Die sozialen wie politischen Mobilisierungen in Algerien und im Sudan könnten nicht nur die beiden jahrzehntealten Regime ins Wanken bringen, sondern haben auch enorme Auswirkungen auf den sozialen Wandel in Nordafrika und die Sahara. In folgendem Interview regt Jean-François Bayart dazu an, die säkular ausgerichteten nordafrikanischen Küstenproteste mit den dschihadistischen Aufständen im Sahel als Ausdruck des sozialen Widerstands gegen die forcierte Kapitalakkumulation zusammenzudenken. Die Jugendlichen organisieren sich nach Prinzipien der sozialen Nähe und begehren damit auch auf gegen traditionalistische Hierarchien.

Auszüge aus einem Interview mit Jean-François Bayart, in: Le Monde 19.05.2019 [Angaben zum Autor siehe unten]:

In Algerien und im Sudan bleibt das Geschehen sehr offen. Man darf weder die politsche Intelligenz, die Gewalt, den Zynismus noch die soziale Basis der autoritären Regimes vergessen, die durch die demokratische Mobilisierung erschüttert werden. Ausserdem kommt aus dem Ausland [für die Protestbewegungen] keine Unterstützung. Angesichts der „Bedrohung“ durch Dschihadist*Innen und Migrant*Innen werden die westlichen Länder wieder die Karte der Ordnung spielen, auch mit dem Preis der Repression. […]

Falls die Revolutioin das alte politisch-militärische System hinwegfegt, wird es eine Schockwelle geben. Marokko hat große Angst vor einem Flüchtlingszustrom, und vielleicht auch davor, seinen alten Komplementär-Feind zu verlieren, der für die Legitimierung der marokkanischen Sahara-Politik so nützlich ist. Algier hat immer den Traum gehabt, der Hegemon Afrikas zu sein, aber seine Bestrebungen kollidieren mit denen Marokkos und Ägyptens. Außerdem ist die algerische Haltung zum Dschihadismus ambivalent gewesen. Algier hat nach dem Bürgerkrieg der 1990er Jahre seine eigenen Dschihadisten in den Sahel externalisiert. Algerien ist für Westafrika ein wenig das, was Pakistan für Südasien ist. Wenn eine echte demokratische Revolution das militärisch-politische Regime stürzt, das seit der Unabhängigkeit besteht, kann Algerien aufs Neue ein Pol der Soft-Power mit kontinentaler Bedeutung werden, so wie es ein revolutionärer Drittwelt-Pol in den Jahren 1960-1970 gewesen ist. […]

Unter dem Dach des Dschihad findet im Sahel in Wirklichkeit ein Agrarkrieg im Rahmen einer ursprünglichen Kapitalakkumulation insbesondere des Grundbesitzes und einer Zunahme der sozialen Ungleichheiten statt. Deren Vehikel ist seit der Kolonisation der Staat. Die aktuellen demokratischen Mobilisierungen basieren dagegen auf der Reproduktion oder auf einer angestrebten Umkehrung der politischen Ökonomie dieses Staats. Die Dschihadisten des Sahel oder des Boko Haram sind weniger ein Ausdruck des Islam – der ist gespalten, und einige seiner spirituellen Autoritäten sind die ersten Opfer dieser bewaffneten Bewegungen – als vielmehr einer Revolte der Subalternen gegen die Verkommenheit des Staats und der „Entwicklung“, die sie in die Misere befördert haben. Die Dschihadistengruppen liefern ihnen [den Verarmten] eine Denkweise, eine Würde, zudem Ressourcen und sogar Frauen, auch wenn eine solche Erkenntnis furchtbar ist. In allen Punkten kann der sogenannte Rechtsstaat ihnen nichts geben, wohl aber kann er ihnen alles nehmen, mittels seiner Gewalt und seiner Ungerechtigkeit, die die ökonomische Liberalisierung verschärft hat. […]

Eines der komparativen Vorteile der Dschihadisten ist nämlich genau ihr Griff zur Justiz, die sie vor Ort ausüben. Ihre Rechtsprechung ist verständlich, nicht korrupt, schnell, manchmal brutal – aber nicht brutaler als die des Staats, die auf Französisch ausgeübt wird, also in einer Sprache, die die kleinen Leute nicht verstehen, die langsam ist und den herrschenden Interessen durch die Geldfrage unterworfen ist. Man muss schlicht sehen, dass die ‚Kadi‘ [die Richter] der dschihadistischen Ordnung – neben einem abgeschnittenen Kopf – auch für Tausende Schiedssprüche in Grundbesitzfragen stehen, und zwar nach einer Justizlogik der Nähe.

Unter dem Schutz von [der französischen Militäroperation] Barkhane und der phantomhaften [internationalen Militäroperation] G5 Sahel ‚fressen‘ die Staatsinhaber unaufhörlich weiter, mit scharfen Zähnen. […] Ihre Willfährigkeit [gegenüber Paris] erlaubt es ihnen, in völliger Straflosigkeit die Opposition im Lande und jede Form politischer, sozialer, religiöser und sexueller Dissidenz zu zermalmen.

Mit dem Einbruch der Dschihadisten fliegt der Bumerang der Strukturanpassungsprogramme zurück, die die Weltbank und der IWF seit den 1980er Jahren eingeführt haben. Der Rückbau der öffentlichen Dienstleistungen und die Reduzierung der Entwicklungshilfe durch die westlichen Länder sind mit der Explosion der Öleinkommen der konservativen Golfmonarchien zusammengefallen, die Schulen und Krankenhäuser finanziert haben. Letztere sind ein neuer Pol der Soft-Power geworden, während die Aura Europas verblasste, geizig und doppelzüngig wurde, was seine demokratischen Ideale angeht, und die Immigration wie auch die Präsenz afrikanischer Student*Innen auf europäischem Boden als etwas Feindliches behandelt. […] Was den Islam angeht, so sollte man sich nicht täuschen: Salafist oder Dschihadist zu sein, ist nicht obskurantistisch oder traditionalistisch. Damit bezieht man sich ganz und gar auf die Globalisierung. Damit bricht man mit der Tradition der Familie, der Abstammung, der Ethnie. Die ebenfalls sehr dynamischen Pfingstkirchen bieten übrigens ein vergleichbares antitraditionalistisches und globales Angebot. […]

Le Monde | 19.05.2019

Die Fragen stellten Coumba Kane und Joan Tilouine. Bayart hat vor 30 Jahren „L’Etat en Afrique: la politique du ventre“ bei Fayard veröffentlicht. Er ist Professor am IHEID in Genf. Gerade ist von ihm in Zusammenarbeit mit Ibrahima Poudiougou und Giovanni Zanoletti erschienen: „L’Etat de distorsion en Afrique de l’Ouest. Des empires à la nation (Paris, Karthala).

Algeriens Ausstrahlungskraft und der Dschihadismus in der Sahara