Der AK 649 vom 21.05.2019 veröffentlicht einen Artikelvon Magdi El-Gizouli, der im April auf der Seite der Arab Reform Initative erschienen ist.

El-Gizouli beschreibt die Rolle der SPA, die sich in wenigen Monaten zur führenden Kraft der sudanesischen Revolution entwickelt hat.

Durch den Bankrott des islamistischen Regierungsprojekts hat das Vokabular des »Islam« seine moralische und ideologische Zugkraft für die Opposition verloren. Die Demonstrant*innen stehen vor der Herausforderung, eine alternative politische Sprache zu erfinden. Bisher basierten ihre Protestaufrufe auf vagen Ideen von »Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit«.

Ein Grund für den Erfolg der SPA bei der Mobilisierung gegen al-Baschir ist tatsächlich ihre Aura politischer Unschuld. Die jungen Frauen und Männer, die den Aufrufen der SPA folgen, tun dies, weil sie ihren Zorn gegen die allgegenwärtige Korruption, Vetternwirtschaft und Ineffizienz ausdrückt, aber auch, weil sie ihre Frustration über das Versagen der politischen Klasse quer durch alle Spektren auf den Punkt bringt. Als Organisation steht die SPA für keine spezifische politische Orientierung. Sie spricht eine universelle Sprache der Freiheiten und Rechte, auf die jeder Bürger Anspruch habe, und verspricht einen Ausweg aus den Fängen der Autokratie. Interessanterweise stammt ihre Rhetorik weitgehend aus dem Erbe des Effendiya-Nationalismus, der Arbeitsideologie der kleinen Klasse der gebildeten Sudanes*innen. Es waren meist muslimische, arabischsprachige Sudanes*innen aus dem flussabwärts gelegenen Kernland, die als junge Angestellte und Verwalter unter anglo-ägyptischer Kolonialherrschaft dienten und den Kolonialstaat erbten.

Dieser Rückgriff auf die nationalistische Rhetorik könnte als ein Versuch interpretiert werden, die Bilder des nationalen Zusammenhalts aus einer imaginären Vergangenheit heraufzubeschwören. Es ist jedoch genau dieser Nationalismus der Effendiya-Klasse, der es versäumte, eine politische Heimat für die vielen Bevölkerungsgruppen des Sudans anzubieten, und der für den Zerfall der postkolonialen sudanesischen Gesellschaft in brutale Bürgerkriege verantwortlich gemacht wird. Im Gegensatz zu dieser Idee einer nationalen Einheit haben die vielen Entrechteten des Sudans alternative nationale Identitäten – der Arbeiterklasse, der Frauenbewegung, der unterdrückten Nationalitäten – eingeführt.

Abgesehen von der Mobilisierung erfüllt die Verschleierung politischer Konflikte durch die Glorifizierung der Nation eine sehr konkrete Funktion: Sie erlaubt es den stets zerstrittenen Oppositionskräften, auf der von der SPA erzeugten Welle mitzuschwimmen. Die konkurrierenden Oppositionskoalitionen des Sudans, der Sudan Call und die National Consensus Forces sowie eine Fraktion der Demokratischen Unionistischen Partei, haben die Erklärung für Freiheit und Wandel der SPA unterzeichnet.

Die SPA: Gewerkschaft und politischer Akteur

Angesichts der permanenten Streitigkeiten und wechselnden Allianzen zwischen den Oppositionskräften ist es kein Wunder, dass die Entstehung der »mysteriösen« SPA in der Bevölkerung mit Begeisterung aufgenommen wurde. Die SPA wurde 2016 als Zusammenschluss dreier Berufsverbände gegründet: des Zentralkomitees Sudanesischer Ärzte, einer Journalistengewerkschaft und der Allianz Demokratischer Anwälte. Der erste ist ein Streikkomitee, das aus einem erfolgreichen Ärztestreik 2016 hervorging. Der zweite wurde 2012 als Zusammenschluss sudanesischer Journalist*innen gegen die regierungsnahe Journalistengewerkschaft gegründet. Der dritte entstand aus einer Wahlliste oppositioneller Anwält*innen, die um Einfluss auf die regierungsnahe sudanesische Anwaltskammer ringt.

Im August 2018 veranstaltete die SPA eine schlecht besuchte Pressekonferenz in Khartum, auf der sie vor dem Hintergrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage des Sudans eine Studie über den Mindestlohn vorstellte. Als die Proteste in Atbara, Gedaref und anderen Provinzstädten ausbrachen, verlagerte die SPA ihr politisches Aktionsfeld rasch. Am Vorabend des Unabhängigkeitstages am 1. Januar 2019 veröffentlichte sie eine »Erklärung für Freiheit und Wandel«, die den bedingungslosen Rücktritt des Regimes von al-Baschir und die Bildung einer Übergangsregierung verlangte.

Die SPA beflügelte die politische Fantasie in den sozialen Medien im Sudan. Ihr Erfolg in der sudanesischen Diaspora ist ein Paradebeispiel hierfür. Sie schuf einen inhaltlichen Bezugspunkt und befähigte breite Schichten junger Frauen und Männer zum Handeln. Aktivist*innen aus unterschiedlichen Berufen – Universitätsdozent*innen, Tierärzt*innen, Ingenieure, bildende Künstler*innen und andere – gründeten eigene Verbände nach dem Vorbild der SPA, um sich der »Freedom-and-Change«-Erklärung anzuschließen.
Die Doppelstrategie der SPA, als Gewerkschaftsverband und politischer Akteur aufzutreten, war erfolgreich. Hierin ähnelt sie früheren politischen Organisationen im Sudan, nämlich der Syndicated Front, die die Revolution von Oktober 1964 anführte, mit der die Militärherrschaft von General Abboud beendet wurde, und dem Gewerkschaftsverband, der im Aufstand von 1985, der das Regime von Präsident Nimeiry zu Fall brachte, eine zentrale Rolle spielte. Es gibt jedoch auch wichtige Unterschiede. Sowohl die Syndicated Front 1964 als auch die Trade Unions Association 1985 agierten in Sektoren, in denen die Regierung der wichtigste Arbeitgeber jener gut ausgebildeten Beschäftigten war, die sie durch Streiks und Mobilisierung der Bevölkerung herausforderten. Beide Organisationen konnten auf die Unterstützung militanter Gewerkschaften wie der Bahnarbeitergewerkschaft zählen, die strategisch perfekt positioniert ist, um eine Wirtschaft, die auf dem Verkauf landwirtschaftlicher Güter basiert, lahmzulegen.

Die Akteure der SPA kommen im Gegensatz dazu vor allem aus den freien Berufen. Die Privatisierungspolitik in der Regierungszeit der Islamisten und die Kommerzialisierung von Gesundheit und Bildung hat den Arbeitsmarkt im Sudan zugunsten von privater Unternehmen verändert. Das hat auch Streikaktionen in diesen Branchen erschwert. Staatsbedienstete sowie Beschäftigte in der Industrie, im Bankensektor und Kommunikationswesen, die dieses ungünstige Kräfteverhältnis aufheben könnten, müssen ihre Gewerkschaften erst noch ausbauen, um sich den Forderungen der SPA nach einem Generalstreik anschließen zu können. Durch ihre Zusammensetzung ist die SPA zudem weit weg von den Sorgen und Nöten der vielen Subsistenzbäuer*innen im Sudan, der Kleinbäuer*innen und Agrararbeiter*innen, der Tausenden, die in den Wüsten und Tälern überall im Sudan nach Gold schürfen, und der Massen der städtischen Armen.

Seit diese Zeilen geschrieben wurden, hat das „Bündnis zwischen Mittelschichten und Armutsbevölkerung“, wie Charlotte Wiedemann es genannt hat, nun schon seit immerhin 5 Monaten gehalten und sich in seinen Protestformen als integrativ erwiesen.

Den Aufstand von 2013, damals eine Reaktion auf die Sparpolitik des Bashir-Regimes nach der Abspaltung des Süd-Sudan, beschreibt El Gizouli als Vorgeschichte von 2018/19:

Der erste Haushalt des Sudans nach der Abspaltung des Südens enthielt eine Reihe von Sparmaßnahmen. Im September 2013 schlug die Regierung eine Reihe von Unruhen in Khartum brutal nieder, die sich gegen den Anstieg der Treibstoff- und Brotpreise richteten. Mindestens 185 Demonstrant*innen wurden getötet.
Im Nachhinein lassen sich die Ereignisse von 2013 als Vorläufer der aktuellen Proteste gegen al-Baschir und seine Regierung verstehen. Die neue Protestgeneration, zumeist Student*innen und Berufsanfänger*innen, meidet die hierarchischen Strukturen der etablierten Parteien und organisiert sich mit Hilfe des Internets. Anstelle von identifizierbaren Anführer*innen gaben Gruppen wie Girifna (Wir haben es satt), Sharara (Funke) und Change Now den lose organisierten Protesten vom September 2013 eine Stimme, die durch die sozialen Medien global verstärkt wurde. […]

Damals bestritt Präsident al-Baschir, dass das Fieber des Arabischen Frühlings das Land infiziert habe. Der Sudan habe diese Phase bereits übersprungen. Und irgendwie hatte er Recht. Der Arabische Frühling des Sudans war wohl eher der Aufstand von April 1985, der zu jenem Militärputsch führte, der die 16-jährige Diktatur von Präsident Gaafar Nimeiry beendete und eine kurze Phase der parlamentarischen Demokratie einleitete. Sie dauerte von 1986 bis 1989.

Der zweite wichtige Punkt in El-Gizoulis Darstellung betrifft den sudanesischen Islamismus, der in den Jahren der Nimeyri-Diktatur seine Machtposition gefestigt hatte:

Die sudanesischen Islamisten nutzten ihr Bündnis mit Nimeiry, um junge, gut ausgebildete Kader, meist aus den Provinzstädten, in staatlichen Institutionen zu platzieren, um sich auf den Griff nach der Macht vorzubereiten. Das Versprechen einer Islamischen Renaissance stattete diese ehrgeizige Mittelschicht mit einem neuen politischen Vokabular aus, mit dem sie gegen die herrschende Klasse agitierte. Schließlich eroberte die islamische Bewegung 1989 mit Hilfe des Militärs den Staat und errichtete eine religiös gefärbte Autokratie.

Einmal an der Regierung, setzten die Islamisten genau jene »Reformen« um, die Nimeiry politisch nicht hatte durchsetzen können. Ihr Politikverständnis stimmte mit dem des neoliberalen Modells vollständig überein. Unter ihrer Herrschaft fungierte der Staat als Motor der Privatisierung und Liberalisierung, organisierte die Wirtschaftstätigkeit im Einklang mit den Interessen des Großkapitals, popularisierte eine Konsum- und Konkurrenzkultur, die wenige Gewinner*innen belohnte und die vielen Verlierer*innen durch eine Kombination aus Disziplinarmaßnahmen und roher Gewalt kontrollierte.

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Islamistische Bewegungen haben sich am 19.05. erstmals mit einer Demonstration zurückgemeldet. Al Jazeera vom 19.05.2019 schreibt:

Separately on Saturday, Sudanese Islamist movements held their own demonstration outside the presidential palace in downtown Khartoum on Saturday night.

Hundreds took part in the rally, the first organised mobilisation by Islamist groups since al-Bashir’s overthrow.

„The main reason for the mobilisation is that the alliance (the main protesters‘ umbrella group) is ignoring the application of sharia (Islamic law) in its deal,“ said El Tayeb Mustafa who heads a coalition of about 20 Islamic groups.

„This is irresponsible and if that deal is done, it is going to open the door of hell for Sudan,“ he told the AFP.
Al-Bashir came to power in an Islamist-backed coup in 1989 and Sudanese legislation has since been underpinned by Islamic law.

At Saturday’s rally, hardline Muslim scholar Mohamed Ali Jazuli had a warning for the military council.
„If you consider handing over power to a certain faction, then we will consider it a coup“, he vowed as supporters chanted „Allahu Akbar“ – „God is great.“

The protest leaders have so far remained silent on whether Islamic law has a place in Sudan’s future, arguing that their main concern is installing a civilian administration.

Die Verhandlungen mit dem Militärrat waren am 16.05. für 72 Stunden unterbrochen worden, nachdem es zu militärischen Übergriffen auf die Protestierenden gekommen war. Ultimativ hatte der Militärrat die Entfernung von Straßenblockaden gefordert, die in der Umgebung des MHQ zu einem Stillstand des Verkehrs geführt hatte. Die Verhandlungen wurden am 19. Mai wieder aufgenommen.

Before talks were suspended, the two sides had agreed on several key issues, including a three-year transition period and the creation of a 300-member parliament, with two-thirds of legislators to come from the protesters‘ umbrella group.

Protesters placed roadblocks on some avenues in Khartoum, paralysing large parts of the capital to put further pressure on the generals during negotiations, but the military rulers suspended the last round of talks and demanded the barriers be removed.

Demonstrators took the roadblocks down in recent days, but warned they will put them back up, if the army fails to cede power to a civilian administration.

The generals have allowed protesters to maintain their sit-in outside Khartoum’s army headquarters.

The deputy head of the military council, General Mohamed Hamdan Dagalo, better known as Hemeti, said late on Saturday that security forces had arrested those behind an attack on the protesters last week that killed at least five people, including an army officer.

Die SPA und ihre Verbündeten konnten die Dramaturgie des Aufstands bis jetzt bestimmen und das Bündnis mit den Unterschichten über 5 Monate retten. Offenbar wagt es zur Zeit keine Fraktion in Militärrat, ein erneutes Bündnis mit den Islamisten zu suchen.

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P.S.: Da heute eine Übereinkunft des Militärrats mit der SPA nicht erreicht werden konnte, stellen sich all die oben genannten Fragen um so dringlicher.

„Wer ist die Opposition im Sudan?“