Als der italienische Senat am 05.08.2019 das Sicherheitsgesetz billigte, das der italienische Innenminister Matteo Salvini zuvor als „2. Sicherheitsdekret“ erlassen hatte, lag das katalanische NGO-Schiff „Open Arms“ mit 121 Geretteten an Bord bereits blockiert vor den italienischen Gewässern Lampedusas. Ein Weiterfahrt hieße nach dem Sicherheitsgesetz, dass eine Geldstrafe bis zu einer Million Euro und eine Haft von bis zu 10 Jahren droht. Eingeschaltet werden künftig nicht mehr die geographisch zuständigen Staatsanwaltschaften und Gerichte, sondern Instanzen einer Spezialjustiz.
Der italienische Senat hat das Sicherheitsgesetz mit fast absoluter Mehrheit gebilligt. Die auch zahlenmäßig geringe Mitte-Links-Opposition stufte die Bedeutung des Sicherheitsgesetzes herunter und sprach von „Bluff“, der ja die gesamte Salvini-Politik charakterisiere. Auch die wiederentstehende Flotte von NGO-Seenotrettungsschiffen, die sich gerade bildet und in den kommenden Wochen im zentralen Mittelmeer agieren wird, ist guten Mutes. Schließlich hatten am 04.08.2019 die 40 Geretteten des deutschen Schiffs „Alan Kurdi“ der NGO „Sea-Eye“ nach Vermittlung der deutschen Regierung in Malta an Land gehen können. Man hofft, dass sich der Malta-Kanal nach Europa verstetigt, obwohl die maltesischen Zwischenstationen, die Abschiebegefängnisse der Insel, als Black-Box-Orte der Vollisolation berüchtigt sind.
Die differierende Realitätswahrnehmung – Bluff oder Blockade im zentralen Mittelmeer – ist frappierend. Noch verstörender ist, dass es gegenwärtig vor der libyschen Küste möglicherweise zu einem Massensterben von Boat-people kommt, das in Europa kaum wahrgenommen wird. Die „Taz“ schreibt am 06.08.2019:
Abuzeid [Mustafa Abuzeid, Kommandeur des Patrouillenbootes „Fezzan“ der sogenannten libyschen Küstenwache] schätzt, dass die Hälfte der [jetzt] aus Libyen abfahrenden Boote unentdeckt und ohne Überlebende sinkt. „Ohne Funkgeräte gibt es auch keine Notrufe.“ Aus abgehörten Funksprüchen und Telefonaten der Schmuggler wissen die libyschen Marineoffiziere, dass die Menschenhändler mit einem erneuten Ansturm aufs Meer rechnen. In Tunesien und Ägypten werden neue Fischerboote geordert, online werden chinesische Schlauchboote bestellt. Geliefert werden diese über die Containerhafen in Chums oder Tripolis, rund 2.500 Euro pro Boot.
Abuzeid fürchtet, dass in den nächsten Wochen alle 5.000 Insassen der Internierungslager für Migranten unorganisiert freikommen. Darauf seien zurzeit nur die Schmuggler vorbereitet.
Zurück zur politischen Debatte: Bluff oder Blockade sind die Stichworte, die unseren Blick auf die EU und die italienische Politik lenken. In der Tat muss die Wahnpropaganda Salvinis demaskiert werden. Denn die spektakuläre Senkung der Seeankünfte von Boat-people in Italien war nicht das Werk Salvinis, sondern seines sozialdemokratischen Vorgängers Minniti. Auch das Konzept zur Kriminalisierung der NGO-Seenotrettung stammte von Minniti. Sodann hat sich die jetzige italienische Regierung in gar keiner Weise darum bemüht, die Dublin-Verordnung abzuschaffen oder in ihrem Sinne zu reformieren, um die Weiterflucht von Geretteten in andere EU-Staaten legal zu ermöglichen. Schließlich ist zu nennen, das Salvini nicht ansatzweise die Abschiebungen – von jährlich 9.000 Personen – erhöht hat. Sein Versprechen war die Abschiebung von 500.000. Außenpolitisch und auch in der ehemaligen Kolonie Libyen ist Salvini ziemlich isoliert.
Andererseits Blockade: Malta hat in diesen Tagen dem NGO-Schiff „Open Arms“ jegliches Entgegenkommen kategorisch verweigert und dem neuen NGO-Schiff „Ocean Viking“ der „SOS Méditerranée“ sogar das zuvor zugesagte Tanken in Malta untersagt.
Man kommt der Blockade-Realität näher, wenn man sich den Videobericht
El Open Arms ha pedido con urgencia poder desembarcar en un puerto seguro a los 121 migrantes rescatados. El barco sigue cerca de la isla italiana de Lampedusa | Informan @Yalvareztv y Joaquín Relaño pic.twitter.com/KbmJjp1ruS
— Telediarios de TVE (@telediario_tve) August 4, 2019
ansieht, der gestern vom spanischen Fernsehen direkt vom NGO-Schiff „Open Arms“ gesendet wurde. Daniel Sassoli, der eritreische Arzt an Bord, bezeugt folgendes: Hortensia, eine der Geretteten, wurde in einem libyschen Internierungslager vergewaltigt, mit Benzin übergossen und angezündet. Sie erlitt Verbrennungen zweiten oder dritten Grades. Andere erlitten ebenfalls Folter. Unter den 121 Geretteten sind 32 Kinder und Jugendliche. Alle Infomationen liegen den Führungspersönlichkeiten des EU-Parlaments sowie Jean-Claude Juncker und anderen EU-Kommissionsmitgliedern vor. Die Kommission weigert sich, eine Initiative zu Anlandung und Aufnahme zu ergreifen, weil kein EU-Staat ein solches Verfahren beantragt habe. Die sozialdemokratische Regierung des Flaggenstaat Spanien hat sich explizit geweigert, eine entsprechende Initiative auf EU-Ebene einzubringen. Daher versucht „Open Arms“ jetzt Deutschland und Frankreich haftbar zu machen, denn diese beiden Staaten hatten kürzlich einen sogenannten Ad-Hoch-Mechanismus zur Aufnahme von Seenotgeretteten in der EU („bis September“) durchgesetzt.
In den kommenden Wochen wird es wahrscheinlich zu weiteren Blockade-Zuspitzungen kommen, wenn mehr NGO-Schiffe Boat-people im zentralen Mittelmeer retten. Die Hoffnung, dass sich die italienische Blockadepolitik durch eine neue geregelte EU-Aufnahme als Bluff erweisen wird, dürften in diesen Tagen zerstoben sein.
Es ist Zeit, den Blick wieder auf das Massensterben vor der libyschen Küste zu richten – und die EU dafür verantwortlich zu machen. Die „europäische Lösung“ zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Vordergrund politische Spektakel inszeniert, damit der furchtbare Hintergrund nicht sichtbar wird.
Warum sollte die künftige NGO-Flotte nicht an der libyschen Küste anlegen und die Lagerflüchtlinge direkt aufnehmen? Es gibt nichts Wichtigeres, als die Flucht aus den KZs zu unterstützen. Wahrscheinlich werden nicht die sogenannten libyschen Küstenwachen das größte Hindernis darstellen, sie befinden sich derzeit in Streit mit der EU. Mit einer Evakuierungsaktion wäre die EU-Blockade zu durchbrechen: Nicht als Spektakel, sondern im Kampf – im Kampf um das Leben der Boat-people und um ein anderes Europa.