Zum Schutz ihrer Bevölkerungen vor Covid-19 unternehmen Regierungen beispiellose Anstrengungen – und lassen jene im Stich, die ihre Hilfe am dringendsten benötigen

Fabian Goldmann

Vier Jahre war Nima bis hierhin unterwegs. 200 Meter trennen ihn nun nur noch von seinem Ziel. 200 Meter und eine unüberwindbare Barriere aus Stahltoren, Stacheldraht und griechischen Grenzschützern. Am 1. März kam der 21-jährige Iraner an die griechisch-türkische Grenze.

„Offene Grenzen“ nach Europa hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ihm und Zehntausenden anderen Flüchtlingen zuvor versprochen. Doch statt einem neuen sicheren Zuhause in Europa stieß er auf einen Alltag aus Warten, Kälte und Tränengas.

Nima ist einer von Zehntausenden Flüchtlingen, die im März von der Türkei aus versuchten, die Europäische Union zu erreichen. Dafür, dass sie es nicht schafften, gibt es viele Gründe: Die Abschottungspolitik der EU, das falsche Versprechen der Türkei. Und Corona.

Denn auch an der griechisch-türkischen Grenze hatten die Folgen der weltweiten Corona-Pandemie Einzug gehalten. Doch während überall in der Welt zu größtmöglichem Abstand, verbesserter Hygiene und gegenseitige Solidarität aufgerufen wird, verschärften Behörden unter dem Vorwand der Pandemie-Bekämpfung die Lebensbedingungen für viele Flüchtlinge noch.

Vom improvisierten Camp zum Internierungslager

„Schon vor Corona hatten die meisten Leute im Camp nichts. Niemand bringt uns etwas. Wo sind die Hilfsorganisationen?“, fragt Nima, der als 13-jähriger mit seiner Mutter aus dem Iran floh. Wie bei den meisten Bewohnern des Camp besteht seine Unterkunft aus nicht mehr als ein paar Pappkartons und einer zwischen Bäumen gespannten Plastikfolie.

Flüchtlinge erzählen, sie dürften keine Schlafsäcke und Zelte mit ins Camp nehmen. Hilfsorganisationen berichten, man verweigere ihnen den Zutritt. Viele Menschen sind nach Wochen der Kälte und des Tränengases krank.

Statt an ein improvisiertes Camp, das errichtet wurde, um die humanitäre Situation im Griff zu behalten, erinnert Pazarkule eher an ein militärisches Internierungslager: Bewacht von schwer bewaffneten Soldaten der türkischen Armee und eingezwängt hinter hohen Gitterverschlägen stehen endlose Reihen wartender Menschen vor den Essensausgabestelle. Von jedem, der das Camp betritt oder verlässt, werden die Fingerabrücke gescannt.

Aushungern gegen Corona

So überraschend wie die Türkei am 29. Februar ankündigte, ihre Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen schloss sie letzte Woche diese wieder und bemüht sich, die Menschen nun wieder von der Grenze zu vertreiben. Mit fragwürdigen Methoden: Flüchtlinge berichteten dem Autor von einer Art Aushungerungstaktik türkischer Behörden. Um die Menschen zur Umkehr zu zwingen, sollen die Essensverteilungen im Lager eingestellt worden sein.

Gleichzeitig würden Flüchtlinge davon abgehalten, sich in umliegenden Dörfern mit Nahrung zu versorgen. Warum viele Menschen die Ungewissheit und die katastrophale humanitäre Situation im Grenzgebiet einem Leben in der Türkei immer noch vorziehen, dürfte auch an der Perspektivlosigkeit liegen, die sie in der Türkei erwartet: Um die Kosten für eine Reise in die EU aufzubringen, hatten viele Menschen ihren gesamten Besitz verkauft.

Offiziell begründet hat die Türkei die Repressionen mit der Eindämmung der Corona-Epidemie. Wahrscheinlich dürfte aber ein Treffen am 17. März eine Rolle spielen. Per Video-Konferenz hatten sich Bundeskanzlerin Merkel, Frankreichs Präsident Macron und der britische Premier Johnson mit Erdogan getroffen und der Türkei im Gegenzug für die Schließung der Grenze weitere EU-Hilfen in Aussicht gestellt.

Über 40.000 Menschen leben weiterhin in griechischen Lagern

Zur Verschärfung der Lage beigetragen haben auch die Corona-Maßnahmen der EU. Im Zuge der Epidemie-Bekämpfung haben alle EU-Staaten ihre Grenzen auch für Flüchtlinge geschlossen. Deutsche Bundesregierung, EU-Kommission und das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hatten in den vergangenen Tagen angekündigt, keine Flüchtlinge aufzunehmen, bzw. Umsiedlungsprogramme für Flüchtlinge auszusetzen.

Die Folgen der Abschottung bekommen auch die rund über 40.000 Menschen zu spüren, die sich derzeit in griechischen Lagern befinden. In Camp Moria auf der griechischen Insel Lesbos leben derzeit rund 20.000 Flüchtlinge unter katastrophalen Bedingungen. Ausgelegt war das Lager ursprünglich für 2.840 Menschen.

Aus Angst vor Infizierungen und Übergriffen haben sich Hilfsorganisationen weitgehend von der Insel zurückgezogen. In der vom griechischen Gesundheitsministerium betriebenen Krankenstation kümmern sich derzeit gerade einmal drei Ärzte um 20.000 Menschen.

In den von der EU betriebenen Hotspots auf den Inseln Leros und Kos wurden im Zuge der Corona-Bekämpfung weitgehende Ausgangssperren verhängt. Flüchtlinge dürfen die überfüllten Camps derzeit nicht mehr verlassen.

Auf Chios, Samos, Leros darf jeweils nur eine Person pro Familie zwischen 7 und 19 Uhr das Camp verlassen, um einkaufen zu gehen. Nachdem die meisten Hilfsorganisationen ihr Personal in den letzten Wochen abgezogen haben, sind die Menschen auch dort weitgehend auf sich allein gestellt.

Seenotretter fordern, Flüchtlinge mit Kreuzfahrtschiffen zu evakuieren

Vorschläge, wie ein Krisenmanagement aussehen kann, das auch Flüchtlinge vor Corona schützt, gibt es derzeit zuhauf. Der Politikberater und Erfinder des EU-Türkei-Deals, Gerald Knaus, hat eine „humanitäre Luftbrücke“ zur Evakuierung der Menschen aus den griechischen Lagern vorgeschlagen.

Demnach sollen rund 35.000 Menschen von den Inseln aufs Festland gebracht werden. Dort sollen sie zunächst in Zeltstädten und später in festen Unterkünften untergebracht werden. 10.000 Flüchtlinge könnten anschließend in anderen EU-Staaten angesiedelt werden.

Nicht länger auf staatliche Maßnahmen warten will die Dresdner Hilfsorganisation Mission Lifeline. Sie hat 55.000 Euro gesammelt, um mit einem gecharterten Flugzeug Flüchtlinge von Lesbos aufs Festland zu bringen. Behörden verweigern bisher allerdings die nötige Start- und Landeerlaubnis. Die Seenotretter-NGO SeaWatch schlägt unterdessen vor, derzeit nicht genutzte Kreuzfahrtschiffe zu nutzen, um Flüchtlinge von den Inseln der Ägäis zu evakuieren.

Eine „Evakuierung der überfüllten Flüchtlingslager und Unterbringung an Orten, in denen sie vor dem Virus geschützt sind“, fordert auch die Initiative #LeaveNoOneBehind. Gestartet wurde sie vom EU-Abgeordneten Erik Marquardt. Der dazugehörigen Petition haben sich bis zum Dienstagabend über 260.000 Menschen angeschlossen.

Von der Europäischen Kommission fordern sie auch die Wiederherstellung rechtsstaatlicher Asylverfahren und einen besseren Zugang der betroffenen Menschen zu humanitärer Versorgung.

Nima und vielen anderen Flüchtlingen, die vor vier Wochen an die griechisch-türkische Grenze kamen, wird dies allerdings nichts mehr nützen.

Die türkische Polizei räumte das Lager am Grenzübergang Pazarkule Ende letzter Woche und schaffte die meisten der wenigen Hundert verbliebenen Flüchtlinge mit Bussen in andere Landesteile. Statt in einem überfüllten Flüchtlingslager leben viele von ihnen nun in einem überfüllten Abschiebelager. Angeblich zum Schutz vor Corona.

Telepolis | 02.04.2020

„Wie der Kampf gegen Corona das Leid vieler Flüchtlinge verschärft“