@alarm_phone: 

:::::

Flüchtlinge verzweifeln in Seenot

Wegen Corona haben Malta und Italien Rettungsaktionen eingestellt. Über Ostern trieben Hunderte auf dem Mittelmeer

Die RetterInnen von der „Alan Kurdi“ hatten schon am Montag 68 Migranten aufgenommen – und konnten diese bisher nicht an Land bringen

Von Christian Jakob

Hunderte solcher Dramen haben sich in den vergangenen Jahren auf dem Mittelmeer abgespielt. Aber wohl nie konnte die Öffentlichkeit ihnen so direkt beiwohnen wie am Osterwochenende. Mindestens vier Flüchtlingsboote mit rund 250 Menschen sind seit Karfreitag in Seenot geraten. Bis zum Mittag des Ostermontags wurden keine staatlichen Rettungsmaßnahmen eingeleitet.

Tagelang stand die Initiative Alarm Phone über Satellitentelefon mit den Schiffbrüchigen in Kontakt – und stellte in Echtzeit erschütternde Mitschriften und Tonaufnahmen der Gespräche mit den Verzweifelten ins Netz. „Wir sind nicht okay, ich bin schwanger, mein Kind ist krank, niemand kommt zu helfen, wir haben zwei Tote an Bord“, sagt darauf eine Frau. Ihr Boot hatte rund 60 Stunden zuvor einen ersten Notruf abgesetzt.

„Wir sind so müde, die Situation ist die Hölle“, sagte ein anderer Schiffbrüchiger per Telefon dem Alarm Phone. Ihr Boot laufe voll. „Es gibt weder Wasser noch Nahrung. Einige Menschen haben das Bewusstsein verloren. Wir werden sterben.“ Drei der vier Boote befanden sich den Positionsdaten der Satellitentelefone zufolge in der maltesischen Rettungszone.

Ab Sonntag brach der Kontakt zu drei Booten ab. Die Unglücksstelle des vierten Bootes, mit 47 Menschen, erreichte am Montagmittag das Schiff „Aita Mari“ der spanischen NGO Salvamento Maritimo Humanitario.

Ein Boot mit 85 Menschen ist möglicherweise gesunken, sagte am Sonntag eine Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. „Wir sind sehr besorgt.“ Die EU-Grenzschutzagentur Frontex teilte mit, sie habe bereits nach dem Boot gesucht. Ein Frontex-Flugzeug werde die Suche am Montag fortsetzen.

Ein Schlauchboot mit 101 Flüchtlingen aus Libyen erreichte am Sonntag aus eigener Kraft den Hafen von Pozzallo. Die Menschen wurden in der Stadt Ragusa in Quarantäne gebracht. Es ist äußerst ungewöhnlich, dass ein derart untermotorisiertes Boot die fast 500 Kilometer lange Strecke schafft – und dabei auch noch von der maltesischen Küstenwache unbemerkt bleibt.

Malta hatte am Donnerstag angekündigt, wegen der Coronapandemie vorerst keine Rettungen im Mittelmeer durchzuführen. Die Regierung sagte, sie könne keinen Migranten mehr helfen, die von Afrika nach Europa übersetzen. Polizei und Militär konzentrierten ihre Ressourcen auf die Bekämpfung von SARS-CoV-2. Zudem gebe es keinen sicheren Ort auf maltesischem Territorium für Immigranten auf Booten oder Schiffen.

Am Abend des 7. April hatte das italienische Innenministerium erklärt, dass Rettungsschiffe mit aus Seenot geretteten Flüchtlingen an Bord nicht mehr in italienischen Häfen anlegen dürfen. Die wegen der Coronakrise leidenden Bürger dürften nicht der Grund dafür sein, „jenen Hilfe zu verwehren, die nicht Gefahr laufen, in einem Intensivbett zu ersticken, sondern zu ertrinken“, heißt es dazu in einer gemeinsamen Erklärung der Organisationen Ärzte ohne Grenzen, SOS Méditerranée, Sea Watch und Open Arms.

„Einige haben das Bewusstsein verloren. Wir werden sterben“

Insgesamt, so das Alarm Phone, hätten in den vergangenen sieben Tagen über 1.000 Menschen versucht, mit Booten aus Libyen zu fliehen. Europa benutze Covid-19 als Ausrede, um nicht mehr zu retten, heißt es in einer Erklärung von Alarm Phone. „Seuchenschutzmaßnahmen, die im Namen der „Rettung von Leben“ angeordnet würden, hätten den gegenteiligen Effekt: Menschen seien „ernsthaft gefährdet, in Seenot zu sterben“.

Unterdessen wandte sich Papst Franziskus in einem ­Schreiben an italienische Seenotretter und sagte seine Unterstützung zu. „Danke für alles, was ihr tut. Ich möchte euch sagen, dass ich immer bereit bin, euch zu helfen. Zählt auf mich“, zitierte die deutsche NGO Sea Eye aus dem Schreiben.

Deren Rettungsschiff „Alan Kurdi“ hatte bereits am vergangenen Montag knapp 150 Menschen im Mittelmeer gerettet und war seither auf der Suche nach einem Hafen für diese. Am Sonntagmittag teilte das italienische Verkehrsministerium mit, die Geretteten sollen „in den nächsten Stunden“ auf ein anderes Schiff verlegt, untersucht und dort vorerst unter Quarantäne gestellt werden.

Doch bis Montagmittag geschah nichts. „Wir haben von den italienischen Behörden keine Informationen bekommen“, sagte Sea-Eye-Sprecher Julian Pahlke der taz. Die „Alan Kurdi“ liege außerhalb italienischer Hoheitsgewässer in der Nähe der Stadt Trapani und dürfe keinen italienischen Hafen anfahren. Ohnehin war offen geblieben, wo die Menschen letztlich an Land gehen können. Italien sieht Deutschland als Flaggenstaat der „Alan Kurdi“ der Pflicht.

taz | 14.04.2020

:::::

Massengrab Mittelmeer

Seenotretter funken SOS an die Bundesregierung

Die Seenotrettung wird gestoppt, auch auf Druck des Seehofer-Ministeriums.

SOS Méditerranée erklärt: Europa schaue weg, wenn Menschen ertrinken.

Matthias Meisner

[…] Am Montag vergangener Woche hatte das Bundesinnenministerium in einem Brief an Nichtregierungsorganisationen gefordert, die Seenotrettungsaktivitäten im Mittelmeer „angesichts der aktuellen schwierigen Lage“ zu stoppen. Es sollten keine Fahrten aufgenommen und bereits in See gegangene Schiffe zurückgerufen werden, schrieb der Abteilungsleiter Migration im Seehofer-Ministerium, Ulrich Weinbrenner, an die NGOs. Das Ministerium ließ eine Anfrage des Tagesspiegels zu dem Schreiben unbeantwortet.

SOS-Méditerranée-Geschäftsführer Starke sagt dazu, Seenotrettung müsse auch in Zeiten möglich bleiben, in denen viele europäische Länder aufgrund der Corona-Krise am Rande ihrer Kapazitäten, oder wie Italien und Malta, überlastet seien. „Wir zivilen Seenotrettungsorganisationen füllen seit Jahren eine Lücke, die die europäischen Staaten geschaffen haben und für die die EU zuständig ist. Die Forderung nach der Einstellung unseres Einsatzes auf See steht im Widerspruch zu den humanitären Prinzipien der EU und internationalem Recht“, erklärt Starke.

[…] In besonderer Notlage befinden sich aktuell zwei Schiffe von privaten Seenotrettern: die „Alan Kurdi“ der deutschen Organisation Sea-Eye, die seit einer Woche fast 150 Migranten an Bord hat. Am Ostermontag konnte dann das spanische Rettungsschiff „Aita Mari“ Dutzende Migranten aus einem sinkenden Boot bergen. Die 43 geretteten Menschen hätten die Nacht auf dem kleinen Schiff verbracht, teilte die Nichtregierungsorganisation Salvamento Marítimo Humanitario (SMH), die die „Aita Mari“ betreibt, auf Twitter mit. Unter den Migranten seien eine schwangere Frau, ein Kind sowie sechs Menschen, die wegen Flüssigkeitsmangels vorübergehend bewusstlos geworden seien. Beiden Schiffen wird von Italien bzw. Malta die Ausschiffung in sichere Häfen verweigert.

[…] SOS Méditerranée kritisiert zugleich in deutlichen Worten die Zustände in den Flüchtlingscamps in Libyen, aus denen Tausende zu fliehen versuchen. Starke sagte: „An Bord unseres Rettungsschiffes ,Ocean Viking‘ berichten uns die Überlebenden immer wieder von den unmenschlichen Verhältnissen, die in Libyen für Flüchtende herrschen.“

Ärzte ohne Grenzen, der medizinische Partner an Bord der „Ocean Viking“, sieht nach Angaben von SOS Méditerranée die Folter- und Schusswunden, die Menschen aus den libyschen Lagern davontragen würden. „Viele von ihnen haben mehrere Fluchtversuche unternommen, um diesen katastrophalen Bedingungen zu entkommen. Die Menschen treten verzweifelt die Flucht nach vorn an, über das Mittelmeer, unter sehr gefährlichen Bedingungen. Und dort wartet oftmals die von der EU finanzierte und ausgebildete libysche Küstenwache, die Menschen abfängt und in diese Hölle zurückbringt.“

Die EU habe in den vergangenen Jahren immer wieder mit Steuergeldern „einen absolut fragwürdigen Akteur finanziert, nur um zu verhindern, dass die Menschen nach Europa kommen“. In internationalen Gewässern vor seiner Küste sei Libyen seit 2018 offiziell für Seenotrettung und der Zuweisung eines sicheren Ortes zuständig. Die libysche Küstenwache sei eigentlich dazu verpflichtet, rund um die Uhr erreichbar zu sein und sofort Hilfe zu schicken, wenn Boote in Seenot geraten. „Stattdessen erreichen wir dort meist niemanden oder nur mit sehr großer zeitlicher Verzögerung. Am Ende weist sie immer einen libyschen Hafen für die Geretteten zu – was im Widerspruch zu internationalem Seerecht steht. Selbst die EU und ihre Mitgliedstaaten erkennen an, dass Libyen kein sicherer Ort ist. Dennoch bauen sie die libysche Küstenwache weiter aus. Ein eklatanter Widerspruch.“

[…] Wie es jetzt weitergeht? Wegen der Ausnahmesituation im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie verzichtet SOS Méditerranée selbst momentan auf seine lebensrettenden Operationen mit dem Schiff „Ocean Viking“. Den Preis für die generell zum Erliegen kommende Seenotrettung müssten schutzsuchende Menschen mit ihrem Leben bezahlen, gibt Starke zu. Die „Ocean Viking“ hatte zuletzt am 23. Februar 276 Gerettete zum sizilianischen Hafen Pozzallo gebracht und war dort in Quarantäne genommen worden. Diese ist inzwischen beendet. Derzeit liegt das Schiff im Hafen von Marseille.

[…] Europa schaue weg „und das zentrale Mittelmeer wird zur Blackbox“, erklärt der Geschäftsführer von SOS Méditerranée Deutschland. „Niemand ist mehr vor Ort, um unabhängig zu berichten, was dort passiert, wie viele Menschen in Seenot geraten und wie viele Menschen tatsächlich sterben.“ Allein am Osterwochenende seien im zentralen Mittelmeer um die 250 Menschen in Seenot geraten. Tagelang sei kein europäischer Staat zur Hilfe gekommen, obwohl die dramatische Situation bekannt gewesen sei war.

„Und das sind nur die bekannten Fälle“, fügt Starke hinzu. „Die Dunkelziffer der Menschen, die ertrinken, dürfte weitaus höher sein. Die Menschen sterben ungehört und ungesehen. Das ist eine menschliche Tragödie, die nur schwer auszuhalten ist und die für die Friedensnobelpreisträgerin EU unwürdig ist. Wir dürfen das als europäische Zivilgesellschaft nicht zulassen. Leben retten ist Pflicht, auch auf dem Mittelmeer.“

Tagesspiegel | 14.04.2020

Regierungsamtliches Ertrinkenlassen im zentralen Mittelmeer