Am 24. Juli kündigte der türkische Innenminister Süleyman Soylu an, dass türkische Autoritäten damit begonnen haben, illegalisierte Migrant*innen und Geflüchtete abzuschieben. Und nur wenig später berichteten unter anderem die taz und Aljazeera bereits von über 6.000 Inhaftierungen und Deportationen innerhalb der Türkei sowie nach Syrien und in den Iran.

Die Initiative WeWantToLiveTogether, die zu Demonstrationen und Solidaritätsbekundungen aufrief, wir berichteten am 31. Juli 2019, hat in ihrem am 08. August 2019 veröffentlichen Report Two weeks of deportations ein erstes Resümee gezogen: Dokumentiert sind zahlreiche Fälle, in denen Migrant*innen und Geflüchtete ohne Registrierung, aber auch Menschen mit temporärem Schutzstatus, bereits abgeschoben worden sind. Und das auch nach Idlib, in Kriegsgebiet.

Die Vorwürfe, die die Initiative erhebt, wiegen schwer: Migrant*innen und Geflüchtete seien unter Androhung von Gewalt gezwungen worden, Dokumente der freiwilligen Ausreise zu unterschreiben. Abschiebungen seien brutal durchgeführt worden, Menschen seien gefesselt worden oder von der Polizei zusammengeschlagen worden. Sich dem Dementi türkischer Autoritäten entgegenstellend, sammelt der Two weeks of deportation Beispiele dieser brutalen, menschenrechtsverletzenden Abschiebepraxis.

Die Abschiebungen in Regionen, in denen es erwiesenermaßen zu Kriegshandlungen kommt, verstoßen sowohl gegen türkisches als auch gegen internationales Recht.

Facebook is flooded with posts of the names and photos of deported Syrians, detailing how they were forced to sign voluntary return documents, the degrading treatment they faced during their detention and deportation, including physical abuse and insults.

Harekact │ 15.08.2019

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State officials have given statements that do not reflect the reality of the situation. This context has made the preparation of this report obligatory. In this report you will find the story of a young man who had to leave his three younger siblings, aged between 6 and 16, alone simply because his registration was in another city. You will also learn about Hisham Mustafa, who, after being deported form Istanbul, tried to re-enter the Turkish border in an effort to reach his wife and child who were remaining in Istanbul, and who was killed on the border by Turkish police. […] [Y]ou will find the detailed case of a man, named here as Mohamed, who, despite having his temporary protection registration in Gaziantep, was forced to sign a Voluntary Return Document, and then deported.

WeWantToLiveTogether Initiative │ 08.08.2019

Zu Beginn hatten türkische Autoritäten angekündigt, die Abschiebungen am 20. August beginnen zu wollen. WeWantToLiveTogether fragt, was noch folgen soll, wenn die brutalen Abschiebungen bisher nur das „inoffizielle Vorspiel“ waren und verurteilt den psychischen Stress, den Migrant*innen und Geflüchtete dadurch ausgesetzt sind, aufs Schärfste.

But in the Istanbuls Governante’s statement made on 22 July 2019 it was announced that Syrians in Istanbul who were either registered elsewhere [registration in Istanbul has been closed since the end of 2017]. Despite this statement, there is significant evidence to suggest that armed forces have already started detaining unregistered Syrians in Istanbul. This situation is causing us deep concern about what may follow after 20 August.

WeWantToLiveTogether Initiative │ 08.08.2019

Diesen psychischen Stress, die massive Angst, beschreibt HarekAct! als „Belagerungszustand“ und zeigt auf, wie sich die Repressionen auf den Alltag der Menschen auswirken.

Hundreds of thousands of Syrians are currently living under siege in Turkey, particularly in Istanbul. Using the term “siege” is no exaggeration here – many don’t dare step out of their homes to secure their basic needs. They cannot go to work, and they can’t even leave their homes in order to try and correct their legal situation, according to the demands of the Turkish government. Even in their homes, tens of thousands of Syrians don’t feel safe. It is reported that Turkish police patrols have entered homes in Istanbul and Gaziantep, arresting anyone without a Temporary Protection ID, and even those who have Temporary Protection IDs but registered in different provinces.
The fear overwhelming Syrians in Turkey today is compounded and multi-layered. Just as resources are distributed unequally in this world, the level of fear amongst Syrians varies with their legal and economic situation. Nevertheless, all are scared, and their fear is a complex tale that could seem hard to explain. […]

Syrians in Turkey are reliving their worst nightmares, carried over from their time in Syria where people were detained and even killed by the Syrian regime on a daily basis. […] The high wave of aggression, racist and hateful speech has been a catalyst for exacerbating this fear. Syrians have to deal with this aggression everywhere – from government institutions, on public transportation, in markets and on the streets. Life in Turkey has since become unbearable for the majority of Syrians.

Harekact │ 15.08.2019

Diese massiven Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, des Sicherheitsgefühls und des Alltaglebens wären schon schlimm genug. Doch es geht noch schlimmer.
Wie dramatisch die Situation ist, zeigt ein Beispiel, das der Syrer Sadek Abdul Rahman im HarekAct!-Beitrag beschreibt. Er erzählt von einem sehr kranken Freund, lebend in Istanbul, der sich nicht traut, ein Krankenhaus aufzusuchen, weil seine ID-Card mit temporärem Schutzstatus nicht in Istanbul ausgestellt wurde. Unter Begleitung einer Freundin (Frauen werden momentan noch seltener kontrolliert als Männer), wagt er den Arztbesuch und wird erfolgreich operiert – die Freude ist groß. Aber Sadek Abdul Rahman trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er schreibt „Isn’t it strange that we have now come to celebrate getting access to health care?“.

Und die EU? Schweigt. Wie eigentlich immer in den vergangenen Jahren, wenn es um Menschenrechtsverletzungen in und um EUropa geht. Valeria Hänsel, Mitglied von KritNet, erklärt das auch mit der türkischen Ankündigung, den EU-Türkei-Deal aufzukündigen zu wollen.

Was wäre, wenn die Regierung Präsident Erdogan tatsächlich aufhören würde, die Fluchtmigration nach Europa gewaltsam zu stoppen, wenn schutzsuchende Menschen nicht mehr an den Küsten der Türkei festgenommen und in Abschiebegefängnissen inhaftiert, wenn die Schlauchboote mit Fliehenden nicht brutal im ägäischen Meer gestoppt und zurück in die Türkei gebracht würden? Was würde passieren, wenn die türkische Regierung gar aufhören würde, Fliehende an der Grenzmauer zu Syrien aufzuhalten, an der schon zahlreiche Menschen erschossen wurden?

Ohne diese Maßnahmen würde die Gewalt, die angewendet wird, um die Fluchtmigration zu stoppen, im Inneren Europas wieder sichtbarer. Dann würde es sehr viel schwieriger, Tausende von schutzsuchenden Menschen in den ohnehin schon völlig überfüllten und stacheldrahtumzäunten Lagern auf griechischen Inseln, wie etwa auf Lesbos, festzuhalten. Dann müsste sich die EU-europäische Politik vielleicht doch ernsthaft mit Fluchtursachen, Fragen globaler Ungleichheit, ökonomischen Ausbeutungsstrukturen, Klimawandel, Rüstungsexporten sowie mit der eigenen Vormachtstellung und Rolle in globalen Konflikten auseinandersetzen.

Daher haben EU-Politiker*innen bislang beide Augen gegenüber den systematischen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei verschlossen […].

Die selbstgewählte europäische Abhängigkeit von der Türkei geht inzwischen soweit, dass die EU nun sogar still hält, wenn Menschen aus der Türkei direkt in syrische Kriegsgebiete zurückgeschickt werden. So begann mit der kurzzeitigen Aussetzung des Deals Ende Juli in der Türkei eine Festnahme- und Abschiebewelle von Syrer*innen. Seither häufen sich Videos von mit Plastikbändern gefesselten Personen, die in türkische Gefängnisse gebracht und dann weiter ins syrische Idlib abgeschoben wurden […].

Welche politischen Motivationen auch hinter den Abschiebungen aus der Türkei nach Syrien liegen mögen: Die EU sieht weitgehend tatenlos dabei zu, wie die aus Griechenland in die Türkei deportierten Syrer*innen von türkischen Behörden direkt in ein Kriegsgebiet ausgeliefert werden, in dem zahlreiche Menschen zu Tode kommen. Das Ausbleiben politischer Reaktionen aus der EU ist ebenso ein Armutszeugnis, wie die Praxis der Auslieferung von Geflüchteten nach Libyen im zentralen Mittelmeer.

Valeria Hänsel │ RLS │ 13.08.2019

Brutalste Abschiebungen aus der Türkei – und die EU schweigt