Die Africom hat ihre US-Soldaten aus Libyen abgezogen, die italienische Petro-Gesellschaft ENI hat ihre italienischen Mitarbeiter*innen aus Italien abgezogen, und die Kriegsschiffe der Eunavfor-med-Marineoperation der EU wurden vollständig abgezogen. Aber die zum Phantom verwandelte sogenannte libysche Küstenwache wird auch in diesen Tagen des ausgerufenen Bürgerkriegs von EU-Soldaten trainiert, und die IOM, die UN-Organisation mit den besten Drähten zu den Verwaltern der libyschen Internierungslager, bleibt vollständig in Libyen und ist weiterhin aktiv. Einige Flüchtlingslager befinden sich unmittelbar im Kriegsgebiet zwischen den angreifenden Truppen des ostlibyschen „Generals“ Haftar und den westlibyschen Milizen. Die NGO „Sea-Eye“, die mit 64 Geretteten im zentralen Mittelmeer blockiert ist, spricht von einer wachsenden „Nachrichtensperre“ der EU gegenüber der Seenot fliehender Boat-people.

In den letzten Jahren hat es mehrfach kriegerische Auseinandersetzungen in und um Tripolis gegeben, die das aktuelle Ausmaß erreicht haben – aber es waren militärische Kämpfe lediglich unter westlibyschen Milizen. Die Kunde davon gelangte kaum in die Weltöffentlichkeit.

Seit März 2019 haben sich die westlibyschen Milizen zu einer Front „gegen die drohende Militärdiktatur“ zusammengeschlossen, als der Eroberungsfeldzug von Haftars Truppen zunächst Richtung Süd-Libyen begonnen hatte.

Eine Militärdiktatur in Libyen bedeutet Krieg rund um Tripolis und offene, mörderische Repression nach ägyptischem Vorbild. Die Herrschaft der skrupellosen westlibyschen Milizen, die die Internierungslager betreiben, die fliehenden Boat-people einfangen und foltern lassen, würde schlicht und einfach von den Haftar-Truppen, falls sie siegen, übernommen werden.

Die vorverlagerte Festung Europa an der westlibyschen Küste wurde in der EU anscheinend zunehmend als obsolet betrachtet. Die sogenannte libysche Küstenwache war immer häufiger „out of order“, oder ihre schiessenden Kommandoaktionen gegen Boat-people und NGO-Schiffe gerieten für die EU zum Prestigeverlust.

Richtige militärische Truppen könnten nicht nur im Gleichschritt paradieren, sondern würden auch nicht mehr auf das Milizengeschäft zurückgreifen: Erst durch Folter den Flüchtlingsangehörigen Geld abpressen, dann sie gegen Geld auf Boote setzen, um sie schließlich für EU-Geld wieder einzufangen – all das wäre vorbei. Eine richtige durchorganisierte Militärdiktatur in Libyen, die die Küsten effektiv kontrolliert – das könnte der stille Traum in so manchen EU-Gremien sein. Nun wird erstmal der Scherbenhaufen der italienisch-europäischen EU-Politik inszeniert.

Vielleicht ist die Versuchung einer Militärdiktatur viel tiefer im europäisch-nordafrikanischen Herrschaftsverhältnis angelegt. Ein offiziöser Think-Tank der EU veröffentlichte im März 2019 die Ergebnisse eines großen Forschungsprojekts: Der nächste große Aufstand in Nordafrika komme bestimmt. Und im Unterschied zur Arabellion 2010/2011 werde die EU dezidiert die alten Machthaber gegen den künftigen Aufstand verteidigen. Von einem „arabischen Frühling“ werde man in Europa nicht mehr sprechen.

Zumindest ein „algerischer Frühling“ hat begonnen: Seit sechseinhalb Wochen demonstrieren Millionen Algerier*innen auf der Straße. Ihren Präsidenten haben sie bereits davongefegt. Die algerischen Basisgewerkschafter*innen versuchen, die alte Gewerkschaftsführung abzusetzen. Die Journalist*innen des Staats-TVs wollen „das Fernsehen befreien“. Die Anwält*innen gehen gegen die Gerichte vor. Die Studierenden demontieren die strukturellen Vorgaben des Bildungsministeriums. Die Gesellschaft ist im Aufbruch. Die Spitzen des algerischen Militärs, das das zweitmächtigste Afrikas ist, loten halboffen ihre Optionen in alle Richtungen aus. – Das marokkanische Militär startet das größte Manöver seiner Geschichte, und zwar direkt an der Grenze zu Algerien.- Haftars Truppen werden vom ägyptischen Militär gestützt.

Am erstaunlichsten ist in diesen Tagen, dass sich im Aufbruch in Algerien keine Milizen mit Politprogrammen bilden und auch keine Warlords den Kopf erheben. Auch haben sich keine Revolutionsräte oder Sektionskomitees gebildet. Eine Militärdiktatur könnte keinen Krieg inszenieren und auch keine Organisation enthaupten. Ein solcher Aufbruch scheint eine wichtige Lehre aus der Vergangenheit zu sein. Zukunft ungewiss, aber voller Hoffnung.

 

 

Libyen, Algerien: Die Versuchung einer Militärdiktatur

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