Die neue Arabellion, die durch Nordafrika zieht, findet eine solidarische Identität in den illegalisierten Aufbrüchen über das Meer nach Europa. Die heimlichen Bootsflüchtenden nennen sich „Harragas“, damit verweisen sie darauf, dass sie vogelfrei sind, dass sie ihre Papiere verbrannt haben, dass sie sich auf der Suche nach einem besseren Leben außerhalb der Gesetze wiederfinden. Ihre Erfahrungen und Wünsche werden in den Protesten zum Bezugspunkt.

Am 31. Freitag der wöchentlichen Großdemonstrationen riefen die Leute massenhaft: « Djina haraga lel aassima » („Wir sind als Harragas in die Hauptstadt gekommen“) (tsa-algerie | 20.09.2019). Die anhaltenden sozialen und politischen Proteste gegen das alte Regime hatten die regierenden Militärs faktisch verboten: Jeder Bus, jedes Taxi, jedes Auto, mit dem Demonstrant*innen in die Stadt Algier gefahren würden, müssten beschlagnahmt werden. Der Straßenverkehr war damit am letzten Freitag polizeilich lahmgelegt. Abertausende kamen dennoch zusammen, es wurde eine der größten Protestdemonstrationen des letzten Halbjahrs. Die Leute hatten wegen der Checkpoints ihre Papiere zuhause gelassen und wagten damit einen massenhaften gesetzlosen Protest, für die Freilassung der politischen Gefangenen, gegen die regimegesicherte Präsidentenwahl am kommenden 12. Dezember und für den Sturz des Systems.

In Marokko wird seit dem 23. September der Appell „khorsha ala kanoun“ („wir haben uns gesetzlos / vogelfrei gemacht“) skandiert. Es ist eine massenhafte Selbstanzeige wegen außerehelicher Sexualbeziehungen (2018: 14.508 Strafverfahren), Ehebruch (3.048 Verurteilungen) und Abtreibung (täglich zwischen 600 und 800 illegale Abtreibungen) – ein Protest in der Sprache der Harragas. Der Aufruf gilt der Solidarität mit der Journalistin Hajar Raissouni, die am 31.08.2019 in Rabat mit ihrem sudanesischen Partner verhaftet wurde. Sie hatte eine im März 2019 preisgekrönte Recherche über illegalisierte Migrant*innen in Nordmarokko veröffentlicht, neben vielen anderen unbequemen Artikeln.

Seit Freitag wird in ägyptischen Städten wieder demonstriert, häufig unter Lebensgefahr, angesichts der polizeilichen scharfen Schüsse und Gummigeschosse. Die Initiative zu den Demonstrationen geht per social web von dem ägyptischen, ziemlich schillernden Aktivisten Mohamed Aly in Spanien aus. Er hatte sich mit den Militärs und Bauspekulanten überworfen. Mohamed Aly ist zudem Schauspieler und Filmproduzent. Sein letzter Film über äyptische Harragas, die über das Meer nach Italien flüchten, wurde preisgekrönt: Er läuft seit dem Weltflüchtlingstag des 20.06.2019 unter dem Titel La otra orilla.

Deutlicher als zu Beginn der Arabellion 2010/2011 verbünden sich in diesen Monaten auf den Straßen Nordafrikas drei sehr verschiedene soziale Schichten oder Strömungen unter dem solidarischen Schirm der Harraga-Bewegungen: Mit durchaus unterschiedlichen Moralvorstellungen betonen sie die individuellen und kollektiven Freiheiten gegen „das System“, gegen das alte Regime. Es sind erstens arme junge Leute mit anarchistischen Praktiken, zweitens die individualistische joblose Intelligenz und drittens untere Staatsangestellte sowie Protagonist*innen aus liberalen Berufen. In Algier gedachten am letzten Freitag Abertausende der ertrunkenen und an algerischen Stränden tot angespülten Harragas der letzten Woche.

In den laufenden Protestbewegungen haben dagegen die traditionellen Oppositionsmilieus politisch verloren, die eine nationale „nachholende Entwicklung“ einforderten und deswegen Harragas als Vaterlandsverräter bekämpften.

Algier, Kairo, Rabat: „Harraga“-Demonstrationen

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