitshalber die französische Staatsangehörigkeit verliehen.

30 Prozent des tschadischen Staatshaushalts gibt dieser für den Sicherheitssektor aus. Die Armee des Diktators gilt als die Brutalste in den französisch gelenkten internationalen Militäreinsätzen im Sahel.[5] https://ffm-online.org/tschad-der-wind-der-sudanesischen-revolte/?highlight=Tschad

Die Ökonomie des Tschad ist die Ökonomie seines Militärs. Dabei geht es nicht allein um die Extraktion von Werten aus Raub und Vertreibung. Ähnlich der sudanesischen RSF hat das Regime den Verkauf von militärischen Dienstleistungen, von “Sicherheit” und Gnadenlosigkeit zum Geschäftsmodell machen können.

Dabei entwickelt sich ausgerechnet der Tschad gerade zum Geberliebling. Im aktuellen Entwicklungsfonds der Europäischen Union waren für den Tschad anfangs 442 Millionen Euro veranschlagt. Die Summe wurde mehrfach aufgestockt und liegt seit der Geberkonferenz von Paris im September (2018) bei 925 Millionen Euro. Doch nicht nur das: Nach den Verhandlungen erklärte Präsident Idriss Deby, der seit 1990 an der Macht ist, vor Medienvertretern, Zusagen über insgesamt 15,2 Milliarden Euro erhalten zu haben.[6]https://www.fr.de/politik/bitterarm-unfrei-11002481.html

Die Tubu und das Gold

Die International Crisis Gruop hat im Mai einen Report veröffentlicht,[7]ICG, Tchad : sortir de la confrontation à Miski. Rapport Afrique de Crisis Group N°274 | 17 Mai 2019 der die aktuellen Auseinandersetzungen im Tibesti-Gebirge, an der Grenze zu Libyen, als lokale Mobilisierung der dortigen Bevölkerung unter starker Beeinflussung durch die Kriegs- bzw. Aufstandsereignisse in Libyen, im Sudan und im Tschad selbst beschreibt. Die ICG empfiehlt dem tschadischen Regime wie auch Frankreich und der EU, auf eine sofortige lokale Befriedung Tibestis hinzuwirken, da andernfalls die wütende Lokalbevölkerung sich einer rebellischen Mobilisierung zum Sturz des tschadischen Regimes anschließen könnte.

Die ICG beschreibt Tibesti als Gebiet, deren Bevölkerung in der Geschichte nie eine Beherrschung „von außen“, hier: durch die tschadische Militärdiktatur, geduldet hat. Gleichwohl hat es über viele Jahre eine lose, volatile Allianz der Teda [hier im Text eine Untergruppe der Tubu; in anderen Texten als Synonym zu Tubu gebraucht] mit dem tschadischen Regime gegeben. Sogar das neue Grenzregime des Tschad gegenüber Libyen sei von ihnen mitgetragen worden, obwohl sie verwandtschaftliche und ökonomische Beziehungen zu den Tubu im Fezzan haben.

In den letzten Jahren haben sich die ethnischen und politischen Allianzen im nördlichen Tschad und im südlichen Libyen verändert. Dazu haben verschiedene Faktoren beigetragen, wie das Vorrücken der Haftar-Truppen mit panarabischer und nationaldiktatorischer Charakteristik, das Zerfallen der heterogenen militärischen Bündnisse, auf das sich das Tschadregime stützt, und schließlich auch der internationale Antiterrorismus: Wie die ICG ganz zum Schluss aufführt, sollen demnächst G5-Sahel-Truppen in Tibesti stationiert werden, und zwar tschadische Spezialeinheiten. Mit dem Näherrücken dieses Termins wandelt sich die tschadische Staatssprache: Tibesti wird jetzt als ein „Nest der Milizen, der Sklaverei, der Söldner, des Terrors“ denunziert.

Die Entdeckung von Goldminen in Tibesti im Jahr 2012 hat wie ein Katalysator dieser Entwicklungen gewirkt. Tschadische, sudanesische und libysche Rebellengruppen haben dort Abteilungen zum Goldschürfen am Arbeiten. Die Lokalbevölkerung geriet immer wieder in Konflikt mit den Auswärtigen, die diesen geförderten Reichtum wegschleppen, und haben öfter nach dem Einsatz der Armee und nach einem kontrollierten industrialisierten Schürfregime gerufen. Die tschadischen Spezialeinheiten, die eintrafen, sind dann aber übergelaufen und haben sich ihrerseits mit Eifer am Goldschürfen beteiligt. Im zweiten Halbjahr 2018 begann die Eskalation. Das Tschadregime bombardierte Minen aus der Luft, auch Zivilist*innen kamen um, und entriss die Goldminengegend um Miski der Tibesti-Provinz. Sie wurde der Nachbarprovinz unterstellt, die geringere Anteile an Teda-Bevölkerung hat.

Daraufhin transformierten sich die Dattelpalmenwächter in bewaffnete Selbstverteidigungskomitees, ca. 400 Mann, von der Teda-Bevölkerung getragen. Das Tschad-Regime schickte die bestausgerüsteten, gefürchteten Spezialeinheiten, die sie hat. Sie wurden in einem wenige Monate dauernden Guerillakrieg aufgerieben und zogen sich zurück. In der Hauptstadt werteten die Militärspitzen des Regimes dies als eine empfindliche Niederlage, die sich auf die militärische Kohäsion des Tschad auswirkt. In den letzten Monaten hat das Tschadregime einen militärischen Blockadering im Abstand von 100 Kilometer um Miski herum aufgebaut. Kein Verkehr kommt zu Lande mehr durch. Außerdem zerstört das Tschadregime die Brunnen der Gegend und kündigt an, die Region unbewohnbar zu machen. Die ICG weist auf die Folgen hin: Bislang ging es den Teda um lokale Probleme in Tibesti. Sollte die Eskalation an Fahrt gewinnen, dann entstehen daraus zwangsläufig neue Rebellionen gegen das Militärregime.

Schließlich ist die Arbeitsmigration zu den Goldfeldern im Tibesti-Gebirge, über die wir nahezu nichts wissen, zu einem Ersatz für die unterbrochene Migration nach Libyen geworden. In der oben ICG-Analyse gibt es vereinzelte Hinweise darauf, welche große Bedeutung das Goldschürfen für die lokalen Jugendlichen und sogar für sudanesische Flüchtlinge hat. Werden diese künftig keine Arbeit im Goldabbau mehr finden können, dann werden sie (wieder) nach Libyen aufbrechen.

Tschad, Teil 2: Ausnahmezustand, Ökonomie der Vertreibungen

Tschad, Teil 1: Die Tubu und das Militär

Fußnoten

Fußnoten
1Africa Yearbook Online: Chad, Vol 14, 2017
2Zur Geschichte des Nord-Süd-Konflikts im Tschad siehe Helga Dickow, https://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/176525/tschad
3Brachet, Julien und Judith Scheele, Remoteness is power: disconnection as a relation in northern Chad, Social Anthropology/Anthropologie Sociale (2019) 27, 2 156–171
4https://www.taz.de/!5567423/, https://de.wikipedia.org/wiki/Streitkr%C3%A4fte_des_Tschad
5 https://ffm-online.org/tschad-der-wind-der-sudanesischen-revolte/?highlight=Tschad
6https://www.fr.de/politik/bitterarm-unfrei-11002481.html
7ICG, Tchad : sortir de la confrontation à Miski. Rapport Afrique de Crisis Group N°274 | 17 Mai 2019