Das neue Dispositiv der afrikaphoben Flüchtlingsabwehr im Mittelmeer

Am Freitag, dem 4. Januar 2019 kam es zu einer heftigen Demonstrations-Kundgebung auf der Straße in Palermo. Antirassist*innen, wütende Bürger*innen, und sogar der Bürgermeister fanden sich im Protest dagegen zusammen, dass 49 gerettete Boat-people auf zwei NGO-Schiffen nicht an europäisches Land gelassen wurden. Die Boat-people waren in Libyen gestartet. Viele waren dort unmenschlicher Internierung und Folterhaft ausgesetzt. Auf der „Sea Watch 3“ und auf der „Professor Penck“, die direkt vor der Küste Maltas lagen, spitzte sich die Situation zu. Ein Flüchtling war ins Wasser gesprungen und musste zurückgeholt werden. Andere weigerten sich, Nahrung zu sich zu nehmen. Die psychische Verunsicherung an Bord entwickele sich in gefährlicher Weise, hieß es.

Die Mobilisierung auf der Straße hätte sich sofort auf andere Städte ausbreiten können. Die NGO-Schiffe hätten vielleicht den Erzbischof von Malta an Bord nehmen und unerlaubten, aber gerechtfertigten Kurs auf Malta nehmen können. Dann wäre das Heft des Handelns ansatzweise auf der flüchtlingsaktiven und -solidarischen Seite geblieben. Eine Unmenge an Medien hätte den aufgebrachten und ausgelaugten Geflüchteten und den Seenotretter*innen das Mikrofon gereicht und ihnen eine Stimme gegeben, die um die Welt gegangen wäre. Angesichts drohender Kriminalisierung wären die „Seebrücken“-Demonstrationen mit ungeahnter Wucht wiederaufgelebt. In Italien hätte sich, zusammen mit vielen Bürgermeistern, auf der Straße ein wahrer Protest gegen Salvini formiert. Die EU wäre bis auf die Knochen blamiert gewesen, wie es seit der Großkatastrophe der Boat-people vor Lampedusa nicht mehr der Fall gewesen ist. Die „Europäische Lösung“ – das staatlich organisierten Ertrinkenlassen im Mittelmeer als strategische Abschottung gegen die afrikanische Armut – wäre möglicherweise erst mal gescheitert.

Doch es kam anders. Am Ende einer geschickten Inszenierung der Macht steht ein siegreicher deutscher Innenminister Seehofer da, der sich die Aufnahme eines Teils der geretteten Boat-people, eine teilweise Verteilung der übrigen Geretteten auf andere EU-Staaten bis nach Rumänien und eine Abschiebung der zuvor in Malta angekommenen Boat-people nach Bangladesch ans Revers heftet. KeineR der Boat-people kommt in den Medien zu Wort, und auch die NGO-Seenotretter*innen wirken eher kleinlaut.

Im Folgenden geht es nicht um Schuldzuweisungen an Seenotretter*innen, deren Entschlossenheit und Tatkraft in jeder Hinsicht anzuerkennen sind. Scharen an Aktivist*innen haben ihnen im Hintergrund den Rücken freigehalten und der drohenden Repression unbeirrt die Stirn geboten.

Die Sequenz dieser wenigen Tage zwischen Freitag, dem 4. und Dienstag, dem 8. Januar 2019, als die geretteten Boat-people an Land gebracht wurden, kann uns in Miniatur aufzeigen, welche Dimension und welche Funktionsweise das EU-staatlich organisierte Ertrinkenlassen im Mittelmeer angenommen hat, neben dem unmittelbaren Akt der unterlassenen Hilfeleistung auf See. Wir sollten verstehen lernen, wie die zweiwöchige Anlegeverweigerung zu einer orchestrierten Verhandlungshoffnung geführt hat, die die EU-Kommission erst nach Eskalationsdrohung auf der Straße theatralisch hinter den Kulissen, exklusiv unter EU-Staatsvertretungen, in einem Schlussakt hat münden lassen: Der Ablenkung vom tausendfachen Tod im Mittelmeer auch im gerade beendeten Jahr, und die Inszenierung zuerst von Schmach und Schande, zum Schluss aber dann doch die der Werte der EU gegenüber einer winzigen Zahl auserwählter Boat-people. Das nennt man Regulative Policy. Diese neue Policy der EU soll im Folgenden anatomisch zerlegt werden.

Die Festung Europa hatte zuvor enorme Niederlagen hinnehmen müssen. Nicht nur ab 2014 im zentralen Mittelmeer und 2015 auf der sogenannten Balkanroute. In den späten 1990er Jahre war der Plan gereift, um die EU-Außengrenze (1. Kreis) zwei weitere Festungskreise zu legen. Der zweite Kreis sollte zum Auffangbecken der Migrant*innen und Geflüchteten der Außenwelt hinter dem dritten Kreis werden. Bekanntermaßen zog sich der Aufbau von Frontex (1. Kreis) länger hin als erwartet. Die Souveränitätsvorbehalte der Nationalstaaten machten sich bemerkbar.

Ein anderer Kontinent zog mit seinem Abschottungskonzept an Europa vorbei. Die „australische Lösung“ startete 2001. Die Tausende Kilometer vor Australien liegenden Inseln Nauru und andere wurden zu grausamen Internierungsinseln gemacht. Abgefangene Boat-people aus dem Krieg in Afghanistan oder auf der Flucht vor iranischer Verfolgung, ja sogar in Australien Angelandete wurden auf die Verbannungsinseln zurückgebracht. Hungerstreiks, zahlreiche Todesfälle, Misshandlungen und ein unendliches Leid über Männer, Frauen und Kinder waren die Folge. Die australische Regierung praktizierte diese „Lösung“ nicht nur, sondern hielt sie auch der europäischen Öffentlichkeit und den Regierungen als Erfolgsmodell unter die Nase.

Zwischen 2003 und 2018 zerstoben die EU-Vorstöße, nach diesem Modell in Nordafrika EU-Auffanglager oder ganze EU-Flüchtlingsstädte aufzubauen. Von Blair bis Berlusconi, von Schily bis Orbán hielt sich diese Illusion. Erst 2018 begannen die EU-Staaten, der Realität ins Gesicht zu blicken: Aus Nordafrika waren 15 Jahre lang Absagen an EU-Lager gekommen. Ob Diktator, Juntachef oder gewähltes Staatsoberhaupt – die Ablehnung war und ist strikt. Wahrscheinlich ist deren Beweggrund die Angst vor der eigenen Bevölkerung. Die Ältesten haben die mörderischen Koloniallager der Europäer*innen noch selbst erlebt. Eine Australische Lösung würde es mit diesem Nordafrika auf keinen Fall geben.

Nun war das Ertrinkenlassen von Boat-people im Mittelmeer schon in den 1990er Jahren Programm. Es sind Massenkatastrophen auf See dokumentiert, an denen Militärs und Küstenwache durch Rammen, durch unterlassene Hilfeleistung und durch Ausschaltung der Medien ihren Anteil hatten. Aber nach 2000 begannen sich Küstenwachen und Marinen auf humanitäre Aktionen der massenhaften Seenotrettung umzustellen. Den Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit der italienischen Operation „Mare Nostrum“ rund um die Ölfelder vor Libyen, die der italienische ENI-Konzern und andere bewirtschaften.

Der Abzug von Mare Nostrum, von der deutschen Regierung und EU-Gremien faktisch erzwungen, und die Rückverlegung der Frontex-Operationen aus den internationalen und Libyen-nahen Gewässern in die italienischen Küstenbereiche, stellen einen Markierungspunkt für etwas Neues da: Der EU-verantwortete Abzug der Seenotrettung aus der Todeszone vor Westlibyen und aus den libyschen Gewässern stellt den Startpunkt der Europäischen Lösung dar, also das EU-staatliche massenhafte Sterbenlassen im Mittelmeer als Abschreckungsstrategie. Der staatlich angeordnete Abzug der Seenotrettung Mare Nostrum ließe sich datieren auf EU-Gremienbeschlüsse, die benennbare Staatsvertreter*innen und Entscheidungsträger*innen vorgenommen haben.

Doch damit nicht genug. Die massenmörderische Politik muss als gut und vernünftig inszeniert werden. Das Massengrab wird ab 2018 als kleineres Übel inszeniert, angesichts einer angeblich gigantischen Armutswelle, die sich sonst in den kommenden Jahrzehnten aus Afrika heranwälzen würde. (In Wirklichkeit stellen die Menschen aus afrikanischen Ländern nur einen winzigen Immigrationsanteil in Europa.) Und Gnadenakte der Aufnahme einer winzigen Schar von Boat-people poliert, nach einer kalkulierten Schmach-und-Schande-Phase, das gute Bild eines wertefreundlichen Europa.

Diese Policy hat einen Namen: Eine „Australische Lösung“ ließ sich glücklicherweise in Nordafrika nicht durchsetzen. Die „Europäische Lösung“ findet nun auf dem Mittelmeer statt. Mörderisch, aber scheinbar vernünftig und gut, mit staatlichen Gnadenakten für NGO-Seenotretter*innen und einige wenige Boat-people. Seehofer, der wegen des Massengrabs im Mittelmeer vor das Gericht der Geschichte gehört, lächelt dank der „Europäischen Lösung“ in die Fernsehkameras.

Wir werden mit unserer punktuellen, kriminalisierten und ausgehungerten Seenotrettung zu einem Spielball dieser Policy. Fix und fertig freuen wir uns riesig über den glimpflichen Ausgang für ganz Wenige, und drohen unsere Glaubwürdigkeit und Widerständigkeit ungewollt einzubüßen.

H.D., 11.01.2019

From the „Australian Solution“ to the „European Solution“

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