ABUJA taz | In den Regionen Sila und Ouaddaï im Osten des Tschads gilt ab sofort der Ausnahmezustand. Diesen hat am Sonntag Präsident Idriss Déby verhängt. Er reagiert damit auf die anhaltenden Ausschreitungen im Grenzgebiet zum Sudan. Dort sollen allein seit dem 9. August mindestens 50 Menschen ums Leben gekommen sein.

Konflikte zwischen Viehzüchtern und sesshaften Bauern hat es in den vergangenen Monaten immer wieder gegeben. Als Anfang August lokalen Medienberichten zufolge jedoch die Leichen von zwei jungen Viehhirten gefunden wurden, folgten besonders schwere Ausschreitungen.

Damit spitzt sich ein Ressourcenkonflikt zu, der eine ethnische Färbung erhalten hat. Die Viehhalter sind überwiegend Zaghawa – wie auch der Präsident selbst. Auf der Suche nach Weideflächen kommt es zu Ausschreitungen mit der lokalen Bevölkerung, die überwiegend von der Landwirtschaft lebt.[1]https://www.taz.de/!5618872

Ressourcenkonflikte, zugleich Nord-Süd-Konflikte, prägen den Tschad ebenso wie die gesamte Sahel-Zone. Ähnlich wie Mali, Niger und Sudan ist Tschad ein Gebiet mit einem großen Anteil Sahara und einem kleineren, dichter bevölkerten Sahel- und Savannenbereich. 90% der Bevölkerung von ca. 15,4 Millionen (2018) leben in der Südhälfte des Landes, meist von für die Subsistenz betriebener Agrarwirtschaft. Es gibt fast 200 Ethnien / Sprachgruppen. Die größte Gruppe, Sara, stellt ein Viertel der Bevölkerung.

Von einem „Staat“ im engeren Sinn kann im Tschad nicht die Rede sein. Das Africa Year Book (2017) charakterisiert den Tschad wie folgt:

Déby’s regime remained superficially stable by keeping to its practice of frequently changing its top personnel. Relative peace prevailed in the heartland of the country. Effective repression by a heavily militarised regime with additional military support from France and the US managed to control insurgent movements in northern Chad/Southern Libya.[2]Africa Yearbook Online: Chad (Vol 14, 2017

Im März 2018 konnten die 90 000 Beschäftigten im Staatsdienst immerhin durchsetzen, dass ausstehende Gehälter ausbezahlt und auf weitere Kürzungen verzichtet wurde.[3]http://www.labournet.de/internationales/tschad/nach-sieben-wochen-streik-erfolg-der-oeffentlich-bediensteten-im-tschad/ Es gibt Informationen, dass sich neuerdings Berufsverbände vom Typ der sudanesischen Professionals Association konstituieren. Aber das sind Entwicklungen, die sich in Ndjamena abspielen. Die Realität in der Peripherie des Tschad ist eine andere.

Der oben zitierte Artikel aus der TAZ vom 19.08.2019 gibt Anlass zu Befürchtungen. Sila und Ouaddaï liegen an der Grenze zu West-Darfur. Darfur ist bekannt geworden durch die hohe Zahl der Toten und Vertriebenen und durch die (vielleicht auch nur indirekte) Unterstützung der mordenden “Teufelsreiter” durch die Europäische Union. Die Darfur-Krise begann mit Rebellionen gegen die Zentralregierung. Das Militär rekrutierte Milizen, die in Zusammenarbeit mit dem Militär brutal gegen die Zivilbevölkerung vorgehen. Der sagenhafte Reichtum und die politische Macht des Milizenführers “Hemedti” im Sudan verweist auf diese Zusammenhänge ebenso wie die 400.000 Geflüchteten aus Darfur, die unter extrem ärmlichen Bedingungen in Flüchtlingslagern im Osten des Tschad leben – dort, wo nun der Ausnahmezustand erklärt wurde. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich das Militär des Tschad hier neue Einkommensquellen erschließen will.

Milizenökonomie in Darfur

Einen Bericht aus einem dieser Flüchtlingslager brachte im November 2018 die Tagesschau:

Ziel des UN-Fluges ist Breidjing. Ein unüberschaubares Lehmhüttenlabyrinth, von Zeltplanen überzogen. Oft sind noch die Namen der Spender darauf zu lesen: „US Aid, From the American People“, Oxfam, UNHCR. Womöglich wurden die Planen auch schon über andere humanitäre Krisenherde in der Sahelzone gespannt.

44.541 registrierte Flüchtlinge aus dem Sudan hausen in diesem Camp. Die meisten von ihnen werden seit Jahren von der EU und den Vereinten Nationen am Leben gehalten. „Alles, was wir hier an Hilfe rein pumpen, kommt von außen“, sagt UN-Mitarbeiter Ante Galic. „Das ganze Budget wird von den Europäern und den UN getragen. Es gibt innerhalb des Landes keinen operationellen Partner, mit dem wir zusammenarbeiten könnten. Die Präsenz des Staates geht gegen Null. Nein, sie ist Null. Hier will niemand bleiben.“[4]https://www.tagesschau.de/ausland/fluechtlinge-sahelzone-101.html

Die Ökonomie der Vertreibungen in Darfur wird auf der Seite der bpb von Manfred Öhm beschrieben:

Der Konflikt wird von vielfältigen Landnutzungskonflikten zwischen viehzüchtenden Nomaden und Ackerbauern überlagert, die sich infolge langer Dürreperioden und zunehmender Desertifikation seit Mitte der 1980er Jahre massiv verschärft haben. Die Auswirkungen des globalen Klimawandels spielen für die Konfliktentwicklung ebenso eine Rolle wie die politische Ausgrenzung breiter Bevölkerungsgruppen. Die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Ursachen belegen, dass der Krieg in Darfur kein allein kulturell bedingter „afrikanisch-arabischer“ Konflikt ist. Bezeichnenderweise stellen sich inzwischen auch fast alle „arabischen“ Gruppen gegen die Zentralregierung in Khartum.

Neben den genannten Konfliktdimensionen bestimmen weitere sekundäre Konfliktursachen das Geschehen. So bietet der Krieg, inklusive der Teilnahme an den Friedensgesprächen, für die Eliten der Rebellengruppen durchaus eine wirtschaftliche Existenzgrundlage und politische Anerkennung. In der Folge verstärkt sich die Fragmentierung der Rebellengruppen, und Verhandlungslösungen werden aufgrund zunehmend divergierender Interessen erschwert. Mit dem „Geschäftsmodell Miliz“, das auch die Erpressung der Zivilbevölkerung und der internationalen Hilfsorganisationen einschließt, entstand ein regelrechtes Söldner- und Banditentum und eine Kultur der rücksichtslosen Vorteilsnahme, der Unsicherheit und Gewalt.[5]https://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54699/sudan-darfur

Neben den Savannengebieten an der Grenze zu Darfur-Konflikts gibt es weitere Regionen, die einer Ökonomie von Vertreibung und Plünderung durch das Militär unterliegen: Neben dem Tibesti-Gebirge im Norden (Gold und Tubu-Aufstände) handelt es sich um die Ölfelder im Doba-Bassin im Südwesten, in der Grenzregion zur Zentralafrikanischen Republik, und um die Gebiete um den Tschadsee im Westen.

Öl im Doba-Bassin

Der „Fluch des Reichtums an Rohstoffen“ wurde im Tschad schon zu Anfang der 2000er Jahre unter Beweis gestellt, als im Doba-Bassin im Südwesten des Tschad Öl gefunden wurde: Beute einiger Ölkonzerne und der herrschenden Schicht von Militärs, die von französischen Tantiemen und den Raubzügen auf ihrem „Staatsgebiet“ leben, so wie von den grenzüberschreitenden Einsätzen der Armee, die wesentlich von der EU finanziert werden.[6]https://ffm-online.org/tschad-die-tubu-und-das-militaer/

In der Oil Field Development Area (OFDA) im Doba-Bassin führte eine US-amerikanische Ethnologin unter dem Schutz des Militärs umfangreiche Studien durch, aus denen der Schluss gezogen wurde, dass die dortige Bevölkerung ohne Entschädigung vertrieben werden könnte und eigentlich keine Hilfe bei der Wiederansiedlung benötigen würde:

Brown’s consultation reports portrayed the people in the region as a highly mobile and self-regulating population. The consortium used this information to develop their resettlement plan, create vague criteria for who would be eligible for resettlement, and even argued that some displaced people in the region should not be assisted with resettlement because they had a history of frequently resettling themselves. As Leonard suggests, the consortium’s aim was not to help these farmers gain new non-farm livelihoods, but rather to separate and detach themselves and limit their own liability for future resettlement related complaints or concerns.[7]Sandra L. Morre, Review: Lori Leonard (2016), Life in the time of oil: a pipeline and poverty in Chad, in:Social Anthropology (2018), 26, 138

Seit 2003 wird Öl gefördert.

Doch von den anfänglichen Einnahmen ist im Land, das im Entwicklungsindex der Vereinten Nationen (UN) den drittletzten Platz belegt, nichts zu sehen. In ländlichen Regionen fehlt es an Strom- und Wasserversorgung. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei umgerechnet 776 Euro jährlich.[8]https://www.fr.de/politik/bitterarm-unfrei-11002481.html

Die Ökonomie des Tschadsees

Im Nordwesten des Tschad, einer ohnehin bettelarmen Region, suchen mittlerweile mehr als 130.000 Binnenvertriebene oder Flüchtlinge Zuflucht. Sie fliehen vor der Terrormiliz Boko Haram. Ähnlich sieht es im Nordosten Nigerias aus: Dort sind es mehr als anderthalb Millionen Vertriebene und Flüchtlinge. Hunderttausende sind es in Nord-Kamerun und im Süden von Niger. Die Region um den Tschadsee ist binnen weniger Jahre mit insgesamt fast 2,3 Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen zu einem gefährlichen Krisenherd geworden.[9]https://www.deutschlandfunk.de/krise-am-tschadsee-armut-klimawandel-und-terrorismus.724.de.html?dram:article_id=400512

Die Militärs der vier Anrainerstaaten des Tschadsees haben seit 2015 begonnen, die Versorgungslinien von Boko Haram zu unterbrechen, indem sie die Bevölkerungen von den Inseln und umliegenden Gebieten evakuiert, die Anlegestellen geschlossen und den Viehtransport unterbunden haben. Die Grenze zwischen Kamerun und dem Tschad wird stark kontrolliert und wurde zeitweilig geschlossen.[10]Agence Francais de Developpement, Crise et développement. La région du lac Tchad à l’épreuve de Boko Haram, April 2018 Auf mehreren Geberkonferenzen, zuletzt in Berlin im September 2018, wurden internationale Hilfen zugesagt.

Die Bundesregierung hat (im September 2018) 100 Millionen Euro zusätzlich für die notleidende Bevölkerung der Länder um den Tschadsee in Nordafrika zugesagt. Neben diesem Geld für humanitäre Hilfe bis ins Jahr 2020 stelle Deutschland 40 Millionen Euro für die politische Stabilisierung in den Jahren 2018 und 2019 sowie 220 Millionen Euro für laufende Entwicklungsprogramme bereit, sagte Außenminister Heiko Maas (SPD) am Montag bei der Tschadsee-Konferenz in Berlin. Bis Dienstag sollen die Themen humanitäre Hilfe, Stabilisierung und nachhaltige Entwicklung in der Krisenregion diskutiert werden. An der Konferenz nehmen Delegationen aus 50 Ländern teil.

Mit Blick auf hohe Flüchtlingszahlen und die sich in der Region ausbreitenden Terrororganisationen Boko Haram und Islamischer Staat sagte Maas, dass die Hilfszahlungen auch im europäischen Sicherheitsinteresse seien. „Wir stehen zusammen, damit die Tschadsee-Region […] nicht zum Drehkreuz für Terrorismus, Kriminalität und Menschenschmuggel wird.“ Die Zahl der Toten in der Region durch den Terror von Boko Haram und IS wird auf 30.000 geschätzt.

Doch nicht nur Terrorismus bedroht die dortige Bevölkerung und sorgt für einen Exodus. Der Wasserspiegel des Tschadsees am südlichen Rand der Sahara ist im Zuge des Klimawandels im vergangenen Jahrhundert dramatisch gesunken. In den Anrainerstaaten Kamerun, Tschad, Niger und Nigeria spielt sich eine der weltweit größten humanitären Katastrophen ab.[11]https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/deutschland-gibt-100-millionen-euro-fuer-tschadsee-region-15768700.html

Indes ist es kein Geheimnis, dass es auch am Tschadsee Gewinner gibt: auch hier haben die Militärs es verstanden, aus Krieg und Vertreibung Profit zu generieren:

Im Nordwesten des Tschad […] vertrauen die Menschen den Soldaten ihrer Armee keineswegs. Weil die Armee die traditionellen Routen für den grenzüberschreitenden Viehhandel nach Nigeria und Niger gesperrt hat. Weil die Menschen sagen, dass sich Generäle die besten Felder um den Tschadsee unter den Nagel reißen und so am Getreideanbau verdienen. Weil das Militär die Bevölkerung von den meisten der 52 Inseln im tschadischen Teil des Sees evakuiert hat. Sie hatten bisher ihren Lebensunterhalt mit der Fischerei bestritten. Dann mussten sie weg. Alles im Namen der Terrorismus-Bekämpfung.

Aber in den Dörfern und Städtchen sagen die Menschen hinter vorgehaltener Hand, die Soldaten der tschadischen Armee wollten ja gar nicht wirklich die Terroristen bekämpfen.[12]https://www.deutschlandfunk.de/krise-am-tschadsee-armut-klimawandel-und-terrorismus.724.de.html?dram:article_id=400512

Tschad, Teil 1: Die Tubu und das Militär

Tschad, Teil 2: Ausnahmezustand, Ökonomie der Vertreibungen

Fußnoten

Fußnoten
1https://www.taz.de/!5618872
2Africa Yearbook Online: Chad (Vol 14, 2017
3http://www.labournet.de/internationales/tschad/nach-sieben-wochen-streik-erfolg-der-oeffentlich-bediensteten-im-tschad/
4https://www.tagesschau.de/ausland/fluechtlinge-sahelzone-101.html
5https://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54699/sudan-darfur
6https://ffm-online.org/tschad-die-tubu-und-das-militaer/
7Sandra L. Morre, Review: Lori Leonard (2016), Life in the time of oil: a pipeline and poverty in Chad, in:Social Anthropology (2018), 26, 138
8https://www.fr.de/politik/bitterarm-unfrei-11002481.html
9, 12https://www.deutschlandfunk.de/krise-am-tschadsee-armut-klimawandel-und-terrorismus.724.de.html?dram:article_id=400512
10Agence Francais de Developpement, Crise et développement. La région du lac Tchad à l’épreuve de Boko Haram, April 2018
11https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/deutschland-gibt-100-millionen-euro-fuer-tschadsee-region-15768700.html