Afghanische Geflüchtete aus Bayern in Paris, deutschsprechende pakistanische Schutzsuchende in Norditalien, somalische Geflüchtete aus Norwegen in Deutschland. Der Versuch solidarische Handlungsoptionen zu entwickeln.

In den vergangenen zwei Jahren jagt eine Gesetzesverschärfung gegen Geflüchtete und Migrant*innen die nächste. In EUropäischen Ländern werden die Menschenrechte abgelehnter Asylsuchender mit Füßen getreten. Obdachlosigkeit und Ausschluss aus Sozialleistungen als Mittel der Abschreckung. Entsprechend entscheiden sich immer mehr der zunehmend Entrechteten zur Weiterflucht in andere Länder. Es sind Weiterfluchten vor der drohenden Abschiebung oder aus der Verelendung. Es sind auch Weiterfluchten, weil manche das ewige Warten und zähe Ringen satt haben. Nicht in allen Fällen sind es rationale Entscheidungen, manchmal wäre es sicherlich einfacher, den Kampf ums Bleiberecht in den ursprünglichen Ankunftsländern weiterzuführen. Bei den meisten geht der Weiterflucht aber eine bewusste Entscheidung voraus: die Entscheidung, das Unrecht nicht länger hinzunehmen und sich zu bewegen. Gegen den Stillstand und für die Freiheit. Dieser Text ist der Versuch, bei einigen dieser Weiterfluchten genauer hinzuschauen – und vor allem Handlungsoptionen der Solidarität zu entwickeln. Dabei müssen wir nicht bei Null anfangen, denn wir können auf jahrzehntelange Erfahrung der Solidarität mit Sans-Papiers, mit Illegalisierten in ganz Europa zurückgreifen.

1. Drei Schlaglichter

Afghanen aus Bayern fliehen vor Seehofers Abschiebechartern nach Paris

Dezember 2018. Vom Gare de l’Este bis zu unserem Treffpunkt mit den afghanischen Freunden an der Porte de la Chapelle laufen wir durch Straßen voller migrantischer Läden aller Art: indische Schneiderei mit Money Transfer, pakistanische Money Transfer neben Western Union, ein kamerunischer Friseur, ein somalisches Restaurant, ein afghanischer Lebensmittelladen, ein sudanesischer Halal-Imbiss… alle nebeneinander. Über einem Friseur-Laden wird Beratung auf Bengalisch bei Problemen mit der Ausländerbehörde (OPFRA) angeboten. Paris zeigt in diesen lebendigen Straßen jedenfalls, dass der ganze rassistische Irrsinn dieser Zeit eigentlich schon verloren hat. An jeder Ecke ist eine informelle Realität der Migration spürbar, die jenseits des legalen Rahmens Nischen schaffen kann und hier eine lange Geschichte hat. Mit zwei afghanischen Freunden aus Bayern sitzen wir in einem afghanisch-indischen Hamburger-Pommes-Döner-Imbiss, in dem es genug Steckdosen zum Handy-Aufladen gibt und Neuankommende das Essen billiger bekommen. Hier sitzen auch einige mit Schlafsäcken als Gepäck. Ein weiterer afghanischer Freund aus Graz in Österreich kommt irgendwann dazu. Gemeinsam erklären sie uns in verständlichen Schritten das System und was wichtig sein könnte für Andere, die noch kommen werden. Von der Schwierigkeit, Unterkunft zu finden, sprechen sie, von den ersten Nächten auf der Straße und wie schwer es ist, einen Ort zu finden, um den Akku des Handys aufzuladen, wenn man auf der Straße lebt. Wir lernen, wie wichtig eine französische SIM-Karte am Anfang ist, denn der erste Schritt in Paris ist, sich bei der Asylbehörde zu registrieren über einen Telefonanruf. Reza*, der am längsten da ist, hat die Räumung eines informellen Settlements nahe der Porte de la Chapelle miterlebt. Die Bewohner*innen wurden danach auf unterschiedliche Turnhallen außerhalb Paris verteilt und haben dann nach einem längeren Prozedere fürs Erste Unterkünfte bekommen. Finanzielle Unterstützung bekommen sie jedoch nicht und sie befürchten, in Kürze aufgrund des Dublin-Verfahrens wieder komplett aus dem System zu fallen und viele weitere Monate auf der Straße zu verbringen, wenn sie der Abschiebung zurück nach Deutschland entgehen wollen. Die beiden afghanischen Freunde aus Bayern vermissen ihren vorherigen Wohnort sehr. Einer hat es nach der ersten Woche auf der Straße in Paris nicht aushalten können und ist noch einmal zurück nach Deutschland gefahren. Aber nachdem ihm eine Freundin gesagt hat, dass die Polizei schon da war, um ihn für die Charter-Abschiebung nach Kabul abzuholen, ist er erneut nach Paris gefahren.
Paris ist für viele Afghanen, die in Deutschland abgelehnt wurden, die letzte Hoffnung. Insbesondere in Bayern, das die rigoroseste Abschiebepolitik betreibt, kann es fast jeden treffen, der nur noch geduldet ist. Die Weiterflucht ist eine schwere Entscheidung. Manche entscheiden sich zu früh, Hals über Kopf zu fliehen, wenn die Ausländerbehörden beginnen Druck zu machen.[1]Mit den Informationen gegen die Angst zu Abschiebungen aus Deutschland nach Afghanistan versucht Welcome to Europe Informationen über die verschiedenen Wege der Aufenthaltssicherung auch nach … Continue reading Manch einer aber auch zu spät. Ein Artikel vom Juli 2018 im Stern beschreibt in dem Porträt eines nach Afghanistan Abgeschobenen eindrücklich, wie dieser bis zuletzt hoffte, der bereits unterschriebene Ausbildungsvertrag würde ihn schützen.[2]https://www.stern.de/politik/deutschland/nach-afghanistan-abgeschoben–wer-sind-die-69-betroffenen–8187742.html

Bei einer Schutzquote zwischen 70 und über 80% für afghanische Geflüchtete ist die Chance, in Frankreich ein Bleiberecht zu erhalten, in der Tat deutlich besser als in anderen europäischen Ländern – wäre da nicht die Dublin-Verordnung. Die Wahrscheinlichkeit der Dublin-Überstellung nach Deutschland ist deutlich gegeben – absurderweise werden ungefähr genauso viele Menschen von Deutschland nach Frankreich (753 Personen im Jahr 2018), wie von Frankreich nach Deutschland überstellt (978 in 2018).[3]https://www.24matins.de/topnews/pol/2018-sechs-dublin-ueberstellungen-von-deutschland-nach-griechenland-161278 Und so bleibt Vielen nur, in Frankreich unterzutauchen und damit eine verlängerte Überstellungsfrist auf 18 Monate in Kauf zu nehmen. Ist diese Frist abgelaufen, muss das Asylverfahren in Frankreich durchgeführt werden. Untertauchen bedeutet für Viele, zwei Jahre in Obdachlosigkeit und ohne jegliche staatliche Unterstützung überleben zu müssen. Sie leben in Slums oder unter freiem Himmel, sie sprechen kein Französisch, sondern bayrisches Deutsch. Man nennt sie dort „die Deutschen“. Dennoch ist das Leben auf der Straße allemal besser als eine Abschiebung nach Kabul – was in der Regel heißt, den gefährlichen Weg auch über das Meer noch einmal wagen zu müssen.

Pakistanische Hessen in Norditalien

Februar 2018. Ein Café in Gorizia, Norditalien. An den Tischen sitzen Männer stundenlang mit einer Tasse Tee, laden ihre Handys und unterhalten sich. So gut wie Jeder, stellt sich heraus, spricht hier neben Urdu auch Deutsch. Ein Treffpunkt für neu angekommene Pakistani aus Deutschland und Österreich, die sich in Norditalien zur erneuten Stellung eines Asylantrags einfinden. Denn anders als Österreich und Deutschland schiebt Italien nach wie vor nicht nach Pakistan ab. Wir fahren weiter, treffen einen Freund aus einer Kleinstadt in Hessen. Er trägt Werbezettel aus, lebt in einer überfüllten Wohnung, in der er für den Platz auf einer Matratze einen Großteil seines Lohns abgeben muss. Aber er hat schon in Kürze einen Termin zur Ausstellung seiner Aufenthaltsgestattung und ist froh, bei dem Abschiebeversuch vor einigen Wochen nicht zu Hause gewesen zu sein.

Im Rhein-Main-Gebiet rund um Frankfurt leben viele Menschen, vor allem Männer, aus Pakistan. Etwa ein Drittel aller pakistanischen Migranten in Deutschland lebt in Hessen. In aller Regel hatten sie irgendwann erfolglos Asylanträge gestellt und lebten über Jahre, sehr viele seit 2015, nicht wenige auch noch länger, mit Duldungen in Deutschland. Die pakistanische Regierung kooperierte bis Anfang 2017 nicht bei der Ausstellung von Reisepapieren für Abschiebungen. Viele pakistanische Migranten lebten in dieser Zeit zwar nur mit Duldung, aber faktisch war die Abschiebung aufgrund fehlender Reisedokumente unmöglich. Die meisten arbeiteten, oftmals in der Gastronomie (vor allem in Pizzerien), aber auch auf dem Bau. Mit den ersten Abschiebecharter-Flügen ab Anfang 2017 änderte sich die Situation. Nach einem längerem Zeitraum, in dessen Verlauf die pakistanischen Behörden trotz eines schon seit 2010 bestehenden Rückübernahmeabkommens zwischen Deutschland und Pakistan die Ausstellung von Reisepapieren für Abschiebungen verweigerten, verkündete der pakistanische Innenminister Ende 2015 sogar, das Rückübernahmeabkommen komplett ausgesetzt zu haben. Bereits seit 2014 gibt es zwischen Deutschland und Pakistan eine Vereinbarung, die Deutschland Zugriff auf pakistanische Datenbanken erlauben soll. Anscheinend haben die deutschen Behörden spätestens seit Anfang 2017 auch wirklich direkten Zugang zu der pakistanischen Datenbank erhalten, in der biometrische Daten von pakistanischen Staatsbürgern gespeichert sind (der so genannten “elektronische Plattform”).[4]Siehe https://www.aktionbleiberecht.de/?p=13879 Die Details des dahinterstehenden „Deals“ wurden nicht öffentlich bekannt, auch nicht, welche Gegenleistung die pakistanische von der deutschen Regierung dafür bekommen haben soll. Für alle „geduldeten“ Pakistani entstand damit das unkalkulierbare Risiko der Abschiebung. Allein im Jahr 2018 wurden 367 Menschen nach Pakistan abgeschoben, der größte Teil in insgesamt 12 Sammelchartern. Beinahe jeden Monat flog ein Flieger, immer unter Koordination von Frontex, unter anderem aus Frankfurt, Berlin und Düsseldorf nach Islamabad. Während wir auf der einen Seite vor übertriebener Panik warnten und Informationen über Möglichkeiten des Bleiberechts jenseits des Asylverfahrens zusammentrugen,[5]Informationen gegen die Angst, Zu den Abschiebungen aus Deutschland nach Pakistan, w2eu, April 2018, online: https://w2eu.info/germany.en/articles/germany-deportation-pakistan.html wurde zugleich die Suche nach Alternativen wichtig. Viele pakistanische Geduldete entschlossen sich ab 2017 nach Norditalien zu gehen. Dort sammelten sich in manchen Städten überwiegend deutschsprachige pakistanische Geflüchtete aus Deutschland und Österreich. Während wir über lange Zeit versucht hatten, die Dublin-Abschiebungen von Deutschland nach Italien zu verhindern, war es nun andersherum. Tatsächlich setzt Italien seinerseits die Dublin-Verordnung bis heute kaum um. Es hat einige wenige Überstellungen von Pakistani mit Bussen nach Österreich gegeben. Von Abschiebungen von Italien nach Deutschland haben wir in der ganzen Zeit nie etwas mitbekommen.

Mit Salvinis rassistischen Gesetzesverschärfungen wurde es dann ab Juni 2018 für die pakistanischen Freunde auch in Norditalien immer enger. Aktuell macht die Weiterflucht nach Norditalien immer weniger Sinn. Zwar gab es nach wie vor keine Abschiebungen aus Italien nach Pakistan, jedoch ist es kaum mehr möglich, einen Aufenthalt zu bekommen. Auch denjenigen, die bereits temporär legalisiert waren, droht inzwischen der Entzug des humanitären Status, der seit der Verabschiedung des sogenannten Sicherheitsdekrets Ende 2018 nicht mehr vergeben wird.[6]In den ersten drei Monaten dieses Jahres stieg aus dem gleichen Grund die Zahl nigerianischer Asylsuchender in Deutschland stark an. Sie nennen sich Salvini-Flüchtlinge. Die meisten haben sich nach … Continue reading Und so pendeln auch manche der pakistanischen Freunde wieder nach Deutschland. Sie suchen erneut Rat, ob sie doch hier noch einmal versuchen könnten, Fuß zu fassen. Es sind im Vergleich zur Zahl der Geduldeten ja prozentual nur wenige, die es schlussendlich tatsächlich erwischt und abgeschoben werden. Und manche denken darüber nach, einen neuen „Plan B“ zu entwickeln, und vergleichen auf ein Neues die Möglichkeiten, in verschiedenen Ländern Europas, notfalls illegalisiert über die Runden zu kommen.

Somalische Frauen aus Skandinavien und Eritreerinnen aus Schweizer Bunkern fliehen weiter nach Deutschland

Ein ganz normaler Montag um 15 Uhr: im Beratungscafé eines kleinen besetzen Hauses in Hanau wird es lebendig. Zwischen den Kinderwägen ist kaum mehr ein Durchkommen, es wird Tischkicker gespielt und sich unterhalten, auf der Bühne im Konzertraum beten zwei Frauen. Waren es 2013, als hier die Selbstorganisierung ostafrikanischer Geflüchteter mit „Lampedusa in Hanau“ entstanden ist, noch fast ausschließlich Dublin-Verfahren nach Italien, so haben wir es spätestens ab 2017 mit Abschiebeandrohungen in nahezu alle europäischen Länder zu tun. Ein Iraner mit Fingerabdrücken in Frankreich, eine irakische Frau mit Kleinkind, die in den Niederlanden ein erfolgloses Asylverfahren durchlaufen hat, ein somalischer Mann, der nach Ablehnung in Belgien auf der Straße gelebt hatte, eritreische Geflüchtete aus der Schweiz, die in Bunkern hatten leben müssen und immer wieder Skandinavien: Afghanen, die in Schweden vor der Abschiebung flohen, somalische Frauen, denen dasselbe in Norwegen drohte. Alle von ihnen hatten gute Gründe zur Weiterflucht – und für alle beginnt ein neuer Kampf ums Bleiberecht, der sich wieder über mehrere Jahre hinziehen wird. Denn selbst wenn sie es schaffen, die Dublin-Abschiebung zu verhindern, dann haben sie in der Regel einen langwierigen Klageweg vor sich, weil die Asylanträge in Deutschland oftmals als Zweitanträge abgelehnt werden. Wenn bereits ein Asylverfahren in einem europäischen Land negativ abgeschlossen wurde, dann wird das Verfahren hier wie ein Folgeantrag gewertet, bei dem nur neue Gründe zählen. Innerhalb weniger Stunden lassen sich hier die zermürbenden Folgen EUropäischer Asylpolitik erleben – und immer auch die Hartnäckigkeit der Menschen, diese durchzustehen. Es ist zwar laut im Hanauer Beratungscafé und es gibt manchmal einiges Gedränge, doch sind die meisten Geflüchteten auch sehr um die anderen bemüht und es finden sich immer wieder Grüppchen zusammen, in denen diejenigen ihre Erfahrungen teilen, die das Problem schon überstanden haben.

Beim EU-Gipfel im Juni 2018 in Brüssel wurde erneut über die Verhinderung von Migration nach Europa verhandelt. Alle Horrorszenarien gescheiterter EUropäischer Asylpolitik von Außenlagern bis Hotspots wurden hoch und runter diskutiert. Die deutsche Bundesregierung brachte als wichtiges Thema das der Weiterwanderung innerhalb der EU ein. Nicht zuletzt, weil das Phänomen der Weiterflucht einen deutlichen Anteil an der Zahl der in 2018 in Deutschland gestellten Asylanträge hatte. Ein ähnliches Phänomen findet sich auch in Frankreich. In einigen Monaten der vergangenen Jahre war die Zahl der Asylantragstellungen in Deutschland höher als Ankünfte über das Meer auf allen drei Routen nach Europa. Dies lag vor allem an der europaweit zunehmend restriktiven Migrationspolitik. Statt jedoch Legalisierung zu diskutieren, ging es auch hier wieder um Abschottung. War die Dublin-Verordnung ursprünglich dazu gedacht, das Phänomen der sekundären Migration und Flucht zu verhindern, hat sie in der heutigen Realität einen großen Anteil an den Weiterfluchten in Europa.

Fadumo* ist 18 Jahre alt. Sie floh als Minderjährige aus Somalia. Ihre Eltern starben, als Fadumo zwei Jahre alt war. Sie wuchs bei der Familie ihres Onkels auf, in der sie viel Gewalt erleben musste. Sie wurde als Kind einer Genitalverstümmelung unterzogen, an den körperlichen Folgen leidet sie noch heute. 2015 floh sie aufgrund zunehmender Probleme mit den Al Shabaab Milizen in ihrem Stadtviertel über die Türkei und Griechenland und dann weiter bis nach Norwegen. In Norwegen wurde sie zunächst in einer Minderjährigenunterkunft untergebracht. Zu ihrem 18.Geburtstag erhielt sie nach Ablehnung ihres Asylantrags direkt eine Abschiebungsandrohung nach Somalia. Fadumo floh daher im Januar 2018 nach Deutschland weiter, da sie keine Perspektive in Norwegen sah und mitbekam, wie andere somalische Flüchtlinge nach Somalia abgeschoben wurden. In der Tat drohte ihr nach einer Rücküberstellung nach Norwegen konkret die Abschiebung nach Somalia. Im Oktober 2017 war eine 36jährige Somalierin aus dem hessischen Darmstadt nach Norwegen abgeschoben worden. Dort wurde sie bereits am Flughafen in Oslo inhaftiert, saß dann drei Wochen in Haft und wurde aus der Haft heraus direkt nach Mogadischu abgeschoben.

Fadumo hätte in Somalia nicht nur von der Familie weitere Verfolgung zu befürchten. Sie hätte auch als alleinstehende junge Frau kaum die Chance, sich eine Lebensgrundlage zu sichern. Fadumo wurde daher in einer Kirchengemeinde in Hessen ins Kirchenasyl genommen und konnte damit das Dublin-Verfahren überwinden. Aktuell befindet sie sich im Klageverfahren, da ihr Asylantrag sodann als Zweitantrag abgelehnt wurde. Sie gibt nicht auf und ist sich sicher, dass sie schlussendlich hier eine Zukunft haben wird – denn sie hat ein Netzwerk gefunden, das sie unterstützt, nicht zuletzt in einer gewachsenen ostafrikanischen Community. Fadumos Geschichte ist die von Vielen und sie ist nicht allein.

2. Weiterflucht als Widerstand gegen den Abschiebeterror

Diese Weiterfluchten sind nicht nur verzweifelte Flucht, sie sind aktiver Widerstand gegen die Maschinerie der Abschiebungen. In einer Zeit, in der sich europäische Innenminister überbieten in ihrer Vorstellung von Effektivierung der Gnadenlosigkeit, setzen sie der Abschiebe-Industrie eine Abstimmung mit den Füßen entgegen. Sie bauen auf die gewachsenen migrantischen Strukturen, wie wir sie in Paris erlebt und im ersten Teil dieses Textes beschrieben haben. Darin finden sie Wege, die in der Regel sehr steinig sind und die sie dennoch der erzwungenen Rückkehr vorziehen. Auf der Suche nach einem Leben ohne ständige Angst machen sie sich aus Ländern innerhalb Europas, die sie ursprünglich für das Ziel ihrer Reise gehalten hatten, wieder auf den Weg.

Oftmals sind sie dabei – wie viele der pakistanischen Freunde in Norditalien – massiver Ausbeutung ausgesetzt. Oft genug auch innerhalb der migrantischen Communities, die ihnen zugleich aber als einzige Schutz und die nötige, wenn auch oftmals sehr prekäre Infrastruktur bieten können, die sie brauchen. Weiterflüchtende sind oftmals besonders verletzlich. Insbesondere für Frauen auf der Flucht erhöht die Weiterflucht und die erneute Illegalisierung die Gefahr sexualisierter Gewalt.

Viele haben bereits jahrelang um eine Bleibeperspektive gekämpft und sind entsprechend auch erschöpfter als zuvor. Nicht wenige haben die Jahre der Unsicherheit zermürbt. Sie sind auf der Weiterflucht oft erneut mit Obdachlosigkeit konfrontiert und dadurch stärker gefährdet, massive gesundheitliche Probleme davonzutragen. Ein großes Problem sind z.B. in Frankreich (und übrigens auch in vielen anderen Ländern) die Lebensbedingungen während des Dublin-Verfahrens: viele Betroffene bekommen erst nach langen Wartezeiten (wenn überhaupt) Unterkünfte, die sie wieder verlieren, sobald sie im Dublin-Verfahren die Meldepflicht bei den lokalen Polizeistationen nicht erfüllen. Es sind seit der Räumung der „Jungles“ in Calais zunächst in Paris, inzwischen an vielen Orten Frankreichs neue informelle Settlements entstanden. Es scheint politisches Interesse zu sein, diese Settlements zwar immer wieder zu räumen, grundsätzlich aber als abschreckendes Zeichen eigentlich zu fördern. Eine Sozialarbeiterin einer Hilfsorganisation in Paris beschrieb uns eindrücklich die Gefahr der Retraumatisierung und schließlich der Verelendung in der Obdachlosigkeit, viele junge Heranwachsende verlören sich auf der Straße und seien schließlich dafür anfällig, sich zumindest kurzfristig zu betäuben und endeten dann oftmals in der Drogenabhängigkeit.

3. Solidarische Städte in Verbindung

„From the sea to the cities“, vom Meer bis in die Städte, hat sich in den vergangenen Jahren ein Netzwerk solidarischer Strukturen gebildet, das in der Unterstützung aus Seenot geretteter Geflüchteter seinen Ursprung nahm. Hier treffen sich Seenotrettungs-NGOs mit Vertreter*innen aus den Kommunen EUropas, die eine andere, eine solidarische Haltung gegenüber Migrationsbewegungen einnehmen. Sie nehmen Verbindungen auf mit den aktivistischen Bewegungen wie den Seebrücke-Netzwerken hier in Deutschland. Diese oftmals informellen Netzwerke können ein wichtiger Baustein sein, um Verbindungen zu halten und migrantische Communities in Europa zu stärken und um ihnen Rückendeckung zu geben für die alltägliche Unterstützungsarbeit.

Notwendig ist nach wie vor eine gut vernetzte „Underground Railroad“ für Bewegungsfreiheit, eine Struktur die auch die oftmals notwendigen Weiterfluchten unterstützt. In Zeiten in denen es keinen Ort der Freiheit gibt, können die Bewegungen in alle Richtungen stattfinden, nicht nur von den Hafenstädten des Mittelmeeres in Richtung der Metropolen, sondern manchmal auch wieder von Norden Richtung Süden. Entlang der Routen, die die Verschiebungen von nutzbaren Rahmenbedingungen innerhalb EUropas markieren, kann so auch eine Karte der Solidarität entstehen.

Hierfür sind nicht zuletzt Orte und Anlaufstellen wichtig. Manche entstehen wie der aus Paris beschriebene Fast-Food-Imbiss, der als Handy-Aufladestation dient und in dem Geflüchtete ohne großen Konsumzwang Tee trinken und sich austauschen können, aus der solidarischen Haltung Einzelner. Sie sind genauso wichtig wie besetzte Häuser und soziale Zentren, die nicht zuletzt als kollektiv geschaffene Kontaktbörsen dienen. In Athen gibt es das besetzte siebenstöckige City Plaza Hotel, in dem bis zu 400 Geflüchtete zeitgleich ein temporäres Zuhause finden. Es hat auch die Funktion, über solidarische Strukturen zu informieren, an die weiterfliehende Menschen anknüpfen können.

Nicht zuletzt hat sich City Plaza auch der permanenten Herausforderung gestellt, wie sich in diesen Räumen die Kämpfe von Frauen wiederfinden und wie solidarische Orte so gestaltet werden können, dass sie Ausbeutung und struktureller Gewalt möglichst wenig Raum bieten und dort über Erfahrungen von Sexismus und Rassismus offen gesprochen werden kann. Die dort gemachten Erfahrungen zu vermitteln wäre einen eigenen Text wert, denn es sind zentrale Herausforderungen, wenn es um das Entwickeln solidarischer Alltagsstrukturen geht. Das City Plaza Squat ist ein „Leuchtturm“ und in seiner Größe und Kontinuität von inzwischen über 3 Jahren sicher einzigartig. Es steht dennoch stellvertretend für viele andere Orte, die weniger öffentlich sind und mehr im Stillen solche Informationsknotenpunkte der Solidarität bereits gebildet haben, Erfahrungen machen und sich darin weiterentwickeln.

Wenn Transit nicht mehr an der Außengrenze EUropas bleibt, sondern sich mit den zunehmenden Weiterfluchten und einer zunehmenden Illegalisierung quasi in seine Mitte verschiebt, dann brauchen wir die Erfahrungen aus dem Transit auch für die Metropolen im Kern der EU. Wir brauchen mehr dieser solidarischen Orte, wir brauchen eine engere Vernetzung mit Community-Strukturen und wir brauchen nicht zuletzt Lernprozesse aus erfolgreichen Praktiken.

Das klingt nach einer großen Aufgabe. Dennoch gilt hier wie in allen sozialen Kämpfen: alles was geht zählt. Es ist möglich klein anzufangen. Wenn aus einer bayrischen Kleinstadt ein Unterstützerkreis den Kontakt zu einem afghanischen Freund nicht abreißen lässt und ihn mit der Miete für einen Schlafplatz in Paris unterstützt und ihn auch noch alle paar Monate dort besucht, ist damit dreierlei geschaffen. Zum einen eine ganz materielle Form der Solidarität, die im konkreten Fall vielleicht verhindert, dass ein junger Mann an der Retraumatisierung im Zuge der Weiterflucht zerbricht. Zum anderen ist ein Anknüpfungspunkt entstanden, ein Kontakt in Paris, einer, der weiß wie es geht, wenn die nächsten gehen müssen. Und schließlich – wie wir aus der Erfahrung wissen – wird sowohl in der bayrischen Kleinstadt als auch in Paris eine Geschichte weiterleben, die noch in 10 Jahren erzählt, unter welchen Mühen, aber auch getragen von welcher Solidarität ein Bleiberecht schlussendlich erkämpft werden konnte.

Wir können Willkommensinseln schaffen und Wohnungen anmieten, in denen Freund*innen ausruhen und eine Perspektive entwickeln können. Hierfür gibt es viele Vorbilder von Willkommensinseln in Athen, Rasthäusern in Rabat und Schutzwohnungen für Illegalisierte aus der Vergangenheit. Auch bei der medizinischen Versorgung können wir auf Strukturen vorheriger Kämpfe zurückgreifen: so haben medizinische Flüchtlingshilfen in Deutschland spätestens seit Ende der 90er Jahre Strukturen aufgebaut, die in einigen Städten auch eine kommunale medizinische Versorgung von Illegalisierten und Nicht-Krankenversicherten erkämpfen konnten.

Auch Städte in Deutschland sind Stationen des Transits. Die verlängerten Überstellungsfristen in den Dublin-Verfahren, die immer mehr Menschen zwingen bis zu 18 Monate völlig entrechtet zu überstehen, gelten auch hier als Mittel der Wahl, um über die lange Dauer Abschreckungseffekte zu erzeugen. Immer mehr Menschen halten sich über lange Zeiten illegalisiert in den Städten auf, um diese Fristen zu überstehen. Hier brauchen wir mehr Strukturen und ein Netz der Unterstützung.

Wir brauchen also mehr Soli-Zimmer und -Wohnungen. Wir brauchen mehr Anlaufstellen auch für diejenigen, die komplett entrechtet sind, in denen es möglich ist, jenseits der gesetzlich immer enger werdenden Vorgaben Perspektiven für jede Einzelne und jeden Einzelnen zu entwickeln. Und wir brauchen vor allem eine Stärkung der Community-Strukturen, die solidarisch sind, und Möglichkeiten, diese miteinander in Verbindung zu bringen. Das ist nicht so schwer, denn vieles davon gibt es bereits. Wir brauchen einen langen Atem, um dieses Migrationsregime zu überwinden – und wir brauchen den Mut, jeden Tag gleiche Rechte für Alle durchzusetzen. In allen Städten auch entgegen nationalstaatlicher Gesetzgebungen von gestern. In Italien machen es uns die solidarischen Hafenstädte schon vor.

kein mensch ist illegal hanau / Welcome to Europe

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* alle Namen geändert.

Weiterfluchten durch EUropa

Fußnoten

Fußnoten
1Mit den Informationen gegen die Angst zu Abschiebungen aus Deutschland nach Afghanistan versucht Welcome to Europe Informationen über die verschiedenen Wege der Aufenthaltssicherung auch nach abgeschlossenem Asylverfahren zu geben, online: https://w2eu.info/germany.en/articles/germany-deportation-afghanistan.en.html
2https://www.stern.de/politik/deutschland/nach-afghanistan-abgeschoben–wer-sind-die-69-betroffenen–8187742.html
3https://www.24matins.de/topnews/pol/2018-sechs-dublin-ueberstellungen-von-deutschland-nach-griechenland-161278
4Siehe https://www.aktionbleiberecht.de/?p=13879
5Informationen gegen die Angst, Zu den Abschiebungen aus Deutschland nach Pakistan, w2eu, April 2018, online: https://w2eu.info/germany.en/articles/germany-deportation-pakistan.html
6 In den ersten drei Monaten dieses Jahres stieg aus dem gleichen Grund die Zahl nigerianischer Asylsuchender in Deutschland stark an. Sie nennen sich Salvini-Flüchtlinge. Die meisten haben sich nach jahrelangem Aufenthalt in Italien auf die Weiterflucht gemacht, da ihre Lebensbedingungen nicht zuletzt durch die zunehmende rassistische Hetze in den Medien unerträglich geworden sind und sie keine Bleiberechtsperspektive entwickeln können.