In Agadez (Niger) gibt es eine neue Krise. Lastwagen, die Menschen aus ganz Afrika befördern, kommen immer noch an diesem Kreuzweg an, an dem sich seit Jahrhunderten Männer und Frauen aus ganz Afrika treffen und alle Arten von Waren und Männern gehandelt werden. In den letzten Monaten endet für die meisten Migranten die Reise jedoch hier, unabhängig vom Zielort. […]

Um die Migrationskrise einzudämmen, hat die Europäische Union den afrikanischen Ländern jedoch Notfallfonds zugesagt, unter der Bedingung, dass sie die Krise der Migranten in Schach halten. Der Niger ist einer von ihnen. Für den Zeitraum 2017-2020 erhält das Land eine Milliarde Euro. Selbst der Präsident des Europäischen Parlaments Antonio Tajani sagte, dass Niger ein Modell ist, das für andere Länder der Sahelzone kopiert werden soll. Agadez ist jedoch zu einem Engpass geworden. Tausende von Migranten kommen nicht weiter und können nicht zurückkehren. Und die Spannung steigt.[1]Africa Vista | 15.03.2019

Aktuelle Bilder aus Agadez gibt es auf YouTube.

Maimou Wali hat im August 2018 in einer Broschüre von Brot für die Welt über eine Erhebung berichtet, die sich auf die geschmälerten oder auf Null reduzierten Chancen der Jugend in Agadez bezieht. Der Titel der Broschüre lautet:

„Es ist, als hätte man uns die Luft abgeschnürt“.
Perspektiven der Jugend in Agadez auf die Auswirkungen der europäischen Migrationspolitik in Niger

Da die Publikation nicht Online zugänglich ist, erfolgt hier eine Zusammenfassung und Besprechung. Wali arbeitet als Sozialwissenschaftlerin in Niamey. Ihre Befunde beruhen auf Interviews und interaktiven Workshops, an denen mehr als 150 Personen, insbesondere Jugendliche, teilgenommen haben. Sie schreibt:

Es handelt sich bei der vorliegenden Arbeit um eine Bestandsaufnahme der Gedanken und Vorschläge der örtlichen Bevölkerung und nicht um eine wissenschaftliche Analyse (Wali S.7)

Aber genau solche Interviews und Bestandsaufnahmen sind es, die in der üblichen Berichterstattung meistens fehlen. Die Erhebung zielte darauf ab,

  • die konkreten Auswirkungen der externalisierten Migrationspolitik der EU auf die lokale Mobilität, das tägliche Leben der lokalen Gemeinschaften, insbesondere junger Menschen, in der Region zu identifizieren,
  • die Ansichten, Erwartungen, Perspektiven und Wünsche der Jugend im aktuellen Kontext zusammenzutragen
  • die Meinungen der Akteure angesichts der aktuellen Lösungen zusammenzutragen, damit Empfehlungen für eine bessere Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse formuliert werden können. (Wali, S.21)

Wali schreibt für Brot für die Welt, aus einer Perspektive der Einrichtungen, die Abhilfe von der EU-produzierten Misere in Form besser platzierter EU-Gelder und Entwicklungsbemühungen suchen, ohne die Militarisierung der Region zu vertiefen und ohne Bezug zu den bestehenden Sozialstrukturen. Etwas pointiert könnte man sagen, dass inzwischen der Süden Nigers vom Militär beherrscht wird und der Norden von den NGOs. Statistisch gesehen gehört die Bevölkerung zur ärmsten der Welt. Knapp 50% sind unter 15 Jahre alt. Die Region Agadez steckt voller Bodenschätze, von denen das von einer französischen Gesellschaft geförderte Uran das prominenteste Beispiel ist.[2]Afrieque-Europe-Interact Gesellschaften aus dem globalen Norden stecken im Hintergrund und dank Sicherung durch internationale Militärverbände ihre Claims ab. Ihre Interessen an entvölkerten Schürfgebieten stehen im direkten Widerspruch zu denen der lokalen Bevölkerung, deren Lebensweise durch Mobilität und Connectivity, Migration und Transmigration, lokalen Austausch und Fernhandel geprägt ist.

Bei Walis Untersuchung haben sich vier Kernthesen herauskristallisiert:

  1. Die Umsetzung des Nigrischen Gesetzes 2015-36, das – auf Intervention der EU hin – Tätigkeiten in Zusammenhang mit der Migration unter Strafe stellt, hat negative Folgen für die gesamte Wirtschaft, Gesellschaft und Innere Sicherheit.
  2. Die Begleitmaßnahmen zur Förderung wirtschaftlicher Alternativen sind unzureichend.
  3. Die Maßnahmen der EU und anderer Akteure haben zu einem gestörten Vertrauen der Bevölkerung gegenüber zivilgesellschaftlichen Organisationen und lokalen Behörden geführt.
  4. Es besteht die Gefahr einer Radikalisierung, insbesondere der Jugend. (Wali, S.7)

Eine vier Monate zuvor von der SWP veröffentlichten Studie von Melanie Müller, die auf Interviews mit „politischen Entscheidungsträgern, WissenschaftlerInnen und MitarbeiterInnen von zivilgesellschaftlichen und internationalen
Organisationen“ beruht, trägt den Titel Präsident Issoufou wagt, der Norden verliert.

Auch Müller verzichtet darauf, die Einbettung der europäischen Politik in das militärische Umfeld zu beschreiben. Aber die Externalisierung der EU-Migrationspolitik wird in dieser Studie eingehend erörtert; die Publikation der SWP, in der Müllers Studie veröffentlicht wurde, steht unter dem Titel Migrationsprofiteure?[3]Anne Koch, Annette Weber, Isabelle Werenfels (Hg.), Migrationsprofiteure? Autoritäre Staaten in Afrika und das europäische Migrationsmanagement, SWP Studie 3, Berlin 2018 und bezieht sich dabei auf autoritäre Regimes nicht nur in Niger, sondern in Nordafrika von Marokko bis Ägypten und Sudan – sie folgt darin dem verdienstvollen Buch von Simone Schlindwein und Christian Jakob, Diktatoren als Türsteher Europas.

Die Region Agadez bis 2015

Die Region Agadez nimmt etwas mehr als die Hälfte des Niger ein und hat gut eine halbe Millionen Bewohner. Sie grenzt im Norden an Algerien und Libyen, im Westen an Mali und im Süden an andere Regionen des Staatsgebiets Niger. Es gibt in der Region kein ausgebautes Straßennetz,[4]Bilder von einer Autofahrt von Niamey nach Agadez: YouTube Reisen über Land sind in der Regenzeit und aufgrund der Sicherheitslage schwierig. „Das staatliche Gewaltmonopol ist außerhalb der Hauptstadt Niamey und insbesondere im Norden des Landes sowie im Grenzgebiet zwischen Nigeria und Mali schwach ausgeprägt“, schreibt Müller.

Die Bevölkerung der Region lebt seit Jahrhunderten von zirkulärer Migration und Agadez war seit Jahrhunderten eine Drehscheibe des Transsaharahandels. In den 1960er Jahren war die Stadt zudem ein Zentrum des Gemüseanbaus und -handels. Seit den 1970er Jahren entwickelten sich der französische Uranabbau und die nigrische Kohleförderung in der Region.

Zur selben Zeit kurbelte der Tourismus den Verlauf von handwerklichen Produkten, den Bau von Hotels, kleineren lokalen Restaurants und Gasthöfen an. Erfolgreiche Geschäftsverbindungen zwischen Agadez und Algerien sowie Agadez und Libyen entstanden. […] Dank dieser wirtschaftlichen Möglichkeiten spürte die Jugend in Agadez wenig von der großen Trockenperiode der 70er Jahre in Niger.

Saisonale Arbeitsmigration in Richtung Libyen und Algerien gab es schon immer. Diese Form der Migration in die Nachbarländer stellte eine ganz normale lokale wirtschaftliche Wanderbewegung dar und betraf alle jungen Nigrer*innen aus der Region Agadez und anderen Regionen Nigers. (Wali, S.8)

Infolge der Tuareg-Aufstände von 1990 kam der Tourismus zum Erliegen; es entwickelte sich das Geschäft mit der Migration als wirtschaftliche Alternative zum Tourismus und eröffnete eine Möglichkeit zur Reintegration der Tuareg-Kämpfer.

Offiziell wurden ab dem Jahr 2000 die ersten Vermittlungsagenturen im Busbahnhof von Agadez gegründet. Die Aktivität wurde durch den Staat legalisiert und reglementiert. […]

Damals wurden diese Netze vollständig durch Nigrer (vor allem ehemalige Kämpfer) verwaltet und kontrolliert: (sie) kümmerten sich um die Beförderung, manche Familienoberhäupter boten Übernachtungsmöglichkeiten an, die Frauen die Verpflegung und junge Menschen beschäftigten sich mit diversen anderen Dienstleistungen in diesem Sektor. Zwischen 2000 und 2006 konnte die Region Agadez gewissermaßen aufatmen. Das führte zu einer Wiederbelebung des Tourismus: es gab wieder Direktflüge nach Agadez, in der Urlaubssaison lebte man von den Einnahmen aus den Hotels, von der Renovierung von Häusern und dem Verkauf von Tuareg-Schmuck. (Wali, S.8)

Müller beschreibt die Fortsetzung dieser Geschichte: die erneute Tuareg-Rebellion 2007-2009 und den erneuten Aufstieg der Migrationswirtschaft:

In den letzten zehn Jahren hat Migration als ökonomischer Faktor für den Norden Nigers langsam, aber kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. Bis zum Jahr 2007 war der Tourismus ein wichtiger Wirtschaftszweig. Die Rebellion der Tuareg-Fraktion MNJ (Mouvement des Nigériens pour la Justice) 2007 bis 2009 setzte dem ein Ende. Geiselnahmen und Anschläge durch jihadistische Netzwerke wie AQIM (al-Qaida im Maghreb) und MUJAO (Bewegung für Einheit und Jihad in Westafrika) sorgten dafür, dass sich die Lage auch danach nicht entspannte – im Gegenteil. Für die lokale Bevölkerung, die zuvor im Tourismussektor gearbeitet hatte, entwickelte sich der Migrationssektor zur Alternative, zumal die politische Unsicherheit im Sahel immer mehr Menschen zum Weggehen bewog. Der Staatszerfall Libyens im Jahr 2011 führte zu einem rasanten Anstieg der Transitmigration, weil die Menschen an der libyschen Grenze nicht mehr abgehalten wurden. Spätestens seit diesem Zeitpunkt spielte die Migrationsökonomie im Norden eine nicht zu unterschätzende Rolle, und verschiedene gesellschaftliche Akteure hatten daran teil.

Gut entwickelte Netzwerke vornehmlich der Tubu und der Tuareg übernahmen den Transport westafrikanischer MigrantInnen entlang strategischer Knotenpunkte. Die Tuareg-Netzwerke sind für die Route nach Algerien zuständig, die über Arlit verläuft; sie kontrollieren zudem die Strecke zu den Tchinchaden-Goldminen. Die Tubu wiederum haben den Weg nach Libyen über Dirkou und die Strecke zu den Djado-Goldminen unter ihrer Kontrolle. Arbeitsmigration aus Niger und Westafrika zu diesen Goldminen verstärkte die Migrationsdynamik also noch. (Müller, S.39)

Die Konflikte im Norden Malis 2012 bewirkten, dass Niger als Transitland weiter an Bedeutung gewann.

Auch Menschen auf der Durchreise müssen irgendwo Halt machen, benötigen Unterkünfte, Dienstleistungen, Waren. Darauf richteten sich Etappenziele wie die Städte Agadez, Arlit, Dirkou oder Séguédine ein, in denen Migrierende teils Wochen oder gar Monate verbrachten, um sich auf die Weiterreise vorzubereiten. Die Unterbringung erfolgte häufig in ghettoartigen Quartieren; 70 solcher »Ghettos« meldete die nigrische Polizei laut Frontex im Jahr 2015.

Der temporäre Aufenthalt der MigrantInnen entwickelte sich zu einem vergleichsweise lukrativen Geschäft. Allein in Dirkou arbeiteten schätzungsweise 60 Prozent der 18- bis 25-Jährigen im Transportsektor, nach Agadez strömten Arbeitssuchende auch aus anderen Landesteilen. Dies hatte Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung: In nur vier Jahren – zwischen 2012 und 2016 – verfünffachte sich die Einwohnerzahl der Stadt von 100 000 auf 500 000. (Müller, S.40 f.)

Mit wachsender Dynamik kamen zahlreiche junge Tubu aus umliegenden Regionen in die Stadt, die zum Teil über leistungsfähige 4×4-Fahrzeuge aus libyschen Beständen verfügten. Zugleich blieben Migrant*innen aus den Herkunftsländern in Agadez und arbeiteten als Manager*innen in den Unterkünften und als Vermittler*innen. Es entwickelte sich eine multiethnische Metropole, in der sich die verschiedenen transafrikanischen Netzwerke überschnitten und in Kontakt traten. Sozialwissenschaftler*innen sprechen von einem afrikanischen Kosmopolitanismus – Agadez war ein Ort, wo dieser Kosmopolitanismus sich belebte. Mehrere Publikationen zeigen sich überrascht von dem vergleichsweise friedlichen und von Toleranz geprägten Handel und Wandel in der Stadt.

Einen Eindruck vom Leben in Agadez vermitteln eine Reihe von YouTube-Videos[5]z.B. YouTube. Eine sehr anschauliche Schilderung eines quasi aus dem Nichts aufploppenden quirligen Handelszentrums finden wir im Einleitungskapitel des Buchs von Judith Scheele, Smugglers and Saints.[6]Judith Scheele, Smugglers and Saints of the Sahara. Regional Connectivity in the Twentieth Century, New York: Cambridge University Press, 2012. Orte wie diese können nur existieren in einem Netzwerk von Beziehungen, in denen es nicht nur um Einkommen und Bereicherung geht, sondern auch um Prestige und Elemente einer „moralischen Ökonomie“. Konkret in Agadez wäre es spannend, mehr über das Überlappen von arabischen, tuareg- und tubu- und von subsaharischen Netzwerken zu erfahren.

Viele von Scheeles Eindrücken finden sich in einem Bericht des AEI-Aktivisten Olaf Bernau wieder:

In der Stadt selbst (deren Zentrum zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört) fiel zunächst einmal die Bauweise ins Auge: Die meisten Häuser sind von Lehmmauern umfasst bzw. sind Teil dieser Mauern, allerdings kaum mit Fenstern zur Straße, so dass die Straßen wie lange Korridore wirken. Gleichzeitig waren in den Stadtteilen sehr viele Menschen auf den Straßen unterwegs – dem oberflächlichen Eindruck nach Frauen und Männer gleichermaßen (anders als im Zentrum, wo mehr Männer zu sehen sind). Dabei war einmal mehr interessant, dass es kaum Dinge gibt, die materiellen Wohlstand signalisieren, d.h. die ökonomische Marginalisiertheit der Region scheint mit Händen greifbar […]

Interessant war des weiteren, dass die ökonomische Marginalisiertheit ganz offensichtlich mehrere Abstufungen kennt: In vielen der eben erwähnten Umfassungsmauern stehen lediglich Hütten aus Planen – einfach, weil die Menschen nicht über die finanziellen Mittel verfügen, richtige Häuser zu errichten (teils handelt es sich um Mieter*innen, die in den von Mauern umfassten Grundstücken ihre Verschläge bauen, teils um die Besitzer dieser Grundstücke, die aber kein Geld für den Bau von Häusern auf ihren Grundstücken haben). Zudem sind wir während unserer Tour auch am IOM-Zentrum vorbeigekommen, wo die Rückgeschobenen bzw. in der Wüste aufgegriffenen Migrant*innen unterkommen. Das Zentrum ist ganz offensichtlich überfüllt, entsprechend hielten sich in den Straßen um das Zentrum Hunderte junger Migrant*innen auf, auch vor zahlreichen kleinen Ständen und Geschäften, die sich rund um das Zentrum angesiedelt haben. Auch dies hat anschaulich gezeigt, dass die Hotspot-Logik in Agadez zu greifen begonnen hat.[7]Olaf Bernau, Bericht AEI Delegationsreise, Februar 2019

Der Einbruch 2015

In diese neue Blüte der Stadt hinein stieß des neue Gesetz 2015-36 aus Niamey, das den Personentransport unter Strafe stellte. Vielleicht hätten die zum Teil informell betriebenen Goldmienen von Djado zur Kompensation dienen können, aber sie wurden im gleichen Jahr geschlossen.

Von einem Tag auf den anderen wurden all die Aktivitäten im Zusammenhang mit der Transmigration für illegal erklärt. Es gab zahlreiche, teils willkürliche Verhaftungen, Fahrzeuge wurden konfisziert und Unterkünfte geschlossen.

Der Jugend ist nichts geblieben. Das Gefühl der Enttäuschung sitzt tief. Frustration und Beschäftigungslosigkeit haben dazu geführt, dass sich Jugendliche an verborgenen Orten treffen, ihren Frust austauschen und zunehmend Drogen konsumieren, um dem Alltag zu entfliehen. (Wali, S.11)

In der älteren Generation und bei den lokalen Autoritäten herrsche große Besorgnis. Erinnerungen an die 1990er Jahre würden wach. Melanie Müllers Interviews mit lokalen Akteuren ergaben einen ähnlichen Eindruck: Unverständnis, warum sich Niamey zum Büttel der EU machen ließ. (Müller, S. 45) Die finanziellen Kompensationen der EU greifen nicht, weder die Jugendlichen noch die lokalen Autoritäten wurden in die Planungen einbezogen. Die einzelnen Projekte sind bei Wali (S. 14 ff.) beschrieben.

Ein Bericht von Uli Rauss im Stern stützt diese Beschreibung:

Die Wirtschaft in der Stadt ist fast zum Erliegen gekommen. Zwar finanziert die EU „Aktionspläne“ und Projekte zur Ankurbelung der örtlichen Ökonomie. Sie sollen alternative Einnahmequellen auch für die einstigen Gewinner der Migrationsindustrie schaffen. Mehr als 5000 Passeurs haben sich losgesagt vom Menschenschmuggel und in Bewerberlisten eingetragen.

Doch schon die Pilotphase des Projekts erstickt in der Bürokratie. Der Schwarzhandel mit ausgefüllten Anträgen zur Finanzierung von Geschäftsideen blüht. Nur wenige Start-ups sind bewilligt, das von Issa Kilila zum Beispiel. Nur: Was soll einer wie er, der bislang 20 Familienmitglieder versorgen konnte, als Taxiunternehmer mit einer EU-finanzierten dreirädrigen Motor-Rikscha – ohne Kunden?

„Es gärt in Agadez“, sagt er warnend. Es wäre nicht das erste Mal, das von hier aus eine Rebellion losbricht. „Wenn in fünf Jahren alle arbeitslos sind und die Dschihadisten mit Geld winken, werden sie Zulauf haben.“ Al-Qaida, der IS, Boko Haram, sie alle sind in der Region aktiv. Die US-Luftwaffe errichtet bei Agadez eine Drohnenbasis für 110 Millionen Dollar, 500 Soldaten sollen hier stationiert werden. Französische Militärs sind im Land, um Anti-Terror-Operationen in Mali abzusichern – und den Uranabbau für Frankreichs Kernkraftwerke.[8]Stern | 13.08.2018

Für die TAZ war Christian Jakob im Dezember 2017 in Agadez. Er schreibt über eine Berechnung des Verlusts für Agadez von 100 Millionen Euro im Jahr:

Der Regionalrat von Agadez hat im Oktober 2016 eine Studie vorlegt, die zeigen soll, welchen Verlust die neue Politik für die Region bedeutet: Für Unterkunft, Essen, Proviant, Ausreisesteuer und die Fahrt habe jeder Migrant demnach umgerechnet 295 Euro in der Stadt gelassen. Die IOM schätzt, dass 2016 insgesamt 330.000 Menschen durch Agadez reisten. Demnach entstehe ein Verlust von etwa 100 Millionen Euro im Jahr, so der Regionalrat.

Entsprechend unbeliebt ist die neue Politik in Agadez. Also musste Nigers Präsident Issoufo einen Auswärtigen als Gouverneur nach Agadez schicken. Am Abend sitzt der aus dem Westen Nigers stammende Sadou Soloke, bewacht von der Nationalgarde, in seinem Amtssitz, in Sichtweite der Büros der Vereinten Nationen, der IOM und der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit. Er trägt das ausladende weiße Gewand, das hier Babban Riga heißt, dazu eine rote Filzkappe. „Wir machen das nicht, weil die Europäer das sagen, auch wenn viele das behaupten“, sagt er. Der Kampf gegen die Schlepper sei richtig, sagt Soloke, „weil sie nach unserem Gefühl inhuman sind und die Jugend gefährden“.[9]taz | 18.12.2017

Die Migrant*innen in Agadez

Neue Routen der Transsahara-Migration umgehen Agadez. Die Gefahr für die Migrant*innen wie auch für die Transporteure ist gestiegen, und dem entsprechend sind auch die Fahrpreise gestiegen. Die Transporteure sind mit Satelliten-Telefonen, GPS und Waffen ausgerüstet, die Migrant*innen verstecken sich tagsüber in den Bergen nördlich der Stadt und stellen sich jede Nacht neuen Herausforderungen. Ob die Maßnahmen zu einem Rückgang der Migration geführt haben, wird bezweifelt, zum Beispiel von Julien Brachet, einem hervorragenden Kenner der transsaharischen Migrationsbewegungen.[10]FFFM | 14.01.2019, vgl. Brachet, The blind spot of repression: migration policies and human survival in the Sahara. In T.-D. Truong and D. Gasper (eds) ,The migration-development-security nexus, … Continue reading Sicher sei nur, dass Agadez und andere Städte umfahren würden.

Die beschlagnahmten Fahrzeuge der Schlepper stehen im Kasernenhof von Agadez, Foto: Christian Jakob

Neben diesen Transmigrant*innen gibt es in Agadez selbst zahlreiche Personen, die dort mehr oder weniger fest stecken:

Offenbar befinden sich in Agadez derzeit viele Migrant*innen, die aus Algerien und Libyen zurückgeschoben wurden und nun vor der Wahl stehen, sich entweder von der IOM nach Hause bringen zu lassen oder sich in Agadez zu erholen, um einen neuen Anlauf nach Norden zu wagen.

Konkreter: Die rückgeschobenen Migrant*innen werden vor allem von Algerien am Point Zero abgesetzt, einem sogenannten „Punkt Null“ an der algerisch-nigrischen Grenze nördlich von Arlit (bei dieser Gruppe handelt es sich vor allem um Migrant*innen, die bei Razzien in Algerien oder Libyen festgenommen wurden). Von dort müssen die Migrant*innen 15 Kilometer nach Assamaka laufen (die erste Stadt auf nigrischer Seite), was in der Wüste eine gewaltige und somit hochgradig gefährliche Distanz ist, wobei hinzugefügt sei, dass inzwischen auch die IOM und Médecins sans Frontières (Ärtze ohne Grenzen) die zu hunderten am Point Zero ausgesetzten Migrant*innen mit Bussen abholen und nach Agadez bringen – allerdings nicht alle und manchmal auch verspätet (zu denjenigen, die nicht abgeholt werden, gehören z.B. Migrant*innen, die psychisch krank erkrankt sind und sich auffällig verhalten). Interessant ist nun zweierlei: Viele der rückgeschobenen Migrant*innen betrachten das IOM-Center in Agadez als eine Möglichkeit, sich auszuruhen, medizinisch versorgen zu lassen und wieder zu Kräften zu kommen, um sodann einen abermaligen Migrationsversuch zu unternehmen . Sie (lassen) dabei aber ungleich weniger Geld in der Stadt als früher die normalen Transitmigrant*innen. Im IOM-Center in Agadez landen auch jene Migrant*innen, die innerhalb des Nigers von Sicherheitskräften aufgegriffen oder in der Wüste gerettet wurden. Nicht wenige dieser Migrant*innen werden temporär als Billigarbeitskräfte angestellt und (sind) somit für die ebenfalls extrem armen Bewohner*innen von Agadez zur Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt geworden (was wiederum Proteste der lokalen Bevölkerung nach sich gezogen hat).

Diese zurückgeschobenen oder aufgegriffenen Migrant*innen sind nochmal von einer dritten Gruppe zu unterscheiden: Asylbewerber*innen (vor allem aus Sudan, Eritrea und Somalia), die in Niger einen Asylantrag beim UN-Flüchtlingskommissar stellen, in der Hoffnung, von einem der reichen Industrieländer im Rahmen des sog. UN-Resettlement-Verfahrens direkt aufgenommen zu werden. Diese Personen sind entweder von der IOM aus Libyen ausgeflogen worden (nachdem sie in Libyen oder auf Booten im Mittelmeer festgenommen wurden) oder sie befanden sich auf ihrem Weg via Niger Richtung Norden) und wurden von den Behörden dazu gedrängt, in Niamey oder in einem 15 Kilometer von Agadez entfernten UNHCR-Flüchtlingslager einen UNHCR-Asylantrag zu stellen.

Hinzu kommen schließlich nigrische Binnenmigrant*innen, die z.B. aus Zinder oder Maradi im Südosten des Landes stammen und traditionell subalterne Arbeiten verrichten und häufig unter noch prekäreren Bedingungen leben als die ansässige Bevölkerung von Agadez.[11]Olaf Bernau, Bericht AEI Delegationsreise, Februar 2019

Ein Krieg niedriger Intensität?

Fassen wir zusammen, so sehen wir eine Bevölkerung, die den Krieg mit seinen verheerenden Auswirkungen noch aus den Jahren 2007 bis 2009 kennt und unbedingt vermeiden möchte. Zugleich sehen wir eine Jugend, die mehr als die Hälfte dieser Bevölkerung stellt, die in den letzten Jahren relativ leicht zu Geld kam und die nun von einem Tag auf den anderen ohne Perspektive da steht. Diese Jugend war über das Migration-Business bis vor Kurzem in die Netzwerke der „Smugglers and Saints“ eingebunden. Es wäre ein Wunder, wenn nicht viele von ihnen ihre Zukunft in eher eigenständigen Netzwerken – und das kann eigentlich nur heißen: in milizenförmigen Formationen – suchen würden. Allein schon der Transport der Migrant*innen an den Städten vorbei erfordert eine milizenförmige Absicherung. Die Migrant*innen selbst sind dabei der Absicherung in städtischen Netzwerken beraubt – es sei denn, sie landen per Rückschiebung in Agadez oder in Niamey, aber dort sind sie auf Unterstützung von IOM und UNHCR angewiesen.

IRIN hat gerade für Mali beschrieben, wie Geflüchtete und NGOs durch militärische Operationen aufgerieben werden.[12]IRIN | 11.03.2019 Im Niger ist das Militär noch nicht so stark auf der Straße präsent wie dort, aber natürlich gibt es dort ganz ähnliche Bedingungen. Es geht nicht nur um die nigrischen Truppen, sondern seit jeher auch um die französischen und seit 2014 um die G5 Sahel-Truppen. Die Uranabbaugebiete sind ohnehin durch französische Spezialeinheiten gesichert[13]DLF | 29.04.2017 und über die deutsche Beteiligung an der Aufrüstung der G5-Einheiten ist seit 2017 wiederholt berichtet worden.[14]Offiziere.ch | 20.01.2016, Spiegel Online | 17.08.2017, Telepolis | 25.01.2013 AFRICOM hat im letzten Jahr eingeräumt,

that the U.S. military currently has more sites in Niger — five, including two cooperative security locations — than any other country on the western side of the continent, Niamey, the country’s capital, is the location of Air Base 101, a longtime U.S. drone outpost attached to Diori Hamani International Airport; the site of a Special Operations Advanced Operations Base; and the West Africa node for AFRICOM’s contractor-provided personnel recovery and casualty evacuation services. The other CSL, in the remote smuggling hub of Agadez, is set to become the premier U.S. military outpost in West Africa. That drone base, located at Nigerien Air Base 201, not only boasts a $100 million construction price tag but, with operating expenses, is estimated to cost U.S. taxpayers more than a quarter-billion dollars by 2024 when the 10-year agreement for its use ends.[15]FFM | 04.12.2018

Kritische Untersuchungen belegen, dass die italienische Militäreinheit im Niger, die der Migrationsbekämpfung dienen soll, zu einem Transmissionsriemen für die Aufrüstung des nigrischen Militärs mutiert ist. Die Einheit von 470 Soldaten ist größtenteils auf der US-amerikanischen Militärbasis bei Niamey (Air Base 101) einquartiert worden. Ziel ist die Einbeziehung auch des Militärs Nigerias, Mauretaniens und Benins. Eine kleine italienische Einheit wurde in die ehemalige Militärbasis der Fremdenlegion in Madama nahe der libyschen Grenze verlegt.[16]FFM | 15.03.2019

All dies sind die Zutaten, aus denen vielleicht kein neues Afghanistan gekocht wird, wohl aber ein chronifizierter Krieg eher niedriger als mittlerer Intensität, in dem die lokale Bevölkerung im militärischen Feld zwischen Milizen, Drohnen und G5 Sahel-Einheiten aufgerieben und vertrieben wird – eine Bevölkerung, die einen neuen Kosmopolitismus probiert und die Migrant*innen noch stets willkommen geheißen hat, die aber zugleich mit ihrer extensiven Ökonomie und ihren hergebrachten Ansprüchen einer erweiterten Inwertsetzung ihrer Regionen im Wege steht.

Agadez: „Es ist, als hätte man uns die Luft zugeschnürt“

Fußnoten

Fußnoten
1Africa Vista | 15.03.2019
2Afrieque-Europe-Interact
3Anne Koch, Annette Weber, Isabelle Werenfels (Hg.), Migrationsprofiteure? Autoritäre Staaten in Afrika und das europäische Migrationsmanagement, SWP Studie 3, Berlin 2018
4Bilder von einer Autofahrt von Niamey nach Agadez: YouTube
5z.B. YouTube
6Judith Scheele, Smugglers and Saints of the Sahara. Regional Connectivity in the Twentieth Century, New York: Cambridge University Press, 2012.
7, 11Olaf Bernau, Bericht AEI Delegationsreise, Februar 2019
8Stern | 13.08.2018
9taz | 18.12.2017
10FFFM | 14.01.2019, vgl. Brachet, The blind spot of repression: migration policies and human survival in the Sahara. In T.-D. Truong and D. Gasper (eds) ,The migration-development-security nexus, 57–66. London : Springer 2011
12IRIN | 11.03.2019
13DLF | 29.04.2017
14Offiziere.ch | 20.01.2016, Spiegel Online | 17.08.2017, Telepolis | 25.01.2013
15FFM | 04.12.2018
16FFM | 15.03.2019

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