Der Kommentar des schweizer Journalisten Fabian Urech in der NZZ vom 29.10.2019 soll hier mit Anmerkungen versehen werden. Er verdient Aufmerksamkeit, lässt aber wichtige Aspekte außer Betracht, und zwar in erster Linie zwei: die Konstitution und „Agency“ der Menschen in der Sahelzone und den europäischen Beitrag zur Eskalation der Gewalt, der wesentlich aus der Zerstörung lokaler Ökonomien und Gleichgewichte besteht, nicht nur infolge des Kolonialismus, sondern neuerdings auch durch Aufrüstung und Externalisierung der EU-Außengrenzen.

Die Sicherheitskrise in dem riesigen, wüstenähnlichen Gebiet südlich der Sahara hat sich in den letzten Monaten gefährlich zugespitzt. Experten sprechen von einer «Explosion der Gewalt». Trotz erheblichen militärischen Anstrengungen scheint eine Trendwende in weiter Ferne.

Die Zahl der Konfliktopfer hat sich seit 2016 vervierfacht und gegenüber 2015 mehr als verdoppelt: nach Mali verzeichnet Burkina Faso den stärksten Anstieg, drei Viertel der Opfer sind in diesen beiden Ländern zu Tode gekommen.

Inzwischen hat sich das Konfliktgebiet ausgeweitet. Nach Mali hat auch Burkina Faso die Kontrolle über weite Teile seiner nördlichen und östlichen Territorien verloren. Eine Viertelmillion Menschen sind hier in den letzten drei Monaten vor der Gewalt geflohen. In Tschad und Niger drohen ähnliche Szenarien.

Urech nennt in seinem Kommentar fünf Ursachen der “Komplexe(n) Entwicklung von Missständen und Fehlentwicklungen”:

  • Dazu gehört, erstens, die missliche Wirtschaftslage. Die Länder des Sahels gehören zu den ärmsten der Welt. Rund 80 Prozent der Menschen leben in extremer Armut, 40 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind unterernährt. Die meisten Jungen sind ohne Arbeit und ohne Perspektive.
  • Verschärft wird diese Situation, zweitens, durch das rapide Bevölkerungswachstum. Noch immer bekommen Frauen in der Sahelzone im Schnitt mehr als fünf Kinder – mehr als in jeder anderen Weltregion. In Niger etwa wächst die Bevölkerung jährlich um vier Prozent. Wohlstandsgewinne für den Einzelnen sind da selbst bei kräftigem Wirtschaftswachstum kaum möglich.
  • Drittens leidet die Region an einem zunehmenden Regierungsversagen. In den Machtzirkeln Bamakos, Ouagadougous oder Niameys mangelt es nicht nur an Geld, um die grundlegenden staatlichen Aufgaben wahrzunehmen. Oft fehlt auch die Kompetenz und der politische Wille dazu. Im besten Fall, so etwa in Burkina Faso, scheint die Regierung um Verbesserung bemüht, ist aber machtlos. Im schlechteren Fall, etwa in Tschad, ist sie bis in den Kern korrupt und einzig am eigenen Machterhalt interessiert.
  • In der Sahelzone ist, viertens, der Klimawandel bereits deutlich spürbar. Die Temperaturen steigen hier laut der Uno eineinhalb Mal so schnell wie im Rest der Welt. Das führt zu einer Entwertung von Farmland, zu Hungerkrisen und zu den oftmals gewalttätigen Konflikten zwischen Hirten und Bauern.
  • Eine wichtige Rolle spielt, fünftens, ein Ereignis, das bereits acht Jahre zurückliegt: der Sturz von Muammar al-Ghadhafi und der Beginn des libyschen Bürgerkriegs. Aus dem Maghreb-Staat wurde dadurch für die Milizen in der Sahelzone ein billiges und üppiges Waffenreservoir. Für Nigers Präsident Mahamadou Issoufou ist klar: «Die Ursache für die Destabilisierung der Sahelländer liegt in Libyen.»

All diese Punkte haben einen wahren Gehalt. Die Bevölkerungsentwicklung im Sahel war ja schon häufig Gegenstand fragwürdiger Kommentare. In letzter Zeit gibt es allerdings auch besonnene Stimmen, die darauf verweisen, dass es sich im Sahel um eine von niedrigen absoluten Zahlen ausgehende, nachholende Entwicklung handelt, die angesichts der Tatsache, dass sich die Reproduktionsrate in den meisten Regionen der Erde ins Negative wendet, durch ausgleichende Migrationsbewegungen leicht kompensiert werden könnte. Bedrohlich wird die Bevölkerungsentwicklung nur im Zusammenhang mit der von Europa ausgehenden Blockade der Migration, und zwar bedrohlich in doppelter Hinsicht: zum einen für die Bevölkerungen, die aus externer Sicht für überschüssig erklärt werden, zum anderen aber für Europa selbst, weil Europa eine Fortsetzung der menschenvernichtenden Politiken, die auf dem Mittelmeer ihren Anfang genommen haben, nicht durchhalten kann, ohne sich selbst vollends aufzugeben.

Nötig wäre es, den europäischen Beitrag zu den gegenwärtigen Zuständen zu beschreiben: die Bombardierung Libyens, die Aufrüstung der maroden Regimes, die Zerstörung der lokalen Ökonomien seit dem Kolonialismus und verstärkt seit 2015 durch Grenzregimes und Migrationskontrolle. Von der Verantwortung des globalen Nordens für den Klimawandel soll hier nicht die Rede sein.

Vor allem aber fehlt völlig, dass das “Regierungsversagen” nicht nur auf Korruption beruht, sondern auch auf einer Haltung des Nicht-Regiert-Werden-Wollens, die in der Sahara Tradition hat (auch die Regierung ist nur ein Wegelagerer). Wer mehr über „den Wert der Unordnung“ und über „disconnection as a relation“ wissen möchte, könnte das letzte Buch von Julien Brachet und Judith Scheele, The value of Disorder, lesen. Der Kommentar von Fabian Urech adressiert die europäische Politik und die Regierungen, ohne die soziale Dynamik der Bevölkerungen (über ihre Reproduktionsziffern hinaus) zur Kenntnis zu nehmen, es sei denn als Opfer. („Diese Entwicklungen treffen vorab die Bevölkerung vor Ort. Die Zahl jener, die in der Region nur dank humanitären Hilfslieferungen überleben, ist jüngst auf über fünf Millionen gestiegen“).

Ganz zu Recht sagt Urech einen „hohen Preis für Europa“ voraus. Aber in der gegebenen Konstellation auf eine Lösung durch „Zusammenarbeit mit den Sahelstaaten“ zu setzen, geht völlig fehl. Ein Gebiet ohne Staat ist nicht automatisch „rechtsfrei“ und versinkt in „Anarchie und Chaos“.

Das gilt zum einen wegen der Migration. Ganz egal, welche Lösung Europa in diesem Bereich mittelfristig anstrebt, ohne eine wirksame Zusammenarbeit mit den Sahelstaaten wird alles zu Makulatur. Setzt sich die besorgniserregende Entwicklung fort, könnte im Sahelgebiet der grösste rechtsfreie Raum der Welt zu entstehen. Allein der Norden Malis ist fast zweieinhalb Mal so gross wie Deutschland. Nimmt man die betroffenen Gebiete in Niger und Tschad hinzu, droht ein Gebiet der Grösse Westeuropas in Anarchie und Chaos zu versinken. Menschenhandel und Schmuggel würden dann noch deutlich zunehmen, eine Kontrolle der Migrationsströme wäre unmöglich.

Die nicht staatlich kontrollierten Regionen sind aber kein „rechtsfreier Raum“, sondern eher ein partiell „staatsfreier Raum“, ein durch small politics stark determinierter Raum, in dem minimale Sicherheiten, connectivity und auch Verteidigung eines patriarchal konstruierten „Traditionsraums“ eine Rolle spielen. Sicherlich ist daran nicht alles prima, aber Fabian Urech scheint davon gar nichts zu wissen. In diesen großen Räumen leben kleine, häufig mobile Ansammlungen von Menschen, die eher von Aufklärungsflugzeugen und Drohnen aus beobachtet werden, als dass sie als lebendige Menschen mit eigenen Bedürfnissen und Entscheidungen wahrgenommen werden.

Seit 2010 investierten die EU-Staaten insgesamt über 12 Milliarden Euro für Sicherheit und Entwicklung im Sahelgebiet. Erst im August versprachen Emmanuel Macron und Angela Merkel am G-7-Treffen, die Sahelstaaten beim Kampf gegen islamistischen Terrorismus noch stärker zu unterstützen. Selbst die Schweiz investiert inzwischen pro Jahr über hundert Millionen Franken an Entwicklungsgeldern in der Region.

Das gestärkte Bewusstsein für eine Weltgegend, die lange Zeit als toter Winkel galt – das ist die gut Nachricht. Die schlechte: Europas Unterstützung funktioniert nicht.

Ob das verstärkte europäische Interesse für die Region eine gute Nachricht ist, darf bezweifelt werden. Aber die Fehlfunktion ist richtig beschrieben: Nichts funktioniert, aber warum nicht?

Das Grundproblem besteht darin, dass Europa die Krise im Sahel vorab aus einem sicherheitspolitischen Blickwinkel betrachtet. «Entwicklung ohne Sicherheit ist nicht möglich», sagte Merkel kürzlich, als sie einen Ausbau der militärischen Kooperation ankündigte. Will heissen: zuerst Frieden, dann alles weitere. Diese Logik ist verkürzt. Mit Waffen allein werden sich die strukturellen Ursachen der Krise nicht beheben lassen. Ohne Gleichgewicht zwischen militärischen und (entwicklungs-)politischen Massnahmen betreibt man reine Symptombekämpfung. Merkels Kausalkette gilt nämlich auch in die andere Richtung: ohne Entwicklung keine Sicherheit.

Für Europa ist es höchste Zeit für einen Kurswechsel. Die militärische Hilfe ist richtig, womöglich wird gar ein weiterer Ausbau nötig sein. Wichtiger noch wäre es allerdings, die Ursachen des Problems anzugehen. Im Kern heisst das: Europa muss mithelfen, in der Sahelregion Zukunftsperspektiven zu schaffen. Mehr als alles andere werden zwischen Bamako und N’Djamena Ausbildungsplätze und Jobs benötigt. Und mindestens so wichtig wie funktionierende lokale Militäreinheiten sind funktionierende Spitäler und Schulen, ja überhaupt ein Staat, der nicht vorab eine Bedrohung für die Bürger darstellt, sondern Lösungen sucht für deren Probleme.

Auch das sind nur Halbwahrheiten, „Entwicklung“ ist ein zweischneidiger Begriff. Denn die Bevölkerungen wollen wollen gerne Schulen und Spitäler, aber sie wollen keine Interventionsarmee und den Staat nicht in Form von Soldaten und Steuereintreibern. Nach westlichen Maßstäben gibt es in den entlegenen Regionen der Sahara vielleicht gar keine absehbare „Entwicklung“ oder „Zukunft“, die nicht auf Migration und Remissen beruhen würde – ein Weg, den die europäische Politik allerdings nach Kräften verschließt.

Wenn sich die Lebensbedingungen der Menschen nicht deutlich verbessern, werden die Gewalt, der Extremismus und der Abwanderungsdruck in der Region nicht verschwinden. Das ist, so simpel es klingen mag, eine epochale Aufgabe, zumal Europa diese im Sahelgebiet praktisch alleine wird stemmen müssen. Eine Alternative gibt es nicht.

Jenseits einer Öffnung, die eine Wiederbelebung regionaler grenzüberschreitender Ökonomien und auch ein Willkommenheißen der Migration bedeutet, ist eine „Verbesserung der Lebensbedingungen“ illusorisch.

Was also will uns Fabian Urech sagen? Die EU verplant ja bereits viele Milliarden in EUTF, NDCI, IBMF, AMF und ISF. Noch mehr Militär, noch mehr Grenzkontrollen, Drohnen und Sicherheitstechnik? Sollen Sahel und Wüste dadurch fruchtbar werden? Sind die Konflikte zwischen Hirtennomaden und Bauern militärisch zu lösen oder nicht eher durch sozial begründete Alternativen, zu denen Migration an erster Stelle gehört?

NZZ | 29.10.2019

„Wie es in der Sahelzone zu einer Eskalation der Gewalt kommen konnte – und warum das für Europa verheerende Folgen haben dürfte“