Ein Kommentar zum Vorschlag von George Soros

Es gibt einen Zusammenhang von Austerität und Flüchtlingselend, auf den vor 30 Jahren Michael Marrus in seinem Standardwerk über die Flüchtlingsbewegungen des 20. Jahrhunderts hingewiesen hat. „Refugees, one might argue, always arrive at the wrong time“, schreibt er in seinem Buch ‚Die Unerwünschten‘.[1]Michael R. Marrus, Die Unerwünschten, Europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert, Berlin, Göttingen, Hamburg 1999 Das letzte Jahrhundert kannte nur wenige Ausnahmen von dieser Regel, so die deutschen Flüchtlinge nach dem 2. Weltkrieg, die in einer Situation des dollarfinanzierten Wiederaufbaus willkommen geheißen wurden.

Mit einer schwarzen Null im Haushalt und unter Einhaltung der EU-Haushaltsregeln können die Migrantinnen, die jetzt in Europa Schutz suchen, nicht angemessen untergebracht oder gar integriert werden. Die Umverteilung hat sich bislang als Fake erwiesen. Der erste Frost wird erwartet und trotzdem werden Migrantinnen weiterhin in Zeltlagern einquartiert. Anders als 1938, als sich die Regierungen Europas – befangen in einer Wirtschaftskrise – bei der elenden Konferenz von Evian nicht über die Aufnahme der Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland einigen konnten (der Rückstau der unerwünschten Flüchtlinge war drei Jahre später Wasser auf die Mühlen der nazistischen Vernichtungskonzepte)anders als damals müsste die Politik heute wissen, dass es keinen objektiven Mangel an Geld gibt. Es kann ex nihilo generiert und sinnvoll investiert werden. George Soros und Yanis Varoufakis können doch nicht die einzigen sein, die diesen Zusammenhang verstanden haben.

Wirklich große Finanzspekulanten sind nicht nur Heuschrecken, sondern bisweilen auch kluge Globalisten. Der Plan, den Soros zur aktuellen Flüchtlingspolitik entwickelt hat, zeugt davon. Ein über 80 jähriger Greis, der von vielen nicht für voll genommen wird. Aber er hat schon beim Anschluss Osteuropas mit der Prognose richtig gelegen, dass enorme soziale Investitionen erforderlich sein würden, um das hinzukriegen. Soros hat ein Gefühl für die Größenordnung der anstehenden Aufgaben und für die „Soziale Frage“ im globalen Maßstab.

Die Auseinandersetzungen innerhalb der politischen Klassen Europas scheinen indes maßgeblich von nationalen Eigeninteressen und wahltaktischen Kalküls geprägt zu sein. Es entsteht der Eindruck, dass die epochalen Dimensionen der aktuellen Migrationsprozesse in deren Debatten noch gar nicht angekommen sind. Oder sie sind angekommen, man setzt aber trotzdem auf militärische Lösungen an den Außengrenzen. Das wird nicht funktionieren, und am Ende würden ein zerstörter Traum und ein provinzielles Europa stehen, in dem die Orbans und Seehofers Urstände feiern und die Musik woanders spielt.

Soros fordert im ersten Jahr 15 Milliarden Euro, im zweiten Jahr 30 und weitere 30 pro Jahr in den folgenden Jahren aus langfristigen Anleihen, allein um jährlich eine Million Migrantinnen in die EU aufzunehmen. Zudem fordert er die Stabilisierung der Anrainerstaaten um Syrien mit 20 Mrd. Euro. Das sei zugleich der ökonomische Impuls, den der Mittelmeerraum und den Europa ohnehin benötigen. Hundert Milliarden Euro wären nicht zu viel – der Zerfall der Börsenwerte im Falle einer Implosion des Europäischen Raums käme ungleich teurer. Dann ginge es um tausende Milliarden.

Geld ist nicht nur viele Nullen, sondern vor allem eine Frage der Investition in die sozialen Prozesse der Wertschöpfung. Soros weiß das. Die politische Klasse müsste es auch wissen. Sozialtechnik und Meinungsmanagement, kombiniert mit Militär, ist auch teuer, aber reicht nicht aus. Das intelligente Kapital lebt von der Öffnung sozialer Prozesse und von der Investition in diese. Es lebt nicht von der Rettung maroder Banken.

Die Migrationen aus dem sog. ‚Nahen Osten‘ sind epochaler Ausdruck einer Kluft zwischen dem globalen Regime der Akkumulation und den sozialen Erwartungen der Bevölkerungen, ganz ähnlich der Implosion des Staatssozialismus. Auf den sozialen Aufbruch im arabischen und maghrebinischen Raum kannte der Westen seit dem Ersten Golfkrieg nur eine Antwort: repressive Regimes und Bombardierung. Die ‚Abstimmung mit den Füßen‘, die wir bei ffm begleiten, steht mehr als manche vielleicht glauben inmitten der globalen ‚Sozialen Frage‘ des 21. Jahrhunderts. Allein mit Abwehr und Krieg ist dem nicht beizukommen.

Viele Details aus dem Soros-Plan erscheinen im gegenwärtigen Spektakel wie eine Stimme der kapitalistischen Vernunft. „Die EU muss während der ersten zwei Jahre jährlich 15.000 Euro pro Asylbewerber für Wohnen, Gesundheit und Ausbildung bereitstellen – und den Mitgliedsstaaten die Aufnahme von Flüchtlingen schmackhafter machen.“ Damit müsste die Niederlassungsfreiheit innerhalb der EU garantiert werden. Zudem sichere Migrationsrouten statt Flüchtlingselend und ein Entwicklungsplan für die Regionen des östlichen Mittelmeers.

Die Migrantinnen haben einen epochalen Dialog eröffnet, Soros hat den Ball aufgenommen. Gibt es Politikerinnen in der EU, die auf diesem Niveau agieren können?

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Quelle: Die Welt

George Soros‘ Plan für Europas Flüchtlingskrise

Von George Soros

Der Exodus aus Syrien hätte nie in eine Krise münden müssen. Jetzt muss Europa mit einer echten europäischen Asylpolitik reagieren. Sie muss die Panik und das unnötige menschliche Leiden beenden.

Die Europäische Union muss die Verantwortung für das Fehlen einer gemeinsamen Asylpolitik übernehmen. Dieser Mangel führte dazu, dass der wachsende Flüchtlingsstrom dieses Jahres von einem handhabbaren Problem zu einer politischen Krise eskaliert ist.

Jeder Mitgliedsstaat hat sich auf selbstsüchtige Weise nur um seine eigenen Interessen gekümmert und oft gegen die Interessen anderer gehandelt. Dies hat unter den Asylsuchenden, der Öffentlichkeit sowie unter den Polizei- und Justizbehörden für Panik gesorgt.

Um auf die Krise reagieren zu können, braucht die EU einen gemeinsamen Plan. Dieser muss eine effektive Methode zur Handhabung der Asylantenströme beinhalten, damit diese auf sichere, geordnete Weise stattfinden können – und in einer Geschwindigkeit, die Europas Aufnahmefähigkeit entspricht.

Dieser Plan muss so umfassend sein, dass er auch über die Grenzen Europas hinausreicht. Es ist weniger zerstörerisch und viel weniger kostenaufwendig, wenn die potenziellen Asylanten in oder in der Nähe ihrer jeweiligen Umgebung bleiben.

Die EU muss jährlich eine Million Flüchtlinge aufnehmen

Angesichts dessen, dass der Ursprung der aktuellen Krise in Syrien liegt, muss das Schicksal der syrischen Bevölkerung erste Priorität haben. Aber auch andere Asylbewerber und Migranten dürfen nicht vergessen werden.

Dementsprechend muss ein europäischer Plan von weltweiten Maßnahmen begleitet werden, die unter der Leitung der Vereinten Nationen stehen und deren Mitgliedsstaaten mit einbeziehen.

Dadurch werden die Lasten der syrischen Krise auf eine größere Anzahl von Staaten verteilt und gleichzeitig weltweite Standards für den Umgang mit dem Problem der erzwungenen Migration eingeführt.

Erstens muss die EU in absehbarer Zukunft mindestens eine Million Asylsuchende jährlich aufnehmen. Und um dies tun zu können, muss die Last fair verteilt werden.

Die EU zahlt 15.000 Euro für jeden Flüchtling

Von entscheidender Bedeutung ist eine angemessene Finanzierung. Die EU muss während der ersten zwei Jahre jährlich 15.000 Euro pro Asylbewerber für Wohnen, Gesundheit und Ausbildung bereitstellen – und den Mitgliedsstaaten die Aufnahme von Flüchtlingen schmackhafter machen.

Diese Mittel können durch die Ausgabe langfristiger Anleihen aufgebracht werden, die sich den größtenteils ungenutzten AAA-Kreditstatus der EU zunutze machen. Dies hätte den zusätzlichen Vorteil eines moralisch gerechtfertigten Haushaltsstimulus für die europäische Wirtschaft.

Ebenso wichtig ist es, die Vorlieben sowohl der Staaten als auch der Asylbewerber zu berücksichtigen und dabei so wenig Zwang wie möglich auszuüben. Die Flüchtlinge dort anzusiedeln, wo sie sein möchten und wo sie erwünscht sind, ist eine unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg.

Zweitens muss sich die EU an die Spitze der weltweiten Bemühungen stellen, Jordanien, dem Libanon und der Türkei genügend Mittel zur Unterstützung der vier Millionen Flüchtlinge zukommen zu lassen, die momentan in diesen Ländern leben.

20 Milliarden für die Lager in Nahost

Bis jetzt wurde nur ein Bruchteil der Summe aufgebracht, die für die grundlegenden Bedürfnisse benötigt wird. Wenn man Ausbildung, Training und andere wichtige Maßnahmen mit einbezieht, liegen die jährlichen Kosten bei mindestens 5000 Euro pro Flüchtling oder 20 Milliarden insgesamt.

Obwohl die EU-Hilfen für die Türkei gerade verdoppelt wurden, liegen sie immer noch bei nur einer Milliarde Euro. Zusätzlich sollte die EU in der Region und auch in Tunesien und Marokko zur Schaffung wirtschaftlicher Sonderzonen beitragen, um Investitionen anzuziehen und sowohl für die Lokalbevölkerung als auch für die Flüchtlinge Arbeitsplätze zu schaffen.

Die EU müsste den Frontstaaten jährlich mindestens acht bis zehn Milliarden Euro garantieren, und der Rest sollte von den Vereinigten Staaten und dem Rest der Welt aufgebracht werden. Auch diese Summe könnte durch die Art langfristiger Anleihen finanziert werden, deren Erlöse bereits den Asylbewerbern in Europa zugutekommen.

Drittens muss die EU sofort damit beginnen, ein einheitliches Büro für Asyl und Migration zu gründen, und später auch eine einheitliche EU-weite Grenzsicherung. Das momentane Flickwerk von 28 unterschiedlichen Asylsystemen funktioniert nicht: Es ist teuer und ineffizient, und bei der Bestimmung, wer asylberechtigt ist, führt es zu völlig uneinheitlichen Ergebnissen.

Das neue Büro könnte die einzelnen Verfahren schrittweise aneinander angleichen, gemeinsame Regeln für Beschäftigung, Unternehmensgründung und Hilfszahlungen aufstellen und eine effektive und rechtlich einwandfreie Rückkehrpolitik für Migranten einführen, deren Asylanträge abgelehnt wurden.

Der Türkei mehr helfen, sie ist Frontstaat

Viertens müssen die Reiserouten der Asylbewerber gesichert werden, darunter zunächst der Weg von Griechenland und Italien in ihre Zielländer. Dies ist sehr wichtig, um die Panik zu beruhigen.

Der nächste logische Schritt wäre dann, sichere Verbindungsrouten zu den Frontregionen zu schaffen und damit die Anzahl der Migranten zu verringern, die sich auf die gefährliche Mittelmeerüberquerung begeben.

Haben Asylsuchende eine vernünftige Chance, letztlich Europa zu erreichen, ist es viel wahrscheinlicher, dass sie bleiben, wo sie sind. Dazu müssen in Zusammenarbeit mit dem EU-Flüchtlingsbüro Verhandlungen mit den Frontstaaten geführt werden, um dort Bearbeitungszentren zu gründen – in erster Linie in der Türkei.

Die durch die EU entwickelten operationalen und finanziellen Regelungen sollten dann dazu verwendet werden, für den Umgang mit Asylbewerbern und Migranten weltweite Standards einzuführen. Dies ist der fünfte Bestandteil des umfassenden Plans.

Orbáns Plan droht die EU zu teilen und zu zerstören

Und um schließlich über eine Million Asylsuchende und Migranten jährlich aufnehmen zu können, muss die EU den privaten Sektor – NGOs, Kirchengruppen und Unternehmen – dazu mobilisieren, als Sponsoren aufzutreten. Dazu ist nicht nur eine ausreichende Finanzierung erforderlich, sondern auch die menschlichen und computertechnischen Mittel, um zwischen Migranten und Sponsoren zu vermitteln.

Der Exodus aus dem kriegsgeschüttelten Syrien hätte nie zu einer Krise werden müssen. Er war schon seit Langem abzusehen, leicht prognostizierbar, und Europa sowie die internationale Gemeinschaft hätten ihn durchaus bewältigen können.

Auch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat jetzt einen Sechspunkteplan zur Krisenbewältigung aufgestellt. Aber sein Plan, der die Menschenrechte der Asylsuchenden und Migranten auf Kosten der Sicherheit der Grenzen missachtet, droht die EU zu teilen und zu zerstören, indem er ihre grundlegenden Werte leugnet und die Gesetze verletzt, mit denen diese geschützt werden sollen.

Die EU muss darauf mit einer echten europäischen Asylpolitik reagieren, die geeignet ist, die Panik und das unnötige menschliche Leiden zu beenden.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff.

Copyright: Project Syndicate, 2015

Die Vernunft des Großen Kapitals

Fußnoten

Fußnoten
1Michael R. Marrus, Die Unerwünschten, Europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert, Berlin, Göttingen, Hamburg 1999