In seinem Buch „Ums Überleben kämpfen“ berichtet Zain-Alabidin Al-Khatir von seiner Flucht aus dem Sudan und Libyen nach Deutschland. Die Autobiographie ist im Juni 2019 in Hildesheim im arete Verlag erschienen. Die hocharabische Originalfassung wurde von Tom Heyne übersetzt und ist für 12 Euro käuflich zu erwerben.

Das Werk ist die biografische Aufarbeitung der Flucht von Zain-Alabidin Al-Khatir und dokumentiert in 28 Kapiteln, die je einen Ort auf seiner Reise markieren, seinen Weg aus dem Sudan über Libyen in die Europäische Union bis nach Deutschland. Dabei berichtet Al-Khatir chronologisch vom Kampf ums Überleben während seiner Flucht. Auch wenn der Großteil dieses Tagebuches fast schon nüchtern dokumentarisch anmutet, findet Al-Khatir immer wieder den Raum, über sein Entsetzen und Unverständnis, aber auch über Dankbarkeit und kleine Freuden zu berichten. „Ums Überleben kämpfen“ ist der Rückblick Al-Khatirs auf seine Flucht und vermittelt die Strapazen und Qualen, das hilflose Ausgeliefertsein während einer Flucht. An dieser Innensicht lässt er uns teilhaben. Dass er als Geflüchteter das Wort erhebt, seine Geschichte zu Papier bringt und einen Beitrag zu einer Debatte leistet, in der Viele zu Wort kommen, aber zu selten die Betroffenen selbst, ist ein Gewinn.

Al-Khatirs Flucht aus politischen Gründen beginnt am 17. November 2013 mit der Verabschiedung von seiner Familie im Sudan. Gemeinsam mit einem engen Freund macht sich der damals 21-Jährige aus Omdurman auf den Weg nach Ägypten, wo er sich für die Weiterreise nach Libyen das erste Mal in die Hände von Schleusern begeben muss. Eindrücklich beschreibt er diese „Welt voller Erniedrigungen und Angst, die weder Annehmlichkeiten, noch Sicherheit, Mitleid und Erbarmen kennt“ und in der man „der Macht und Willkür anderer Menschen absolut ausgesetzt“ ist. Akribisch rechnet er vor, wofür er sein Geld ausgibt, wie sich Preise für Schleusungen willkürlich ändern, Lösegeld von Angehörigen erpresst wird und sich Neuankünfte anderer Migrant*innen auf die Gruppengröße auswirken. Der Fußweg über die ägyptisch-lybische Grenze bleibt genauso eindrücklich im Gedächtnis wie seine Gewalterfahrungen, die Ausbeutung und Gesetzlosigkeit auf dem libyschen Arbeitsstrich, der „Saha“.

Zur Weiterflucht aus Libyen nach Europa zwingen Al-Khatir, dass selbst die ausbeuterischen Arbeitsmöglichkeiten immer weniger werden und er als mittelloser, vogelfreier Ausländer zum menschlichen Schutzschild und Kriegsgerät in zum Beispiel der Schlacht um den Golf von Sidra (2014) wird. Trotz mehrerer Binnenmigrationen innerhalb Libyens kann er dieser Perspektivlosigkeit nicht entkommen. Europa, eigentlich nie Ziel der ursprünglichen Reise, wird so trotz seiner gefährlichen Migrationsrouten und ihren Schrecken die letzte Zufluchtsstätte. Al-Khatir schreibt, dass „jeder Migrant, der versucht das Mittelmeer zu überqueren, einen Entschluss gefasst hat: Den Entschluss, dass es besser ist zu sterben, als so wie bislang weiterzuleben. Sonst würde man dieses Glücksspiel nicht eingehen und sein Leben riskieren“. Berichtet Al-Khatir von den Höllen-Erlebnissen auf seinem Weg von Bishr über Ras Lanuf, Sirte, Wadi Zamzam und Bani Walid zu den Bootsablegern um Tripolis im Juli 2015, dann berichtet er von Folter, Menschen, die als Waren in gefängnisähnlichen Hallen untergebracht sind, Hitze und Kälte, Hunger und Durst, Sklavenarbeit, fehlender Hygiene und ständiger Angst. Und selbst er stockt vor lauter Entsetzen mit dem Schreiben, als er von den Vergewaltigungen der Frauen berichtet und sie um Verzeihung dafür bittet, ihnen nicht habe helfen zu können.

Nach der Mittelmeerüberquerung aus Zuwara („Auf dem Meer sahen wir nichts, außer gekenterte Flüchtlingsboote und Kleidungsstücke, die auf der Wasseroberfläche trieben. Um sie herum kreisten weiße Haie“) und der Ankunft am 03. August 2015 in Italien dokumentiert Al-Khatir den Behördenwahnsinn in Deutschland. Trotz berufsqualifizierender Maßnahmen und Sprachkurse kommt der Abschiebebescheid, er legt Widerspruch ein. Bei Veröffentlichung des Buches ist seine Zukunft noch ungewiss.

Al-Khatirs Buch bildet keine politischen Diskurse zum vorgelagerten EU-Grenzregime ab und ist trotzdem hochpolitisch. Was der Autor leistet, ist, persönliche Erlebnisse mit der Wirkweise von Grenzregimen zu verknüpfen, die eigenen Erfahrungen in den Kontext politischer Entscheidungen und ihrer Auswirkungen zu stellen. „Ums Überleben kämpfen“ ist die persönliche Dokumentation einer langen Reise durch zwei Kontinente und die detaillierte Beschreibung persönlicher Lebensumständen. Das Buch lebt von seiner sachlichen Berichterstattung, die genau deswegen die pointierten Gefühlbeschreibungen noch authentischer macht. Lesen können es alle, die Geflüchtete als Expert*innen ihres eigenen Lebens wahrnehmen und die Erfahrungen ernstnehmen, die Migrierende machen. Menschen, bei denen Berichte über Gewalt Selbsterlebtes triggern, sollten vom Lesen Abstand nehmen.

„Ums Überleben kämpfen“ zeigt mit der erschreckenden Klarheit eines persönlichen Beispiels, wie sich europäische Abschottung und die EU-Migrationsabwehr in Afrika auf das migrierende Individuum auswirken. Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Libyen bekommen in „Ums Überleben kämpfen“ ein Gesicht – was sie noch schwerer zu ertragen macht. Aber wir alle sollten hören und lesen, was uns Al-Khatir über die Flucht nach Europa mitzuteilen hat. Der Appell am Ende seines Buches soll auch hier stehen:

„Niemand, der sein Heimatland verlassen hat, ausgewandert oder geflohen ist, hat dies freiwillig getan. Sie alle waren dazu gezwungen. […] Sie haben keine Schuld. Die Schuldigen, das sind ihre diktatorischen Regierungen. Diese Menschen hingegen wollen einfach nur ihr Leben retten und ihren Seelenfrieden finden. Sie versuchen, daran besteht kein Zweifel, der Hölle zu entkommen, in der sie leben mussten. […] Es sind Menschen, die in Gesprächen scherzen und lachen, aber in ihrem Innersten von einem Scherz zerfressen werden, den nur wenige kennen. Ich wünsche mir, dass ihr ihnen unvoreingenommen gegenübertretet und tut, was in eurer Macht steht, um ihr Leben ein bisschen besser zu machen.“

Einen wichtigen Beitrag dazu hat Al-Khatir selbst geleistet, indem er uns rückblickend an seiner Flucht teilhaben lässt. „Ums Überleben kämpfen“ ist ein Gewinn, weil ein Marginalisierter die Sprecher*innenposition ergreift, aber auch, weil Al-Khatir seine transnationale Perspektive in die Diskussion um Migration und globale Bewegungsfreiheit einbringt. Damit steht er in einer Reihe von Autor*innen, die mit ihren Werken in den hegemonialen EU-Migrations-Diskurs intervenieren: zum Beispiel Emmanuel Mbolela mit „Mein Weg vom Kongo nach Europa: Zwischen Widerstand, Flucht und Exil“ (2014) oder Rodrigue Péguy Takou Ndie mit „Die Suchenden“ (2018). Die Werke dieses entstehenden transnationalen Genres bilden einen essentiellen Beitrag zur empirischen Analyse der vorverlagerten Grenzregime.

Buchrezension: „Ums Überleben kämpfen“ von Zain-Alabidin Al-Khatir