Die TAZ vom 15.012019. bringt eine Reportage über die Passagen über den Ärmelkanal.

Gleich hinter den Lichtern von Calais taucht die Silhouette der Hügel auf. Vage erkennt man, wie sich Klippen aus dem Meer erheben. Kurz streift der Kegel des Leuchtturms über die Küste, dann versinkt sie wieder im Dunkeln. Eine Fähre schiebt sich hin­aus in den Kanal. Die einsame Küste rund um Cap Gris-Nez bleibt in tiefem Schwarz zurück, aus dem hier und da Positionslichter von Schiffen leuchten.

Irgendwo dort, an einem der verlassenen Strände, könnte in dieser Nacht ein Boot in See stechen. Ein Schlauchboot mit ein paar Verzweifelten in Schwimmwesten an Bord, das ungesehen Kurs auf England nimmt. So wie die knapp 250 Menschen, die meisten aus dem Iran, die im Dezember versucht haben, die 40 Kilometer nach Großbritannien in kleinen Booten zurückzulegen. Allein an Weihnachten wurden 40 Personen aus britischen Gewässern gerettet, so viele wie nie zuvor an einem Tag.

Was Menschen dazu bringt, sich nachts in Nussschalen auf den Kanal zu begeben, dieser Wasserstraße mit täglich 400 passierenden Schiffen, gefährlichen Strömungen und eiskaltem Wasser? Antworten darauf findet man zwischen einigen Dutzend windschiefen Zelten, die auf einem Stück Brachland am Rand von Calais aufgestellt sind. Es ist ein dunstiger Morgen Anfang Januar. Dick eingepackte Gestalten bewegen sich langsamen Schritts zwischen den Zelten. Am Gitter der benachbarten Speditionsfirma hängen Kleidungsstücke, die bei dieser Witterung doch nicht trocknen.

Vorne an der Straße kauern fünf Männer um ein Feuer herum. Alle kommen sie aus dem Iran, wie viele derer, die auf diesem Acker einen erbärmlichen Unterschlupf gefunden haben. Freiwillige Helfer haben soeben Essen vorbeigebracht: Plastikschalen mit Kartoffeln und Huhn in roter Sauce. Die Männer sind in den 20ern und 30ern. Manche von ihnen sprechen Deutsch – ein Überbleibsel eines gescheiterten Versuchs, in Deutschland ein neues Leben zu beginnen. Der Jüngste von ihnen erzählt, sein Asylantrag sei in Oldenburg abgelehnt worden.

Monatelang sind sie schon hier, in dieser Stadt, deren inoffizielle Flüchtlingslager so oft geräumt wurden und doch immer wieder neu entstehen. Auf Iraner trifft man in Calais schon seit vielen Jahren, doch nicht so zahlreich wie in diesem Winter. Offenbar sind viele von ihnen über Belgrad nach Europa gekommen, nachdem die serbische Regierung 2017 vorübergehend die Visumspflicht für Iraner aufhob. Und es scheint, dass aus dieser Gruppe jene kommen, die den Schleusern 2.000 Euro oder mehr für einen Platz auf einem Boot zahlen können. Die fünf Männer am Feuer gehören nicht dazu. „Die Boote sind zu teuer für uns“, sagt einer resigniert. „Aber wenn es eine Chance gäbe, ich würde es machen.“

Das Gleiche gilt für Vahid, einen schmächtigen Mann von Ende 20. Seinen richtigen Namen will er nicht in einer Zeitung veröffentlicht wissen. „Zwei-, dreimal sagten mir Leute: ‚Wenn du Geld hast, komm mit uns!‘“ 1.000 oder 2.000 Euro sollte die Überfahrt kosten. Man macht einen Abfahrtspunkt aus, sagt Vahid, und dann beobachten die Schleuser die Lage ein, zwei Wochen lang, um den richtigen Termin festzulegen. Vahid will mit Schleusern eigentlich nichts zu tun haben, und den Preis kann er sich ohnehin nicht leisten. Aber probieren, sagt er, würde er es doch.

An diesem Morgen ist Vahid unterwegs ins Stadtzentrum. Er will zu einem Camp, wie er sagt – eine Einrichtung im Hinterland, wo Migranten duschen und ihre Kleidung waschen können. Der Bahnhof liegt eine gute halbe Stunde zu Fuß entfernt. Unterdessen erzählt er, dass er einst Fußballprofi werden wollte und in der Jugend des iranischen Erstligisten Esteghlal Ahvaz kickte. Er habe Angst gehabt, während seines Militärdienstes in irgendeine unsichere Grenzregion geschickt zu werden. Also versteckte er sich, was ihn die Profikarriere kostete. Später, so sagt Vahid, sei er Christ geworden und habe beschlossen, das Land zu verlassen.

Auch Vahids Asylantrag wurde in Deutschland abgelehnt. Sein in London lebender Bruder habe ihm geraten: „Wenn du ein Problem hast, geh nach Calais. Von dort aus kannst du nach England kommen.“ Das versucht er nun seit vier Monaten, vergeblich. Per Lastwagen, so wie es hier seit Jahren geht. „Aber das ist sehr gefährlich.“ An einer niedrigen, grauen Vorgartenmauer bleibt Vahid stehen. Er hockt sich darauf und imitiert die Position, in der er sich unter dem Lkw auf die Achse hockte. Und dann, wie er sich bei einer scharfen Bremsung festklammern musste. Doch sie haben ihn gefunden und auf die Straße gesetzt.

Die Chance, auf diese Weise nach Großbritannien herüberzukommen, schwindet zusehends. Nicht allein wegen des Netzes aus Kontrollen, das immer enger wird, oder der Zäune, die rund um Stadt, Hafen und Eurotunnel in die Höhe schießen. Eine wichtige Rolle spielen auch die Schleuser, die Vahid „Mafia“ nennt und die von der ausweglosen Lage profitieren. „Man kann es nicht oft probieren“, sagt er. „An den Rastplätzen ist es gefährlich, denn da ist die Mafia, und sie haben Messer.“

Weil er am Persischen Golf aufwuchs, ist Vahid ein guter Schwimmer. Also fasste er eines Tages zu Beginn dieses Winters einen anderen Plan. Er hatte einen Platz ausfindig gemacht, fünf oder sechs Kilometer von seiner Unterkunft entfernt, an dem die auslaufende Fähre nach England recht nah vorbeikommt. Er plante durch das eiskalte Meer dorthin zu schwimmen und an Bord zu kommen. In jener Nacht stand Vahid am Ufer. Er wartete, er sah die Fähre kommen, und ihm wurde klar, wie aussichtslos sein Unterfangen ist.

Es sind solche Einsichten, die Hunderte Geflüchtete in diesen Wochen hinaus auf den Kanal getrieben haben. Ungeachtet der Warnungen von Politikern, Fischern und Anwohnern, diese Straße der Welt nachts in einem kleinen Boot zu überqueren.

Manche probieren es auch in einem Fischkutter. So wie die 17 Personen, die in einer Nacht Mitte November in Boulogne- sur-Mer mit einem gestohlenen Boot aufbrachen. Erst kurz vor Dover stoppte ein Patrouillenboot des britischen Grenzschutzes die „L’Epervier“, unter deren Passagieren drei Kinder waren. Bou­logne liegt südlich von Calais und ist der größte Fischereihafen des Landes. Am Silvesterabend hinderte die französische Polizei dort 14 Migranten daran, den Motor eines Boots namens „Caprice des Temps“ anzuwerfen und Kurs auf England zu nehmen.

Fünf Nächte später liegt der weiß-blaue Kutter an der Mole und schaukelt im Wind auf und ab. Eine leuchtend rote Boje baumelt über der Reling. Der Hafen ist verwaist, bis auf die späten Besucher des Casinos auf der anderen Seite und einige wenige Lastwagen von Fischfirmen, die dahinter warten. Die Decks der Fischerboote sind vom Ufer aus hell erleuchtet, doch unzugänglich wirken sie nicht. Zumindest an Bord gelangen könnte man problemlos. Von den Kontrollen, die die französische Regierung kurz nach Neujahr auch für Bou­logne angekündigt hat, ist in dieser Nacht nichts zu sehen.

Es geht gegen halb zwei, als sich die Szenerie sich belebt. Die ersten Fischer laufen auf die Mole oder werden von Autos abgesetzt. Ein Kleinbus nähert sich und hält am Wasser. Laurent Merlier und ein Teil seiner Mannschaft steigen aus und gehen an Bord. Merlier ist der Besitzer eines Kutters wenige Meter hinter der „Caprice des Temps“. Er sagt, Migranten, die nach Booten suchen, seien ein großes Thema in Boulogne. Einer seiner Fischer, der von der Mole Plastikkisten herunter aufs Deck reicht, erzählt, er habe sie oft nachts im Hafen gesehen. „In den letzten Wochen wurden zwei Boote gestohlen und acht aufgebrochen.“ […9

Mit den Fischerbooten von Boilogne-sur-Mer beschäftigt sich auch die NYT vom 14.01.2019:

As Migrants Risk Crossing the English Channel, French Fishing Boats Pay a Price

There is disquiet along the cold, foggy quays of this major French fishing port facing Britain.

Captain after captain, returning to Boulogne-sur-Mer in squat fishing boats with the day’s haul of crab and sole, has the same story: Their boats are being broken into.

The suspected culprits, according to the fishermen and local officials? Smugglers, and their migrant clients, who are intent on reaching Britain and are looking for vessels to cross the forbidding waters of the English Channel. A few of the stolen boats have even been taken to sea. […]

„Über den Kanal, irgendwie“