Dass auf der Ägäis und auf der Westbalkanroute im Sommer 2015 Geschichte gemacht wurde, war allen Beteiligten und auch den Zuschauer_innen und Kommentator_innen spätestens an jenem 4. September klar, als der March of Hope nicht mit einem Massaker auf der Autobahn zu Ende ging und nicht in ungarischen Lagern endete, sondern als die Menschen einen Tag später mit der Bahn in München ankamen und von einem Spalier der Helfer_innen mit Applaus begrüßt wurden. Die Flüchtenden hatten die Festung Europa überrannt und eines ihrer wichtigsten Instrumente, das Dublin-System, ausgehebelt. Sie waren aus ihrer Opferrolle herausgetreten und zu Akteur_innen europäischer Politik geworden. In Deutschland wurden sie mit Willkommensrufen empfangen.

Die folgenden Kapitel liefern eine Chronik dieser Ereignisse, streiflichtartig, dokumentarisch, noch nicht aus der Sicht der Migrant_innen selbst und vor allem deshalb von vorläufigem Charakter, eine Chronik, die als Ergänzung zu den Originalaufnahmen und Dokumenten der Yallah-Ausstellung zu verstehen ist. Der Text ist kaum mehr als eine Erläuterung der Bilder, die in den Medien präsent waren, und die Anordnung einer Zeitschiene, und wenn es gelingt, einen Bruchteil von der Dynamik und Dramatik jener Monate einzufangen, hätte er seinen Zweck erfüllt. Er stützt sich ganz wesentlich auf Erfahrungen und Berichte von Unterstützer_innen und Aktivist_innen, die sich aufgemacht hatten, um Migrant_innen auf ihrem Weg über die Ägäis, durch Griechenland und über den Balkan zur Seite zu stehen. Und sie trafen dabei auf zum Teil schon länger bestehende lokale und überregionale Strukturen, mit denen sie sich verbünden konnten.

In seiner ursprünglichen und ausführlichen Fassung kann dieser Text auf der Homepage der Gruppe Moving Europe nachgelesen und heruntergeladen werden, in deren Zusammenhang er auch entstanden ist. Dort finden sich auch Hinweise auf Quellen, die hier nur sporadisch angegeben werden.

Von der Ost- zur Westbalkanroute

In den Jahren 2012 bis 2014 hatte die Westbalkanroute, die im Sommer der Migration 2015 Schauplatz des epochalen Durchmarschs der Migrant_innen werden sollte, noch keine große Bedeutung. Die griechische Regierung hatte im Zusammenspiel mit Frontex die Lage scheinbar im Griff: der Zaun an der Grenze zur Türkei bei Erdine und die Patrouillenboote auf der Ägäis drängten die meisten Flüchtenden auf die harte und gefährliche Ostbalkanroute über Bulgarien nach Ungarn. Einige tausend wagten sich auf diese Strecke – ganz überwiegend jüngere Männer, die trotz Misshandlungen durch die bulgarische Polizei und trotz gewaltsamer Rücktransporte in die Türkei ihr Glück versuchten. In den Jahren 2012 und 2013 stieg die Zahl der Passagen auf der Ostbalkanroute auf 12.000, während nur 4.000 Migrant_innen die Westbalkanroute nutzten – so viele wie im Spätsommer des Jahres 2015 an einem einzigen Tag.

Im Jahre 2014 stieg die Zahl der Durchreisen über den Balkan langsam, aber kontinuierlich an. Im Januar 2015 beschloss die bulgarische Regierung den Bau eines Zauns an der Grenze zur Türkei. Zudem wurde allen Geflüchteten die Sozialhilfe gestrichen. Es gab Rückschiebungen an der Grenze und Schüsse auf Migrant_innen. Dennoch kamen im Oktober und November 2015 täglich noch 200 bis 300 Menschen über Bulgarien nach Serbien, obwohl inzwischen selbst ernannte Bürgerwehren Jagd auf sie machten

Immer mehr wählten inzwischen allerdings den Weg über die Ägäis und Griechenland. Ein Grund dafür war, dass die Abwehr der Migrant_innen in Griechenland mit dem Wahlsieg der Syriza im Januar 2015 einbrach und die Kooperation der griechischen Regierung mit Frontex nicht verlängert wurde. Die türkischen Schlauchbootagenten reagierten unmittelbar. Die Passage über die Ägäis wurde machbar, auch für Familien, sogar für Alte, für teuer Geld. Wie viele Menschen gestorben sind, weil sie auf Schlauchbooten die Ägäis überqueren mussten statt auf Fähren, die täglich die griechischen Inseln ansteuern, zu denen sie aber keinen Zugang haben, und warum sie mehr als 1.000 € für die Überfahrt in einem überfüllten Gummiboot bezahlen mussten statt 20,00 € für die Fähre, steht auf einem anderen Blatt.

Der wesentliche Grund für den plötzlichen Anstieg der Passagen über die Ägäis aber war, dass zahllose Menschen, die in den Nachbarländern Syriens auf ein Ende des Kriegs gewartet hatten, im Jahre V der Arabellion erkennen mussten, dass sich ihre desolate Lage auf absehbare Zeit nicht ändern würde. Der wesentliche Grund für den plötzlichen Anstieg der Passagen über die Ägäis war, dass zahllose Menschen erkennen mussten, dass sich ihre desolate Lage auf absehbare Zeit nicht ändern würde. Eine Rückkehr war wohl auf Jahre hinaus nicht möglich und ihren Kindern drohte das Schicksal einer verlorenen Generation. Die von der UN beschlossene Kürzung der Lebensmittelrationen in den Lagern rund um Syrien um 40% sowie zunehmende Feindseligkeiten gegenüber den syrischen Flüchtigen in den Nachbarländern verschlechterten ihre Situation dramatisch. Auf der Haben-Seite stand indes immer noch das Selbstbewusstsein einer Bevölkerung, die das Assad-Regime herausgefordert hatte und das Recht der Arabellion auf ihrer Seite wusste. In der Mikroökonomie der Abwägungen, die in dem Entschluss zum Aufbruch mündeten, spielte die Möglichkeit, leichter und einigermaßen sicher über die Ägäis zu gelangen, eine wichtige, aber nicht die allein ausschlaggebende Rolle

Griechenland: Eine Politik des kontrollierten Chaos

Die Gruppe Clandestina aus Thessaloniki hat die griechische Migrationspolitik als „Politik des kontrollierten Chaos“ charakterisiert. Im Zusammenhang mit der Finanzkrise und der rapiden Entwertung der griechischen Bevölkerung ging es darum, die Durchreise der Migrant_innen rasch und wenn möglich profitabel zu organisieren und zu verhindern, dass sie sich in Griechenland ähnlich wie im Nachbarland Türkei auf Dauer einrichteten. Dabei bediente sich die Koalition aus Syriza und ANEL der folgenden Mittel:

  • einer links und humanitär daherkommenden Rhetorik,
  • einer bestmöglichen Nutzung des Wirtschaftsfaktors der Transitmigration und
  • dem Narrativ, selbst Opfer der europäischen Politik zu sein: „Die wahren humanitären Motive vieler Menschen im ganzen Land, die den Migrant_innen helfen wollten (eine wirkliche soziale Bewegung, mit vielen tausend Beteiligten) wurden usurpiert von einem bezahlten Charity-System. Dadurch entstand das Bild einer krisengeschüttelten Gesellschaft, die sich dennoch der Leidenden annahm … Die Toten in der Ägäis und die extremen Gefahren für die Migrant_innen auf der Passage wurden bagatellisiert, um zu betonen, dass Griechenland die ganze Last Europas zu tragen habe.“

Hinter dieser Taktik stand kein Masterplan, sondern die Kunst und Technik der Improvisation.

Im ersten Halbjahr 2015 reisten 70.000 Migrant_innen durch Griechenland, Hunderte sammelten sich in den Feldern um Idomeni und warteten auf eine Gelegenheit, die griechisch-mazedonische Grenze zu passieren. Noch wurden sie von den Medien kaum zur Kenntnis genommen.

„Hier brauchst Du wieder Schlepper“, sagt ein Flüchtling, „damit Du von Griechenland rüber nach Mazedonien kommst – ohne Schlepper hast Du keine Chance.“

Am 4./5. Juli fand das Referendum zur EU statt. An diesem Wochenende organisierten etwa 1.000 Migrant_innen eine Protestaktion in Idomeni. Mehr und mehr Menschen saßen in Idomeni fest. Sie blockierten fast zwei Tage lang die Bahnstrecke zwischen Thessaloniki und Belgrad, aber ihr Protest drang nicht an die Öffentlichkeit: keine Berichte in den Medien, kein Kommentar einer Partei. Diese unsichtbaren Leute sollten das Land so unsichtbar verlassen, wie sie eingereist waren.
Auf Dauer ließ sich die Situation allerdings nicht kaschieren. Im Sommer der Migration waren die Migrant_innen, die ihr Leben für eine bessere Zukunft einsetzten und ihr Right to Move als selbstverständliches Recht eines jeden Menschen präsentierten und durchsetzten, schon allein aufgrund ihrer großen Zahl im Vorteil. Im Sommer der Migration waren die Migrant_innen schon allein aufgrund ihrer großen Zahl im Vorteil. In den folgenden Wochen landeten 50.000 Migrant_innen auf den griechischen Inseln.

Idomeni – Gevgelija

Flüchtlinge aus Afrika und den Krisengebieten im Nahen Osten versuchen auf vielen Wegen, nach Europa zu kommen. Eine Route führt 250 Kilometer durch die Berge von Griechenland, Mazedonien und Serbien – ein Gewaltmarsch. Die tagelange Wanderung ist kraftraubend, aber auch voller Enttäuschungen und Gefahren.
Viele Flüchtlinge scheitern, dennoch entscheiden sich nach Informationen der EU-Grenzschutzagentur Frontex immer mehr für diesen Weg. Im Jahr 2014 registrierten sie 43.000 Menschen, die auf dieser Route unterwegs waren – doppelt so viele wie im Jahr davor. Allein in den ersten zwei Monaten dieses Jahres kamen so schon 22.000 Flüchtlinge nach Ungarn. [spiegel.de]

Im Juni 2015 waren es bereits zwischen 100 und 200 junge Männer täglich, die durch das griechische Grenzdorf Idomeni wanderten und versuchten, über die Grenze nach Mazedonien zu gelangen.

Der kleine Wald gleich hinter dem Dorf zieht sich hinüber bis ins Nachbarland Mazedonien. In diesem Wald harren die Flüchtlinge aus, bis es dunkel wird, wollen dann rüber über die Grenze.
„Nachts frieren wir. Wir haben keine Decken, wir haben so viele Probleme“, sagt Moez, ein Flüchtling aus Afghanistan. Manchmal sind Schüsse zu hören. Es sind Warnschüsse von mazedonischen Grenzpolizisten. Jede Nacht nehmen mazedonische Grenzer etliche Flüchtlinge fest und schicken sie dann zurück über die Grenze nach Griechenland. [Deutschlandfunk]

In Mazedonien ging es zu Fuß oder mit dem Fahrrad entlang der Bahnschienen oder auch mit dem Taxi weiter bis an die Grenze nach Serbien. Auf der Strecke kam es zu einer Reihe tödlicher Unfälle. Ende April war eine Gruppe von einem Zug erfasst worden, 14 Menschen waren dabei gestorben.

18. Juni: Mazedonien öffnet die Grenze

Dass das Katz- und Maus-Spiel an der griechisch-mazedonischen Grenze und die Präsenz einiger Schlepperbanden, die versuchten, aus der Schutzlosigkeit der Migrant_innen Profit zu schlagen, nach dem 18. Juni ein Ende fanden, war vor allem dem Gesetz der großen Zahl zu verdanken. Die mazedonischen Gefängnisse waren voll. Die Regierung verfügte, analog zum Vorgehen Serbiens, dass den Migrant_innen Aufenthaltstitel für die Durchreise auszustellen waren. Deren Zahl stieg bis zum Juli auf 2.000 täglich. Die Grenzpolizisten wurden buchstäblich an die Seite gedrängt, für einige Tage bevölkerten Tausende die mazedonischen Schienen und Straßen.

Die ohnehin wenigen mazedonischen Polizisten hätten jeden Versuch aufgegeben, die anstürmenden Massen zu kontrollieren oder wenigstens in geordnete Bahnen zu lenken, so eine serbische Zeitung.
Eigentlich muss sich jeder Flüchtling registrieren lassen. Die Migranten erhalten dann eine Durchreisebewilligung, die für 72 Stunden gültig ist. Doch ebenso wie im ‚Aufnahmezentrum‘ im südserbischen Preševo warten die meisten Asylbewerber auf ihrem Weg nach Westeuropa und vor allem nach Deutschland nicht darauf und reisen ohne Papiere weiter. [SÜDDEUTSCHE ZEITUNG]

Hilfe für die Migrant_innen leisteten in erster Linie Freiwillige, die sich über Facebook organisiert hatten und in Gevgelija sowie auf dem Grenzbahnhof Tabanovce bei der Ausreise nach Serbien Lunchpakete verteilten. Drei Züge täglich mit einer Kapazität von 450 Plätzen wurden zur Verfügung gestellt. Bilder vom „Expresszug der Verzweifelten“ von Gevgelija nach Tabanovce hat DIE ZEIT in einer Fotoserie festgehalten. Bis Mitte August spielte sich an der Grenze zwischen Idomeni und Gevgelija ein gewisses Miteinander zwischen Migrant_innen, mazedonischer Grenzpolizei und helfenden Volunteers ein und die Schlagzeilen machten andere Orte.

Aber Mazedonien ist ein kleines und armes Land, politisch instabil, von den Nachbarn Griechenland und Serbien beständig gegängelt, mit 2 Millionen Einwohnern und mehr als 30% Arbeitslosigkeit. Die Außenpolitik bewegt sich zwischen Opportunismus und Angst. Noch weniger als Bulgarien ist Mazedonien ein Land, in dem die Migrant_innen länger bleiben können oder wollen. Diese Faktoren müssen in Betracht gezogen werden, wenn es darum geht, die Ereignisse vom 20. August zu reflektieren. Wahrscheinlich handelte es sich um Reflexe vorauseilenden Gehorsams seitens der rechtsnationalen Regierung und um die Angst vor Stockungen im Vorfeld der ungarischen Grenzschließungen.

Vor allem aber landeten inzwischen immer mehr Geflüchtete auf den griechischen Inseln. Schon bald übertraf ihre Zahl die Zahl derer, die sich von Athen aus auf den Weg nach Idomeni machten. Am 19. August 2015 beschloss die griechische Regierung deshalb, die Migrant_innen direkt mit der Fähre von den Inseln zum Hafen von Thessaloniki zu bringen. Damit akzeptierte sie indirekt, dass diese inzwischen massenhaft durch Mazedonien geschleust wurden. Darauf reagierte die mazedonische Regierung an jenem 20. August 2015: sie verkündete die Schließung der Grenze und erklärte den Ausnahmezustand. Der „verstärkte Druck“ auf die südliche Landesgrenze mache dies erforderlich. Man habe den Ausnahmezustand ausgerufen, um zusätzliche Soldaten entsenden zu können.

Mit Tränengas und Blendgranaten hatte die mazedonische Polizei am Freitag versucht, Tausende Flüchtlinge von der Einreise aus Griechenland abzuhalten. Bereitschaftspolizisten rollten Stacheldraht aus und postierten sich mit gepanzerten Fahrzeugen rund um den Grenzübergang beim Ort Gevgelija. Mindestens vier Menschen wurden nach Berichten von Augenzeugen durch den Einsatz der Blendgranaten verletzt. Zur Verstärkung schickte die Regierung auch Soldaten. [DER STANDARD]

Die Schließung der Grenze konnte nur drei Tage lang aufrechterhalten werden. Der Druck auf die Absperrungen wurde zu groß und der Einsatz von Schusswaffen hätte unabsehbare Folgen gehabt. Die NZZ schrieb:

Chaotische Szenen

Darauf kam es in der Nähe des Grenzortes Gevgelija zu chaotischen Szenen. Flüchtlingsgruppen, die bis zu drei Tage ohne nennenswerte Versorgung im Grenzstreifen ausgeharrt hatten, versuchten Polizeikordons zu durchbrechen. Die Polizei setzte Tränengas ein und feuerte Blendgranaten in die Menge. Lokale Medien berichteten von Verletzten. Etliche der Flüchtlinge seien dehydriert gewesen. Später setzte heftiger Regen ein. Nach mazedonischen Angaben kommen die meisten Flüchtlinge aus Syrien, es folgen Afghanistan und der Irak als Herkunftsländer. Im Verlauf des Wochenendes lockerte die Polizei die Sperren und ließ Flüchtlinge in Zügen zur serbischen Grenze fahren. Mazedonien ist so wenig wie Serbien das Zielland dieser Menschen. Beides sind nur Transitländer, die sie so schnell wie möglich durchqueren wollen. Anders als Serbien, das schnell eine minimale Infrastruktur auf die Beine stellte, reagiert der mazedonische Staat lethargisch auf die Notlage. Erst jetzt haben die Behörden begonnen, bei Gevgelija ein Empfangszentrum zu bauen.

23. August: Durchbruch in Gevgelija

Der Plan der Regierung, in einer Art offen ausgetragener Feldschlacht die Kontrolle über die Grenze zurückzugewinnen, scheiterte kläglich, und der 23. August markiert einen der großen Durchbrüche auf der Balkanroute. Hunderte von Geflüchteten hatten die Grenzbefestigungen immer wieder überrannt und die mazedonische Grenzpolizei musste schließlich einsehen, dass sie nicht über Tage hinweg unter den Augen der Weltpresse auf Familien einprügeln konnte. Hunderte von Geflüchteten hatten die Grenzbefestigungen überrannt und die mazedonische Grenzpolizei musste einsehen, dass sie nicht über Tage hinweg unter den Augen der Weltpresse auf Familien einprügeln konnte. Griechenland, das ja selbst am Export des sozialen Sprengstoffs interessiert war, trug seinen Teil dazu bei, indem die Menschen tagtäglich in einer Kette von Bussen direkt an die Grenze des ungeliebten Nachbarn transportiert wurden. Ein weiterer Faktor, der die mazedonische Regierung zur Rücknahme der Grenzschließung bewegte, war die vergleichsweise offene Politik der serbischen Regierung.

Die mazedonische Regierung hatte fortan die Wahl: dem Beispiel Ungarns folgen und einen massiven Zaun errichten oder aber den Transit durch das eigene Territorium weiterhin zu tolerieren bzw. diesen sogar noch reibungsloser zu gestalten. Man entschied sich für Letzteres und wurde damit gewissermaßen zum Trendsetter für eine Reihe weiterer Staaten auf der Balkanroute.

Die folgenden acht Wochen vom 23. August bis zum 20. November waren in Gevgelija Wochen einer beschleunigten Routine. Tausende wurden täglich in die Durchgangslager geführt, in die Züge gestopft und weiter nach Serbien durchgereicht.

Der mazedonische Anschlag auf das Right to Move vom 20. August wurde abgewehrt und überwunden. War es auch die Rache des mazedonischen Grenzschutzes, dass dieses Land sich seit dem 18. November dafür hergab, die Interessen der EU-Politik in einem zweiten Anlauf umzusetzen und vor der Grenze neues Elend und einen neuen Aufstand zu provozieren, indem es die Migrant_innen nach nationaler Zugehörigkeit selektierte?

Welcome to Serbia

Wenn es über Serbien im Sommer der Migration zunächst Gutes zu berichten gab, so war es die Tatsache, dass schlechte Nachrichten ausblieben. Die serbische Regierung wähnte sich bereits im Juli vor der Aufgabe, eine halbe Million Migrant_innen in Lagern aufnehmen zu müssen und meinte, auch das wäre zu schaffen. Bei all diesem Merkel-konformen Optimismus stand im Hintergrund allerdings stets die bange Frage, wie beständig dieser Optimismus sein würde. Aleksandar Vučić, Ministerpräsident aus der serbischen Fortschrittspartei, war früher ein extremer Nationalist, der sich nach einer 180-Grad-Wende zu allen Projekten der EU bekannt hat (mit Ausnahme des Russland-Embargos). Das Land hängt am Tropf westlicher Kredite.

In der serbischen Bevölkerung ist aufgrund der eigenen Erfahrungen nach dem Jugoslawienkrieg eine gewisse Empathie mit den Migrant_innen abrufbar, wie die WOZ Ende August aus Belgrad zu berichten wusste:

Bemerkenswert ist, wie gelassen die serbische Bevölkerung auf den Flüchtlingsansturm reagiert. In Belgrad etwa halten sich seit Juni täglich gut tausend Flüchtlinge in einem Park mitten in der Stadt auf. Sie liegen auf Decken oder Pappkartons, schlafen oder dösen, bis es mit dem Bus oder Zug weiter an die ungarische Grenze geht. Am Anfang wurde der wilde Rastplatz einfach geduldet. Doch zunehmend vermüllte die Gegend, und es stank, weil die Flüchtlinge keinen Ort hatten, um ihre Notdurft zu verrichten. Daraufhin begannen sich spontane Bürgerinitiativen um die Menschen zu kümmern. Freiwillige verteilten Kleider, Wasser und Hygieneartikel.
Und schließlich schaltete sich auch die Politik ein. Der Staat werde den Migrant_innen helfen, kündigte Premier Aleksandar Vučić an, als er die Flüchtlinge im Park persönlich aufsuchte. Sie seien willkommen in Serbien. Er werde sich an keiner Kampagne beteiligen, die gegen Flüchtlinge gerichtet sei. Schließlich hätten Serben vor zwanzig Jahren ähnliches Leid erlebt.

Aber es gibt gleichzeitig einen latenten anti-muslimischen Rassismus in der Bevölkerung, den die Regierung nicht minder leicht abrufen konnte. So stieß die Kehrtwende der serbischen Politik, die erst nach den Grenzschließungen auf dem Balkan zum Tragen kam, als das Land zum „Flaschenhals“ geworden war und sich der flüchtlingsfreundliche Kurs nicht mehr auszahlte, kaum auf nennenswerten Widerstand.

Der Grenzort Preševo war für die Migrant_innen die erste Anlaufstelle in Serbien. Hier hatte der UNHCR ein Auffangbüro errichtet und die Armee Zelte aufgestellt – wenn auch niemals genug. Hunderte übernachteten täglich auf freiem Feld oder der Straße. Erst in brütender Hitze und später in Regen und Matsch standen sie an, um sich ein Papier ausfertigen zu lassen, welches zur Durchreise binnen 72 Stunden berechtigte. Die erste Generation der Migrant_innen musste sich noch von Preševo an den Bahnschienen entlang die 400 km nach Norden durchschlagen. Ab August konnten sie in Bussen nach Norden weiterfahren – mit einem Zwischenstopp in Belgrad oder direkt an die ungarische Grenze.

Dass die serbischen Kräfte nicht ausreichten, die im Juli anschwellende Zahl der Migrant_innen menschenwürdig zu versorgen, ist einem Land, das noch immer vom Krieg geschwächt ist und dessen Militär sicherlich mehr Erfahrung in der Organisation von Massakern hat als in der Versorgung von Flüchtigen, kaum zu verübeln. Als die deutschen Grenzbeamten ihr Klagelied von der Überforderung anstimmten, hatte die serbische Polizei, über jeden Zweifel an der Sinnhaftigkeit ihres Tuns erhaben, bereits viele Wochen lang hunderttausende Papiere gestempelt, die nur einen Tag später achtlos weggeworfen wurden.

Wenn es an den Verhältnissen in Serbien Kritik zu üben gibt, dann betrifft diese Kritik in erster Linie das Personal von UNHCR und den NGOs. Wiederholt haben Aktivist_innen auf der Route beobachtet, dass die Büros des UNHCR dicht machten, lange bevor die letzten Busse ankamen, dass die Lager des UNHCR mit Planen und Matratzen prall gefüllt waren, die aber nicht verteilt wurden, so in Preševo und zuletzt in Idomeni, wo sich Dolmetscher_innen des UNHCR an der Sprachselektion beteiligten. Zudem befanden sich die Einrichtungen von UNHCR und NGOs regelmäßig hinter den Polizeiabsperrungen, wo die Migrant_innen das Schlimmste bereits hinter sich hatten. Das deckt sich mit Berichten von der Insel Lesbos, wo der UNHCR sich zwar an der Registrierung der Migrant_innen beteiligte, aber nicht einen einzigen Menschen, nicht ein einziges Kind aus dem Wasser gezogen hat. Dass die Rationen des Roten Kreuzes an manchen Tagen noch unzureichender waren als die Rationen der Welthungerhilfe in den libanesischen Lagern, ist mit Überforderung allein nicht zu erklären.

Über ihre Erfahrungen mit den Hilfsorganisationen in Preševo berichten Aktivist_innen, die in den Regennächten des Oktober ihr Möglichstes taten, um die Migrant_innen zu unterstützen, bevor sich die Situation durch die Ankunft weiterer Volunteers etwas entspannte:

Die Menschen saßen und standen stundenlang uninformiert zwischen den vermüllten umgitterten Zugängen zum Camp. Die Trink- und Essensversorgung sowie auch die Verteilung von Klamotten und Decken lagen fast komplett bei uns. Es ist der kranke Wahnsinn! Wir finanzierten und versorgten Tag und Nacht mit einer selbstorganisierten Küchencrew und Spendengeldern tausende Menschen, arbeiteten die Nächte durch, haben kaum geschlafen und sind mit den vielen Menschen und den Mengen an Essen manchmal nicht hinterher gekommen. Es ist der kranke Wahnsinn! Wir finanzierten und versorgten Tag und Nacht mit einer selbstorganisierten Küchencrew und Spendengeldern tausende Menschen. Die Menschen sind meistens super hungrig und ausgekühlt aus dem Camp gekommen und wir fragen uns, was die ganzen NGOs dort mit den Leuten gemacht haben! Wenn überhaupt haben Frauen und Kinder Essen bekommen, Männer kamen super hungrig aus dem Camp. Die Situation ist, wie an den anderen Grenzen und Camps auch, unglaublich entwürdigend und menschenverachtend. Die Leute werden wie Tiere von einem Gitterblock in den nächsten getrieben und dürfen das Gitter nur in seltensten Ausnahmen zum Pinkeln verlassen. […]
UNHCR und Rotes Kreuz ließen sich nach wie vor kaum blicken, es gab nachts, wenn es am Nötigsten gebraucht wurde, immer noch nur ein bis zwei Ärzt_innen. Für die wartenden Menschen gab es keine Sitzgelegenheiten und in den kalten Morgenstunden kollabierten die Menschen reihenweise vor Kälte, Erschöpfung und Verzweiflung, wegen Krankheiten, Alter oder Schwangerschaft. Es war nachts so schwer auszuhalten! In den teilweise sehr kalten Nächten haben wir die Menschen soweit es ging mit Decken und heißem Tee versorgt, wobei wir für jede einzelne Decke beim UNHCR im Camp fragen mussten, der sehr sparsam damit war und zeitweise auch gar nicht anzutreffen war. Der UNHCR bunkert die Decken und traute sich tagsüber nur ohne Weste aus dem Camp, „weil sie Angst haben, von Anwohner_innen verprügelt zu werden“.

March of Hope

Bahnhof Budapest Keleti, in der Nacht von Freitag, den 4. auf Samstag, den 5. September 2015. Kurz nach Mitternacht. Busse des öffentlichen Nahverkehrs kommen an, von Ungarns Regierung geschickt, um die Flüchtlinge, die dort seit rund einer Woche kampieren, an die ungarisch-österreichische Grenze zu bringen. Noch misstrauisch, ob es sich erneut um einen hinterhältigen Trick der Regierung handelt, warten viele Flüchtlinge erst einmal ab. Doch langsam besteigen sie die Busse und machen sich wieder auf den Weg, an die nächste Grenze. Nach Tagen des Ausharrens sind sie wieder unterwegs und nach Tagen brüllender Hitze setzt plötzlich, als ob auch das Wetter einen Schlussstrich unter diese Woche der Kämpfe setzen will, leichter Regen ein.
Im Laufe der Nacht und am darauf folgenden Tag überschreiten mehr als 10.000 Flüchtlinge die österreichische Grenze. Österreich und Deutschland hatten sich bereit erklärt, sie einreisen zu lassen. Viele weitere machen sich auf den Weg. [Kasparek/Speer, March of Hope]

Ungarn war nach dem faktischen Ausscheiden Griechenlands aus dem Dublin-System im Jahre 2011 der erste Schengen-Staat, den die Migrant_innen auf der Westbalkanroute erreichten. Formal für die Durchführung der Asylverfahren zuständig, versuchte die Orbán-Regierung bis in den August hinein, deren Zahl durch Abschreckung zu begrenzen. Die Migrant_innen wurden nach dem Grenzübertritt routinemäßig von der Polizei aufgegriffen und in Registrierungslagern unter entwürdigenden Umständen inhaftiert. Diese Politik der Abschreckung war im Juni, mit wenigen hundert Migrant_innen täglich, vielleicht noch eine denkbare Option. Als aber die Zahlen im Juli auf über 1.000 und im August auf über 3.000 pro Tag stiegen, reichten die Kapazitäten in den Lagern nicht mehr aus. Die Migrant_innen wurden, ähnlich wie schon seit langem in Italien, nach wenigen Tagen frei gelassen und schlugen sich selbständig durch bis nach Budapest.

Die beiden großen Bahnhöfe in Budapest, Keleti und Nyugati, wurden mit jedem Tag mehr zu Drehschreiben der Migration – ein Markt für die Weiterfahrt per Auto oder Lastwagen nach Österreich und von dort nach Passau. Die Fahrer, die auf der Strecke zwischen Budapest und Passau – sicherlich gegen gutes Geld, etwa 200 € pro Person – den Transport mit hohem Risiko organisierten, wurden zu Hunderten wegen angeblicher Schlepperei angeklagt und in österreichischen und deutschen Gefängnissen inhaftiert. Andererseits wurde die Benutzung der Bahn systematisch unterbunden: täglich wurden Migrant_innen mittels Racial Profiling von der ungarischen Polizei identifiziert und aus den Zügen geworfen.

27. August: 71 Tote im Lastwagen

Am 27. August entdeckte die österreichische Polizei auf einem Parkplatz bei Wien einen Kühllaster, in dem sie 71 Tote fand, erstickt in der Enge des Laderaums. Empört über diese Tragödie zeigten sich am lautesten diejenigen Politiker_innen und Medienleute, die darin einen willkommenen Anlass sahen, die Straßen endlich für die Flüchtenden zu schließen. Empörung gab es aber auch von Seiten ungarischer Aktivist_innen, die das Racial Profiling in den Zügen kritisierten und forderten Let them board the trains!. Und sogar UN-Generalsekretär Ban Ki Moon forderte sichere Einreisewege für die Flüchtlinge und setzte das Thema auf die Agenda der UN-Vollversammlung. An den folgenden Tagen kam es auf den Autobahnstrecken von Ungarn nach Österreich und Deutschland zu massiven Verkehrskontrollen, es bildeten sich Staus von bis zu 50 km Länge.

Die Tätigkeit der Fahrer kam damit zum Erliegen. Zeitgleich aber erreichte die große Gruppe der Migrant_innen, die am 23. August den Durchbruch über die Grenze nach Mazedonien geschafft hatte, nun Budapest. Am Bahnhof Keleti hatte man eine „Transitzone“ eingerichtet, unter freiem Himmel, ohne jegliche Infrastruktur und ohne Aussicht auf Weiterreise. Die Polizei hinderte die Migrant_innen nach wie vor, die Züge nach Österreich und Deutschland zu benutzen. Die Lage spitzte sich zu. Flüchtende bildeten Gruppen auf dem Bahnhofsvorplatz, setzten ihre Kinder auf die Schultern, klatschten rhythmisch in die Hände und forderten auf Schildern und in Sprechchören die Möglichkeit zur Weiterreise ein Die Lage spitzte sich zu. Flüchtende bildeten Gruppen auf dem Bahnhofsvorplatz, setzten ihre Kinder auf die Schultern, klatschten rhythmisch in die Hände und forderten die Möglichkeit zur Weiterreise ein- Szenen, die bei einigen Beobachtern Assoziationen an die Anfangszeiten des syrischen Aufstands weckten:

Haben wir es alle übersehen? Die Bilder und Filme der syrischen Flüchtlinge vom Bahnhof Keleti kamen mir immer so bekannt vor. Wie sie dort standen, wie sie demonstrierten und zusammenstehen, das rhythmische Klatschen, Arm in Arm eine Welle machen, die selbst gemalten Schilder und Zeichnungen, wie die Fahne getragen wird … All das haben wir zu Beginn des syrischen Aufstands in Damaskus, in Daraa, in Homs oder auch in Kobane gesehen. Es waren Zeichen der Demokratie, der Würde und des Freiheitswillen der Syrer_innen, die aufbegehrten gegen die Gewalt des Regimes. Dann begann die Militarisierung der Revolution, der zivile Protest verschwand und wurde zerrieben von Fassbomben und Häuserkämpfen. Aber die Bilder und Zeichen aus Budapest beweisen: Alles ist immer noch da, und das, was im Land selbst nicht mehr geht, wird mitgetragen von jenen, die keine Möglichkeit mehr sehen außer zu gehen und nach Europa zu kommen. Die syrische Flucht exportiert die Zeichen ihrer großen Erhebung: Freiheit und Würde! Ob in Damaskus, Aleppo, Homs oder Budapest oder Bicske. Die syrische Revolution ist im Land vielleicht besiegt, aber sie ist noch lange nicht tot. Sie geht nur woanders weiter – und kann so auch wieder zurückkehren … [Martin Glasenapp, medico international]

Über die diplomatischen Aktivitäten, die sich zwischen Deutschland, Österreich und Ungarn in diesen heißen Tagen abspielten, wissen wir nur weniges. Deutschland und Österreich waren einerseits daran interessiert, die Situation vor dem Keleti Bahnhof zu deeskalieren. Die Bilder von der griechisch-mazedonischen Grenze und die Toten im Kühllaster hatten weltweit schon zu viel Aufmerksamkeit erregt. Man wollte Spannung abbauen, zugleich aber Orbán mit seinem rechtslastigen Eigensinn nach Möglichkeit auflaufen lassen.

Wie auch immer: ganz unabhängig davon sickerte eine Verlautbarung vom 25. August aus dem deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) – wie sich später herausstellte, handelte es sich nur um eine umstrittene interne Richtlinie ohne rechtliche Bindung – dass Deutschland die Rücküberstellung von syrischen Flüchtigen bis auf Weiteres aussetzen werde. Soziale Bewegungen organisieren sich in Gravitationsfeldern der Hoffnung und Aspirationen und Menschen in verzweifelten Situationen greifen nach jedem Strohhalm, der sie retten könnte. Menschen in verzweifelten Situationen greifen nach jedem Strohhalm, der sie retten könnte Die Nachricht aus dem BAMF verbreitete sich unter den Migrant_innen in Windeseile. Spätestens jetzt wurde Deutschland zum Zielland Nummer 1 in Europa.

Zudem sprach sich am 31. August vor dem Bahnhof Keleti das Gerücht herum,

dass Deutschland die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge per Sonderzug abholen würde, während die ungarische Polizei sich komplett vom Bahnhof zurückzog. Ein Run auf die Züge (#trainofhope) setzte ein, im Laufe des Tages konnten mehrere Tausend Flüchtlinge Ungarn verlassen und kamen ein paar Stunden später in Wien und bald auch in München an. [Kasparek/Speer, March of Hope]

Sind derartige Gerüchte einmal geweckt und durch erkennbare Umstände bestätigt, gibt es ohne Gewalt kein Zurück.

Wahrscheinlich setzten das deutsche und österreichische Innenministerium, von Amts wegen auf einen eher repressiven Kurs festgelegt, Ungarn unter Druck oder vielleicht nahm sich die ungarische Regierung selbst in die Pflicht, Härte zu zeigen. Jedenfalls wurde der Zugang zu den Zügen auf dem Bahnhof Keleti für die Migrant_innen bereits am nächsten Tag wieder geschlossen, obwohl sich noch immer mindestens 3.000 Migrant_innen am Bahnhof aufhielten, und es wurden täglich mehr.

3. September: March of Hope

Inzwischen schreiben wir Donnerstag, den 3. September, und wir nähern uns dem Höhepunkt des Kampfes um das Right to Move im Jahre 2015. Es sind nur wenige Tage, in denen das europäische Projekt der Ausgrenzung von sozialen Konflikten, der Balance sozialer Degradierungen, das Management der Flüchtigen und, ja, das Projekt der politischen Rationalität selbst nachhaltig in Frage gestellt wurde, so tiefgreifend wie zuletzt im Jugoslawienkrieg.

Das gespannte Abwarten hielt bis zu jenem Donnerstag, dem 3. September, an.

An diesem Tag wurden alle internationalen Zugverbindungen ausgesetzt, den Flüchtlingen wurde jedoch mitgeteilt, dass sie mit Regionalzügen an die österreichische Grenze fahren könnten. Doch der erste Zug mit rund 600 Flüchtlingen wurde 35 km außerhalb von Budapest in einem Ort namens Bicske aufgehalten und von Polizei umstellt. Dort befindet sich eines der ungarischen Flüchtlingslager, in welches die Polizei die Insass_innen des Zuges transportieren wollte. Diese weigerten sich jedoch und verharrten rund 30 Stunden in dem Zug. Gleichzeitig verbreitete sich die Nachricht von der Finte, woraufhin keine weitere Flüchtlinge in Züge stiegen.
Am Freitag, den 4. September, kam es zum bisherigen Höhepunkt dieses Kampfes um Bewegungsfreiheit. Wie schon am Vortag angekündigt brachen mehrere tausend Flüchtlinge am frühen Nachmittag zu Fuß auf, um sich auf den 170 km langen Marsch an die ungarisch-österreichische Grenze zu machen. Ihr erklärtes Ziel: Österreich und Deutschland. Auch in Bicske machten sich rund 300 der am Vortag aufgehaltenen Flüchtlinge zu Fuß auf den Weg und liefen auf den Bahngleisen gen Westen. Schon am Morgen hatten weitere 300 in Röszke, nahe der ungarisch-serbischen Grenze, internierte Flüchtlinge den Zaun um das Lager überwunden, wurden aber später wieder von der Polizei festgehalten. Die am Bahnhof Keleti verbliebenen Flüchtlinge wurden am Nachmittag von ungarischen Hooligans angegriffen, konnten den Angriff aber zurückschlagen.[Kasparek/Speer, March of Hope]

Der Marsch gen Westen kam relativ zügig voran und erreichte bald eine zweispurige Autobahn. Die Nachricht vom Aufbruch verbreitete sich quasi in Echtzeit unter dem Hashtag #marchofhope. Die Bilder des Marsches werden in die Ikonographie dieses langen Sommers der Migration eingehen, eine lange Reihe von Menschen, die sich nach einer Woche des Ausharrens wieder die eigene Mobilität aneigneten und Budapest in einer gemeinsam und spontan koordinierten Aktion verließen. Die Bilder des Marsches werden in die Ikonographie des Sommers der Migration eingehen, eine lange Reihe von Menschen, die sich nach einer Woche des Ausharrens wieder die eigene Mobilität aneigneten.

Unter dem Eindruck dieser Bilder und im Wissen um das Risiko einer repressiven Strategie erklärten Merkel und Faymann tatsächlich, dass sie die Grenzen öffnen und die Flüchtigen aufnehmen würden.

Binnen weniger Stunden organisierte die ungarische Regierung Busse zum Grenzübergang nach Nickelsdorf. Noch in der Nacht zum Sonnabend wurden 4.000 Migrant_innen an die Grenze transportiert und die ersten waren in Wien bereits in Züge Richtung Deutschland umgestiegen. An diesem einen Wochenende gelangten mindestens 10.000 Flüchtlinge nach Deutschland. Sie wurden in München mit Applaus begrüßt, mit Lunchpaketen und mit Spielzeug für die Kinder.

Dass der March of Hope am 4. September zum zweiten großen Durchbruch wurde – nach den Ereignissen an der griechisch-mazedonischen Grenze zwei Wochen zuvor, am 23. August -, war an der Entschlossenheit in den Gesichtern der Marschierenden vielleicht von vornherein abzulesen, aber noch drohten Gefahren, so lange der Kampf gegen die ungarischen Lager nicht entschieden war. Orbán war gerade von seinem Auftritt auf einem Treffen der EU-Regierungschefs in Brüssel zurückgekommen und wollte sich als Mann der Härte profilieren. Der Zaun war fast fertig. Die Gefahr, dass Ungarn die Grenzen schließen und die noch im Land befindlichen Migrant_innen internieren könnte, lag in der Luft.

Die Verhältnisse im Auffanglager Röszke, der ersten Station in Ungarn hinter der serbischen Grenze, standen während der Ereignisse vom 3. und 4. September wie ein Menetekel im Raum. Der Journalist Keno Versek besuchte Röszke genau in jenen Tagen – hier sein Bericht:

Ein drei Meter hoher Zaun, oben Nato-Stacheldraht, dahinter bewaffnete Wächter und Bereitschaftspolizisten in Kampfmontur. Das ist der erste Ring. Hier parken Autos und Busse, stehen Baracken und Sanitätszelte. 30 Meter hinter dem ersten folgt der zweite Ring, ein Zaun immerhin ohne Stacheldraht – er umgibt das Zeltlager, in dem die Flüchtlinge untergebracht sind.
Draußen vor dem Lager kommen immer neue Menschen an, sie müssen sich, dicht gedrängt, auf den Sandboden setzen, werden bewacht von einem Kordon aus Bereitschaftspolizisten mit Mundschutz und Gummihandschuhen. Ein Schäferhund bellt die auf dem Boden hockenden Menschen an.
Das neue Erstaufnahmelager Röszke an der ungarisch-serbischen Grenze – Willkommenskultur, die an Guantanamo erinnert. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen haben keinen Zutritt, Journalisten natürlich erst recht nicht.

Am 3. September gelang es 300 Insassen, den Zaun des Lagers zu überwinden und zu fliehen. Der Ausbruch war das unabdingbare Komplement zum March of Hope. Denn an der Entschlossenheit der Orbán-Regierung, die Migrant_innen auf lange Sicht in Lagern zu internieren, konnte es keinen Zweifel geben. Der Ausbruch aus dem Auffanglager Röszke war das unabdingbare Komplement zum March of Hope.

Verglichen mit diesen wahrhaft historischen Ereignissen, die hier beschrieben wurden, verlief die Passage von Serbien über die Grenze nach Ungarn während der nächsten zehn Tage – bis zur Schließung der letzten Lücke an den Bahngleisen bei Röszke – relativ unspektakulär. Die Erklärung von Merkel und Faymann, dass die Grenzen nach Österreich und Deutschland ohne Obergrenze offen bleiben würden, hatte den Druck herausgenommen und keiner der betroffenen Staaten, von Mazedonien über Serbien bis Ungarn – und später auch Kroatien und Slowenien – musste befürchten, dass Tausende von Migrant_innen auf seinem Gebiet stranden würden. Das Lager von Röszke wurde nicht zum KZ, sondern blieb noch zehn Tage lang ein „normales“ Durchgangslager, mit den üblichen Unzulänglichkeiten und chaotischen Zuständen, wie sie die Flüchtenden bereits aus Gevgelija oder Preševo kannten.

Minenfelder

Dass die ungarische Rechtsregierung unter Orbán, so wie vorher schon Bulgarien, einen Zaum bauen würde, um den Durchmarsch auf der Westbalkanroute zu brechen, hatte sie bereits im Juni angekündigt. Für den Bau des Zauns wurden tausende Soldaten und Strafgefangene mobilisiert, das Überwinden und Beschädigen der Grenzanlagen sollte mit Gefängnisstrafen geahndet werden. Dennoch blieb die Situation bis zum Montag, dem 14. September, dem Tag des Grenzschlusses bei Röszke, relativ ruhig.

Der Grenzschluss selbst, so sicher er erwartet worden war und so wenig spektakulär es erschien, als an jenem Tag ein stacheldrahtbewehrter Güterwagon wie ein Pfropfen in die letzte Lücke des Zauns geschoben wurde, setzte dennoch eine Kette von Ereignissen in Gang, die kein gutes Ende verhießen. Die ungarische Regierung rief einen sogenannten „Einwanderungs-Krisenfall“ aus, für den sie erst wenige Tage zuvor die gesetzlichen Grundlagen geschaffen hatte. Die Lager wurden geleert, die (vermeintlich) letzten Migrant_innen in Sonderzüge gesteckt und vor der österreichischen Grenze abgesetzt.

14. September: Grenzschluss bei Röszke

Deutschlands Innenminister hatte quasi in einer Gemeinschaftsaktion mit der Orbán-Regierung das Signal gesetzt für eine erneute hektische Staffel von Reaktionen. Am Tag des ungarischen Grenzschlusses zogen an der Grenze Bayerns zu Österreich Kontrollen auf und der Zugverkehr wurde, mit Hinweis auf das Oktoberfest in München, ausgesetzt. De Maizière deutete an, dass es sich bei den Grenzkontrollen um einen Dauerzustand handeln könnte. Es war aber – und das muss festgehalten werden – keine Schließung der deutschen Grenzen, die auch in den Folgemonaten zu keinem Zeitpunkt komplett geschlossen wurden.

Die Auseinandersetzungen am ungarischen Zaun bei Röszke am Tag nach dem Grenzschluss, am 15.09., waren kurz, aber heftig. Ungarische Hundertschaften gingen mit Wasserwerfern und Tränengas gegen zum Teil vermummte Flüchtige vor, die ihrerseits versuchten, den Zaum niederzureißen. Aus dem Blickwinkel von Aktivist_innen aus Halle hier ein Bericht – ausführlich, weil er die Ambivalenz der Ereignisse, zwischen Militanz und Verzweiflung, auf eindrückliche Weise veranschaulicht:

Durch eine Art Palisade (Zaun und NATO-Draht) ist die Grenze hier verschlossen. Rund um die Uhr bewachen ungarische Militärbeamte auf ihrer Seite den Übergang. Immer wieder gibt es lautstarke Proteste der Flüchtenden. Vor allem aber erschöpfte Reisende: Tausende Menschen sitzen in der Dunkelheit. Manche mit Zelt, manche mit einem Schlafsack, einer Decke oder Isomatte, viele aber auch mit nichts. Einen Platz zum Schlafen bietet nur der kalte Boden. Es ist für uns alle ein Schock – uns war nicht bewusst, was uns hier erwartet.
Binnen kürzester Zeit haben wir noch am selben Abend alle unsere Sachspenden verteilt. Gereicht hat es gerade mal für einen Bruchteil der Anwesenden.
Dies ist der Anfang einer Reihe von dramatischen Tagen und Nächten, die uns im Nachgang wie Wochen erscheinen werden. Dies ist der Anfang einer Reihe von dramatischen Tagen und Nächten, die uns im Nachgang wie Wochen erscheinen werden.
Der nächste Morgen: Der Eindruck vom Vorabend verschlimmert sich bei Tageslicht. Dies ist eine humanitäre Katastrophe. Viele der Menschen sind seit Wochen auf der Flucht und völlig erschöpft, unter ihnen auch viele Alte, Kranke und Kleinkinder. Die hygienischen Zustände sind unzumutbar und die meisten Menschen, die wir sehen, haben weder Wasser noch Nahrung, was bei 35°C lebensgefährlich ist.
Weder der UNHCR noch andere größere Hilfsorganisationen sind vor Ort, lediglich die ‚Ärzte ohne Grenzen‘ und eine kleine dänische Organisation haben ein Medizelt aufgestellt. Und so starten wir den Versuch einer – wenn auch minimalen – Grundversorgung, gemeinsam mit einigen HelferInnen aus anderen europäischen Ländern und ein paar der anwesenden Flüchtenden. Ein kleines leerstehendes Zollgebäude wird zu Sammellager und Verteilstelle für Sachspenden, Wasser und Lebensmittel. Davor beginnt eine Feldküche, warmes Essen zuzubereiten. Und auch kleine medizinische Hilfen gehören zu unseren Tätigkeiten, insbesondere wundgelaufene Füße gilt es zu versorgen und zu verbinden. Während dieser Behandlungen finden wir am ehesten Zeit für intensive Begegnungen mit den Menschen. Auch mit Kindern, die, so finden wir, oft kaum noch kindliche Regungen zeigen. Wir lernen auch Mahmud, einen 15-jährigen Basketballer aus Damaskus kennen. Er spielte dort in der syrischen Nationalmannschaft und hilft uns in den folgenden Tagen mit Übersetzungen ins Arabische. Wohin seine Reise weiter verlaufen ist, wissen wir leider nicht.
Am Nachmittag eskaliert die Situation. Die Sondereinheiten der ungarischen Polizei, die komplett vermummt bereits am Morgen neben den Grenzbeamten aufgetaucht sind, provozieren Auseinandersetzungen mit den Flüchtenden an der Grenze. Ein Wasserwerfer schießt in die Menge – aber nicht nur mit Wasser, sondern auch mit CS-Gas. Das zuvor besorgte Wasser muss nun dafür verwendet werden, den Verletzten die Augen auszuspülen. Mehrere Menschen, darunter eine schwangere Frau, kollabieren, Mütter suchen verzweifelt nach ihren in den Tränengaswolken und im allgemeinen Tumult verlorengegangenen Kindern, Verletzte werden von Sanitäter_innen verarztet. Drei serbische Krankenwagen kommen hinzu, um die Verletzten zu versorgen – doch selbst diese werden bei einer weiteren Tränengasattacke vom ungarischen Militär gezielt beschossen. In diesem Chaos gehen unsere Feldküche und das Materiallager völlig unter und letzteres ist durch das Tränengas nicht mehr zu benutzen. Wir versuchen zu retten, was zu retten ist und in einem anderen leeren Gebäude unterzubringen. Und in all dem Chaos der Katastrophenjournalismus.
Ab Mittwoch Abend und im Verlauf des Donnerstags leert sich der Ort schon wieder. Die Menschen werden mit Bussen erst zu einem offiziellen Lager des UNHCR in Kanjiža gebracht, von wo aus sie per Reisebus (die Tickets kosten 25 €, am Vortag waren es noch 20 €) zur kroatischen Grenze, wahrscheinlich nach Bezdan und Šid, weiterreisen können. Erstaunlich gelassen und hilfsbereit bei all dem zeigt sich im Zuge dessen die serbische Polizei, vor der wir im Vorhinein noch extra gewarnt worden sind. Im Gegenteil dazu werden uns die Mitarbeiter_innen des Camps in Kanjiža, als wir uns einen Eindruck der Versorgungslage im Camp machen wollen, sehr unfreundlich des Geländes verweisen.

Marc Speer schildert die Ereignisse unter Berufung auf THE BUDAPEST BEACON wie folgt:

Eine Straße, die einige hundert Meter neben den Bahngleisen verläuft, war mittels eines improvisierten Holztors und eines metallenen Absperrgitters versperrt worden. Als sich vor dieser Blockade eine Menge versammelte, einige vereinzelte Gegenstände in Richtung der Polizei geworfen wurden und ein paar Personen gegen das Tor traten, reagierte die Polizei umgehend, wobei Schlagstöcke, Tränengas und ein Wasserwerfer eingesetzt wurden. Erst im Anschluss daran wurden massiv Steine und andere Gegenstände in Richtung der Polizei geworfen. Dann jedoch beruhigte sich die Situation schnell wieder. Vor allem deswegen, weil sich die Polizei ein Stück weit innerhalb des „Korridors“ – auf den beiden Längsseiten der Straße befindet sich ein etwa mannshoher Maschendrahtzaun – zurückzog. Dies wurde von den versammelten Flüchtlingen derart interpretiert, dass die ungarische Polizei sie nun passieren ließe, auch deswegen, weil das Tor nach kurzer Zeit offen stand. Das Gegenteil war dann jedoch der Fall: Nachdem die nun absolut friedliche und „Thank you Hungary“ rufende Menge – an ihrer Spitze vor allem Familien, die nach einer entsprechenden Aufforderung durch andere Flüchtlinge nach vorne gekommen waren – den „Korridor“ betreten hatte und die Polizeikette erreichte, stürmte insbesondere die Spezialeinheit TEK plötzlich nach vorne und verhaftete etliche Menschen. Dem Großteil der Flüchtlinge gelang es jedoch, zurück auf serbisches Territorium zu laufen. Es kam zum massiven Einsatz von Tränengas.
Elf Flüchtlinge wurden im Anschluss in Untersuchungshaft genommen bzw. unter „Hausarrest“ in einer der ungarischen Asylhafteinrichtungen gestellt. Darunter auch ein Rollstuhlfahrer und eine über sechzigjährige, auf einem Auge blinde Frau. Neun der Festgenommenen wurden in einem Prozess, der ein Jahr später stattfand, zu mit der bereits abgesessenen Zeit nahezu identischen Haftstrafen verurteilt. Einer der Angeklagten wurde zu drei Jahren verurteilt, da er angeblich die „Krawalle damals durch einen Lautsprecher befeuert habe“. Ahmed H., der als „Rädelsführer“ ausgemacht wurde, wurde in einem separaten Verfahren wenig später sogar zu zehn Jahren wegen „Terrorismus“ verurteilt.

Diese Auseinandersetzungen vor Röszke vom 15. September waren ein deutliches Signal der Entschlossenheit, eine nachhaltige Warnung an die Sicherheitskräfte, auch wenn die Spezialtruppen letztlich die Stellung halten konnten. Die Auseinandersetzungen vor Röszke waren ein deutliches Signal der Entschlossenheit, eine nachhaltige Warnung an die Sicherheitskräfte, auch wenn die Spezialtruppen letztlich die Stellung halten konnten. Sie währten nur vom Mittag bis zum Abend – auch wegen der Präsenz der ungarischen Spezialeinheiten und der drakonischen Strafen, mit denen die Beschädigung der Grenzanlagen geahndet wurde. Abseits des Hauptschauplatzes gab es aber auch noch zahllose Lücken im Zaun gab die schnell genutzt werden wollten.

Während also die letzten Flüchtlinge unter dem Zaun zwischen Serbien und Ungarn hindurch krochen, Kinder und Säuglinge über den Zaun hinweg gehoben wurden und andere ihr Glück an der Grenzstation selbst versuchten, setzte Serbien Busse ein, um die Migrant_innen von diesem Schauplatz fort Richtung Kroatien zu transportieren. Serbien machte sich auf diese Weise nicht zum Komplizen der ungarischen Abwehrpolitik. Die aus Preševo kommenden Flüchtlingsbusse wurden kurzerhand nach Šid umgeleitet, einer Kleinstadt an der Grenze zu Kroatien, allerdings ohne Rücksichtnahme auf die begrenzten Kapazitäten des Nachbarstaats.

Kroatien ist ein Land, in dem die Minenfelder, die der Jugoslawienkrieg hinterlassen hat, noch nicht geräumt sind. Serbien und Kroatien waren über die Jahre hinweg unverändert einander feindlich gesinnt, so dass für eine Räumung keine Notwendigkeit gesehen worden war. Immerhin reagierte die kroatische Regierung zunächst positiv und zeigte sich bereit, an der ungarischen Barbarei nicht mitzuwirken. Ministerpräsident Zoran Milanović signalisierte seine Bereitschaft, Flüchtlinge passieren zu lassen.

15.-17. September Stau in Tovarnik und Bapska

Allerdings kamen statt der wenigen hundert Menschen, die er bereit war zu akzeptieren, am nächsten Tag 8.000. Die serbischen Busverbindungen führten nun nicht mehr von Preševo über Belgrad nach Subotica, sondern es wurde eine direkte Busverbindung von Preševo quer durchs Land nach Šid eingerichtet. Von dort ging es 10 km zu Fuß weiter zum kroatischen Grenzort Tovarnik. Eine Gruppe von mehreren hundert Migrant_innen überrannte die kroatische Absperrung und drängte zur Bahnstation von Tovarnik, wo die Menschen zunächst auf freier Fläche kampieren mussten.

Eine Kollegin, die sich in Tovarnik, einem kroatischen Dorf an der kroatisch-serbischen Grenze aufhält, hat uns gerade von der dortigen Situation berichtet. Sie sagt, dass es sich um eine humanitäre Katastrophe handelt. Ihren Schätzungen zu Folge halten sich am Bahnhof mindestens 2.000 Flüchtlinge auf, im Dorf selber seien es nochmal so viele. Die kroatische Polizei blockiert aber den Zugang zum Dorf, weswegen die Flüchtlinge, unter ihnen viele Kinder und alte Menschen, teilweise schon seit Tagen am Bahnhof verbleiben müssen. [bordermonitorin.eu]

Ein Teil der serbischen Busse fuhr über Šid hinaus 10 km bis vor den kroatischen Grenzort Bapska. Von dort aus waren es 20 km zu Fuß bis zum eilends in einer alten Mineralölfabrik errichteten Auffanglager in der Nähe des Dorfes Opatovac.

Ziehen wir eine Zwischenbilanz dieser Tage zwischen dem 14. und dem 17. September, so muss bei allem Elend, das hier beschrieben wurde, doch festgehalten werden, dass in einer zwischen serbischen und kroatischen Stellen abgestimmten Aktion verhindert wurde, dass die Migrant_innen sich in den Minenfeldern verloren. Es waren hektische Tage nicht nur auf den Straßen jenseits von Šid, sondern auch auf diplomatischer Ebene. Zagreb protestierte gegen Belgrad und Budapest und der Papst rief zur Barmherzigkeit auf. Nach drei bangen Tagen stellte sich Zagreb aber auf die neue Situation ein – und zwar auf eine Weise, die niemand für möglich gehalten hatte: am Freitag, dem 18.09., und in der darauf folgenden Nacht wurden tausende Migrant_innen mit Zügen und Bussen an ungesicherte Grenzorte gebracht und von dort aus zur ungarischen Grenze eskortiert. In den folgenden vier Wochen entwickelte sich so eine Form staatlich organisierter Fluchthilfe, von der im nächsten Abschnitt die Rede sein wird.

Die Ereignisse von Röszke nährten aber zugleich die Auffassung, dass man die Migrant_innen ohne den Einsatz militärischer Mittel zwar nicht stoppen, wohl aber versuchen konnte, sie einem Regime von Disziplinierungen zu unterwerfen, um so den „Strom“ in geordnete Bahnen zu lenken und zu steuern. Diese Auffassung sollte sich unter den Sicherheitskräften der untereinander teils verfeindeten Länder entlang der Route bald verbreiten. Militär fuhr auf, Panzerwagen sollten die Migrant_innen einschüchtern, Unterwerfungsrituale wurden inszeniert: Absperrungen errichten, die Refugees zwingen, sich auf den Boden zu setzen, sie hungern lassen, Antreten in Zweierreihen, antreibende Yallah Yallah Rufe wie beim Viehtrieb und dergleichen mehr. Die Staatsgewalt – Polizei und Soldaten in Kampfausrüstung -, welche die Migrant_innen nicht aufhalten konnte, setzte ihr martialisches Drohpotential ein, um sie wenigstens in Zweierreihen antreten zu lassen.

Die Frage in den Wochen nach Röszke war dann auch, ob es den Flüchtenden gelingen würde, ihre Kraft und Entschlossenheit zu bewahren oder ob sie sich den Anordnungen und Demütigungen letztlich würden beugen müssen.

Der „humanitäre Korridor“

Bereits vier Tage nach dem Grenzschluss von Röszke befand sich die Orbán-Regierung erneut in der Defensive. Ab Freitag, dem 18.09., wurden tausende Migrant_innen mit Bussen und Sonderzügen von Tovarnik und Opatovac aus an die noch nicht gesicherte kroatisch-ungarische Grenze transportiert. Dort überquerten sie, ungeachtet aller Regeln und Abkommen und unter den Augen der Grenzschützer, die Grüne Grenze, um auf der ungarischen Seite wiederum in Sonderzüge zu steigen, die sie ohne weitere Registrierung nach Hegyeshalom, dem Übergang nach Österreich, brachten. Gleichzeitig wurde von ungarischer Seite in fieberhafter Eile ein weiterer Zaun an den heiklen Abschnitten der kroatisch-ungarischen Grenze fertiggestellt. Zuletzt blieb ein kleines Loch, durch welches sich, wie einen Monat zuvor in Röszke, 4.000 Refugees täglich zwängten.

18. September – 16. Oktober: Über die Grüne Grenze durch Ungarn

Die Zahl der Menschen, die in den vier Wochen zwischen dem Grenzschluss in Röszke und der Schließung des letzten Lochs über die Grüne Grenze nach Ungarn gebracht wurden, liegt lt. UNHCR bei etwa 180.000. Noch ist unklar, auf welchen Wegen und Kanälen die stillschweigende Vereinbarung zwischen Kroatien, Ungarn, Österreich und Deutschland in jenen hektischen Tagen zwischen dem 18.09. und dem 16.10. zustande kam. Allen Beteiligten war klar, dass jeder weitere Stau auf der Route zu Aufständen und zu kompromittierenden Bildern in der Weltpresse führen würde, von denen es schon mehr als genug gab,.

Das wichtigste Unterpfand der Stärke dieser Migrationsbewegung, das ihnen quasi freies Geleit verschaffte, war nicht der Durchbruch von Gevgelija am 22. August, nicht der March of Hope am 4. September, nicht die Militanz vor Röszke und auch nicht der Durchbruch von Tovarnik am Tag darauf, sondern es war vor allem die nachrückende Zahl der Migrant_innen, die über die Ägäis nach Griechenland kamen, im Oktober mehr als 7.000, im November mehr als 6.000 täglich. Das wichtigste Unterpfand der Stärke dieser Migrationsbewegung war die nachrückende Zahl der Migrant_innen, die über die Ägäis nach Griechenland kamen.

Griechenland hatte inzwischen eine regelmäßige Fährverbindung von Lesbos und den anderen Inseln nach Piräus eingerichtet und beförderte die Migrant_innen von dort aus möglichst zügig nach Idomeni. Von Gevgelija fuhren vier bis fünf Züge täglich an die Grenze nach Serbien. Drei Stunden, 180 km. Von dort über die Grenze 8 km nach Preševo. Dort stauten sich die Buskolonnen für den Weitertransport nach Šid. Ein 2 Kilometer langer Fußweg durch Matsch und Maisfelder führte sie über die Grenze nach Kroatien, wo sie von Polizisten empfangen und zu den Bussen nach Opatovac eskortiert wurden. Von dort aus funktionierte die staatlich organisierte Fluchthilfe vier Wochen lang mehr oder weniger reibungslos, wie auch die NZZ zu berichten wusste:

Inzwischen reisen die Flüchtlinge über Kroatien, wo die Behörden sie umgehend an die ungarische Grenze bringen. Seit sich diese neue Route abzuzeichnen begann, wird dort zwar ebenfalls an einem Zaun gearbeitet. Er ist laut dem ungarischen Kanzleramtsminister Janos Lazar inzwischen «zu 99 Prozent» fertig». Vorläufig wird die Einreise der Asylsuchenden aber erlaubt, es waren zuletzt täglich rund 6.000. Sie werden an die Grenze zu Österreich befördert.
Es ist allerdings nur eine Frage der Zeit, bis diese Routine durchbrochen wird. Innenpolitisch ist es für die Regierung von Viktor Orbán schwer zu erklären, weshalb mit erheblichem Aufwand die Grenzen vor angeblich gefährlichen, aus wirtschaftlichen Gründen Fliehenden gesichert werden, wenn man dennoch Tausende passieren lässt. Auch Orbáns Argumentation, Budapest halte sich als einziges Land an die EU-Regelungen, ist hinfällig.
Inzwischen winkt Ungarn die Flüchtlinge entgegen der Dublin-Verordnung ebenso durch wie Griechenland oder Österreich. Beim Besuch der kroatischen Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarovic in Ungarn diese Woche hieß es inoffiziell, das geltende Regime werde vorerst aufrechterhalten, möglicherweise bis zur Wahl in Kroatien Anfang November. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Deutschland die großzügige Aufnahmepolitik nicht ändert.

Das definitiv letzte Loch im Zaun an der kroatisch-ungarischen Grenze wurde allerdings schon in der Nacht zu Sonnabend, dem 17.10., gedichtet. Sicherlich nicht zufällig schloss Deutschland gleichzeitig die Grenze mit Österreich – zwar nur für wenige Stunden, aber doch ein deutliches Warnsignal an die Staaten des neuen Korridors, an Kroatien, Slowenien und auch an Österreich, dass man den Durchmarsch ohne Registrierung auf Dauer nicht tolerieren würde.

Kroatien reagierte prompt und ließ tausende Migrant_innen einige Tage lang im Niemandsland zu Serbien stranden. Weitere Tausende wurden in Opatovac zurückgehalten. Wie schon in vergleichbaren Situationen vorher drohte ein Dominoeffekt entlang der Route und keines der Durchgangsländer wollte am Ende den Schwarzen Peter zugeschoben bekommen.

17. Oktober: Ungarn schließt die Grenze (zum zweiten Mal)

Slowenien hatte in den Tagen nach dem Grenzschluss von Röszke die Route der Migration erfolgreich von seinem Territorium ferngehalten. Am Grenzübergang Harmica hatte die Polizei Tränengas eingesetzt, auch gegen Frauen und Kinder. Migrant_innen und Aktivist_innen in Kroatien und Slowenien hatten gemeinsam für das Right to Move demonstriert.

Bevor nun Slowenien zum nächsten Transitland wurde, wiederholte sich die inzwischen bekannte Abfolge von Abwehr, Chaos und Arrangements. Eine der wenigen Konstanten in diesen Wochen nämlich war: verlagert sich die Balkanroute in einen neuen Staat, so reagieren die Regierungen zunächst panisch. Eine der wenigen Konstanten in diesen Wochen war: verlagert sich die Balkanroute in einen neuen Staat, so reagieren die Regierungen zunächst panisch. Und sie benötigen einige Tage, um zu realisieren, dass die Lösung des „Problems“ nicht in der starken Hand des Staates liegt, sondern in der effizienten Organisation der Weiterreise. Die Situation, die nach der Schließung der ungarisch-serbischen Grenze in Kroatien zu unhaltbaren Zuständen geführt hatte, wiederholte sich in den Tagen nach dem 19. Oktober in Slowenien.

Als erstes wurde eine Notverordnung verabschiedet, um Militär an der Grenze einsetzen zu können. Dann begrenzte Slowenien die Zahl der durchgeleiteten Migrant_innen auf 2.500 pro Tag und sorgte so für einen Rückstau in Kroatien und Serbien. Einen Tag lang wurde sogar der Bahnverkehr zwischen Kroatien und Slowenien eingestellt.

19. Oktober: Slowenien wird Transitland

Während die Politiker hin und her verhandelten, setzten Dauerregen und Winterkälte ein. Tausende Menschen blieben in Serbien und Kroatien im Matsch stecken und täglich rückten 5.000 Menschen aus Mazedonien kommend nach. Viele suchten sich eigene Wege über die Grenze. Am 19. Oktober kamen 7.677 Flüchtlinge in Slowenien an, zwei Tage später waren es sogar 12.616. Sie wurden im Regen zermürbt, mussten sich in Formation aufstellen und wurden, angeführt von einem Polizisten zu Pferde, zum Durchgangslager Brežice eskortiert. Dieser Ort entsprach dem kroatischen Opatovac – ein auf dem Gelände einer Polizeistation notdürftig hergerichtetes Lager gut 10 km hinter der Grenze.

Eingepfercht hinter den Absperrgittern der Polizei und den Eisengattern des Geländes eines größeren, leerstehenden Gebäudes in der südslowenischen Gemeinde Brežice stehen dicht gedrängt die Flüchtlinge. Eine junge Frau aus Wien reicht Brote durch die Gitter. Viele Hände strecken sich aus, jeder will etwas davon haben.
Es ist eine gespenstische Szenerie, die an finstere Zeiten im letzten Jahrhundert erinnert. Würdevoll ist das alles nicht. Wenn sie am Morgen nicht 1.500 Sandwiches, die von der islamischen Gemeinde in Wien gespendet wurden, hierher gebracht hätte, wären noch mehr Menschen hungrig geblieben. …
Unter den Wartenden ist Unruhe entstanden. „Deutschland, Deutschland“, skandieren sie. Sie möchten nicht mehr lange warten, der Weitertransport nach Österreich geht ihnen zu langsam vonstatten. Spezialkräfte der Polizei marschieren auf, einige Dutzend mit Schutzschilden ausgerüstete Polizisten bewegen sich auf die Absperrgitter zu, was den Chor der Rufenden nur noch lauter werden lässt. Vor dem Lager stehen noch drei Fahrzeuge der slowenischen Armee, gepanzerte Personentransporter, die mit ihren riesigen Rädern die weichen Wiesen aufgewühlt haben. Und ab und an ziehen Hubschrauber über dem Gelände ihre Kreise.

Waren es die brennenden Zelte von Brežice, angezündet von den Migrant_innen in der Nacht zum 21. Oktober, aus Protest gegen die wiederholten Verzögerungen an allen Grenzen, die den Weg wieder frei machten weiter nach Deutschland und Nordeuropa? Oder war es die Furcht vor den nachrückenden Migrant_innen? Eine Lawine, wie Minister Schäuble einmal sagte, von der man nicht wisse, ob man sich in ihrem oberen Viertel oder eher in der Mitte befinde. Die Meldung der ZEIT ist paradigmatisch, der Artikel spricht von den Migrant_innen, die sich wie Vieh behandelt fühlen:

Brennende Zelte, frierende Kinder, die unter freiem Himmel schlafen – und immer mehr Menschen kommen. An der slowenisch-kroatischen Grenze bricht die Kontrolle zusammen.
Der Geruch von verbranntem Stoff hängt über der abgeriegelten Zeltstadt. Hoch über dem Aufnahmelager von Brežice knattert unablässig ein Polizei-Hubschrauber. Leise summend schwebt eine Kamera-Drohne über dem Gestänge der verbrannten Zelte.

Es waren diese Migrant_innen, die sich in Bapska durch den Regen gekämpft und in Brežice die Zelte abgebrannt hatten, die nun in Spielfeld ankamen und nicht mehr die Nerven hatten, sich von den österreichischen Pappkameraden noch einmal aufhalten zu lassen. Die FRANKFURTER RUNDSCHAU berichtet von einer Dramatik, die zwischen Angst und Inszenierung schwankte:

Tausende Flüchtlinge kommen über Slowenien nach Österreich. Die Lage an der Grenze in Spielfeld in der Südsteiermark wird immer unübersichtlicher, die Transitlager sind überfüllt. Viele Menschen machen sich auf eigene Faust auf den Weg Richtung Norden.
Bisher verlief in Spielfeld alles in geordneten Bahnen, die Flüchtlinge wurden von der slowenischen Polizei in Gruppen von etwa 200 Personen an die Grenze gebracht und von den österreichischen Behörden übernommen. Doch in den vergangenen Tagen hat sich die Lage zugespitzt: am Dienstagabend kamen auf einmal 4.000 Menschen nach Österreich, die nicht mehr länger in Slowenien auf ihre Weiterreise warten wollten. Sie drängten gegen Absperrungen und überkletterten Zäune, an der Essensausgabe kam es kurzzeitig zu tumultartigen Szenen. Nach der ersten Aufregung beruhigte sich die Lage schnell wieder. Die meisten Menschen konnten noch in der Nacht weiterreisen, die letzten Flüchtlinge wurden am Mittwochvormittag in Unterkünfte gebracht.

22. Oktober: Stau in Spielfeld

Und DIE WELT räsonierte unter der Schlagzeile Für jeden, der weiter darf, kommen zwei Neue an:

Das österreichische Spielfeld ist das neue Zentrum der Flüchtlingskrise. Österreich kapituliert vor dem Ansturm aus Slowenien und lässt Flüchtlinge über die Grenze. Ergreifende Szenen spielen sich ab. „Alle sofort setzen. Folgt unseren Anweisungen, und keine Kämpfe.“ Diese Ansage tönt in arabischer und englischer Sprache durch das Niemandsland an der Grenze zwischen Slowenien und Österreich. Die Flüchtlinge folgen den Anweisungen. Sie sind hungrig, durstig und von den Strapazen gezeichnet. Rund 1.000 Menschen setzen sich auf den kalten Asphalt. Wer den Anweisungen nicht folgt, darf auch nicht weiterreisen, so die Drohung.

25. Oktober: EU-Flüchtlingsgipfel

Sicherlich setzte insbesondere die Merkel-Regierung gewisse Hoffnungen auf einen Sondergipfel der EU zur „Flüchtlingskrise“ auf dem Balkan Ende Oktober 2015. Aber die EU-Nachbarn blieben stur und immer häufiger wurde in Deutschland die Frage gestellt, wie lange Merkel den Kurs würde halten können. Die AfD skandierte auf ihren Kundgebungen „Merkel muss weg“. Vordergründig erbrachte der Gipfel nichts Neues außer ein paar Millionen für Slowenien. Wie schon mehrfach zuvor wurden Hotspots und Verteilungsquoten avisiert, die nicht zustande kamen, und es folgten die üblichen Erklärungen:

EU-Staaten und Westbalkanländer wollen die Flüchtlingsströme auf der Balkanroute verlangsamen. „Wir werden Flüchtlinge oder Migranten entmutigen, zur Grenze eines anderes Landes der Region zu ziehen“, heißt es in der Erklärung. Das Ziel sei „eine allmähliche, kontrollierte und geordnete Bewegung“ der Menschen. [HANDELSBLATT]

1. November: EU-Innenministerkonferenz

Dennoch wurden auf diesem Gipfel – und eine Woche später auf einem Treffen der Innenminister – atmosphärisch wichtige Weichen gestellt. Niemand hätte die Absicht, Lager zu bauen, schrieb die TAZ in jenen Tagen anlässlich des Gipfels. Und sie fuhr fort:

Auf dem Balkan sollen Flüchtlinge in sogenannten Hotspots aussortiert werden. Die Balkanstaaten sollen Merkels Drecksarbeit erledigen.
Es klingt harmlos, fast humanitär, was Kanzlerin Merkel und EU-Kommissionschef Juncker beim Balkan-Krisengipfel in Brüssel vorgeschlagen haben. Besserer Informationsaustausch, mehr Hilfe für Flüchtlinge, gemeinsames Management der Migrationsströme von der Türkei bis Deutschland: Wer könnte etwas dagegen haben?
Doch hinter diesen Worten steht ein ungesagtes Ziel: Der Balkan soll zur Transitzone werden, in der „berechtigte“ und „chancenlose“ Flüchtlinge registriert, aussortiert und abgeschoben werden. Was Merkel in Deutschland nicht umsetzen kann, soll nun in Kroatien, Bulgarien oder Griechenland Wirklichkeit werden. Der Balkan soll zur Transitzone werden, in der „berechtigte“ und „chancenlose“ Flüchtlinge registriert, aussortiert und abgeschoben werden.

Zeitgleich mit dem EU Gipfel in Brüssel wurde von Aktivist_innen, welche die Migrant_innen bedingungslos unterstützten, zu einer Demo in Spielfeld aufgerufen: Für Bewegungsfreiheit, gegen Grenzzäune! In Spielfeld und Überall!

Tausende von Geflüchteten und Migrant_innen warten momentan an der slowenisch-österreichischen Grenze nahe dem Ort Spielfeld eingepfercht zwischen Zäunen und fordern ihr Recht auf Weiterreise und Bewegungsfreiheit. Österreichisches Militär und Polizei zwingt die Menschen in Warteschlangen und -kessel zur Registrierung, viele warten schon über Nacht unter freiem Himmel in der Kälte und das alles, nachdem sie schon tagelang enormen Strapazen auf der Balkanroute ausgesetzt waren.

Die Route wurde nach der Überwindung auch der slowenischen Widerstände wieder flüssig, zumindest für die Migrant_innen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. An nahezu allen Orten, an denen sie aufgehalten wurden, gab es beheizte Zelte und Verpflegung, Ladestationen für die Handies und freies WLAN. Von Gevgelija verkehrten Züge für 25 € pro Person, in Preševo standen die Busse Schlange, um die Migrant_innen für 35 € nach Šid zu befördern, durch Kroatien fuhren die Züge kostenlos bis zum neuen Registrierungslager in Slavonski Brod und von dort mit der Bahn durch Slowenien in fünf Stunden bis nach Villach. Für die 1.200 km über den Balkan bis nach Österreich benötigen die Migrant_innen nur noch drei bis vier Tage. In Villach bestiegen sie Busse nach Braunau und waren dann fast schon in Deutschland – all dies vor allem ein Erfolg der hier beschriebenen Kette von Kämpfen der „Generation nach Röszke“, in denen die Migrant_innen in Zweierreihen antreten und im Matsch kampieren mussten oder durch Gitter getrieben wurden „wie Vieh“, aber in denen sie ihr Right to Move nicht minder robust verfolgten wie vor ihnen die „Generation Keleti“.

Idomeni im Winter

Wenn Polizei und Politik zwischen Berlin und Balkan darauf gesetzt hatten, dass die Herbststürme in der Ägäis die „Flüchtlingskrise“ lösen würden, sahen sie sich im November und selbst noch im Dezember eines Besseren belehrt. Die Passagen wurden bei stürmischem Wetter billiger, so dass nun auch Familien mit knapperen Ressourcen das Geld aufbringen konnten. Die toten Kinder bezeugen, wie hoch das Risiko war, das die Migrant_innen einzugehen bereit waren. Die Zahl der Überfahrten sank und die Zahl der Ertrunkenen stieg. Dennoch überwanden im November und Dezember immer noch 1.500 bis 5.000 Migrant_innen täglich die wenigen Kilometer zwischen dem türkischen Festland und den ägäischen Inseln und in den ersten Wochen des Jahres 2016 überstiegen die Zahlen die des Vorjahres um ein Vielfaches – bis zum März, als der schmutzige Deal mit der Türkei den Weg über die Ägäis mit überraschender Effizienz verschloss.

Der Grenzübergang zwischen Idomeni und Gevgelija war schon am 22. August Schauplatz einer Feldschlacht zwischen Polizei und Armee auf mazedonischer und tausenden Migrant_innen auf griechischer Seite gewesen. Am 16. November begann mazedonisches Militär, das Gelände vor Gevgelija für einen Zaun zu präparieren, nachdem der mazedonische Ministerrat am Vortag einen entsprechenden Beschluss gefasst hatte. Zwei Tage später wurde die Grenze für alle „Non-SIA“-Migrant_innen – also für Menschen, die sich nicht als Syrer, Iraker oder Afghanen ausweisen konnten – geschlossen. Mit diesem partiellen Grenzschluss profilierte sich Mazedonien als „neuer europäischer Frontstaat“. Indem die rechtsnationale mazedonische Regierung dem Druck aus der EU willig nachgab, versuchte sie – angeschlagen durch innere Konflikte – sich über die europäische Karte zu stabilisieren.

Es wäre indes völlig falsch zu glauben, Mazedonien habe die Initiative zur Schließung der Balkanroute ergriffen. Der Zaun in Gevgelija war nicht der einzige, er stand im engen Kontext der allgemeinen Aufrüstung und Kontrollen an den Grenzen der Balkanroute.

Im Verhältnis der Transitländer untereinander hatte sich seit September ein nervöser Zustand des gegenseitigen Belauerns entwickelt. Jedes Gerücht über eine Stockung im Transit führte zu Reaktionen und Überreaktionen der vorgelagerten Staaten. Alle hatten Sorge, abgewiesene Migrant_innen nicht weiter durchreichen zu können. Jedes Gerücht über eine Stockung im Transit führte zu Reaktionen und Überreaktionen der vorgelagerten Staaten. Alle hatten Sorge, abgewiesene Migrant_innen nicht weiter durchreichen zu können. Slowenien hatte seinen Zaun als erstes fertiggestellt und verhandelte nun aus einer relativen Position der Stärke und quasi als Vertreterin der EU mit seinen Nachbarn. Es war dann auch Slowenien, welches dazu überging, Migrant_innen mit geringer Aussicht auf Asyl nach Kroatien zurück zu weisen. Kroatien, Serbien und Mazedonien zogen umgehend nach. Es bestand kein Zweifel daran, dass sämtliche dieser Maßnahmen mit anderen EU-Staaten wie Deutschland und Österreich abgesprochen worden waren. Am Abend des 18. November und in der folgenden Nacht kam es zu einer Kettenreaktion.

18. November: Nur noch „SIA-Flüchtige“ werden durchgelassen

Dies war der Beginn einer neuen Ära in der kurzen Geschichte der Balkanroute, einer Ära, an deren Ende das Recht auf Anhörung und Asyl durch Racial Profiling ersetzt wurde, durch die Zurückweisung von Migrant_innen aufgrund von nationaler Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit, Hautfarbe oder Dialekt. Unterschieden wurde nun zwischen SIA- und Non-SIA Migrant_innen, und es war nur eine Frage der Zeit, wann Refugees aus Afghanistan ebenfalls die Weiterreise verweigert werden würde, ungeachtet der stetig sich verschlechternden Sicherheitslage in diesem Land. Dass sich Dolmetscher_innen des UNHCR am Profiling der Migrant_innen von vornherein beteiligten, gehörte für viele Beobachter_innen zu den großen Enttäuschungen.

Was sich in Idomeni während der folgenden Tage und Monate abspielte, ist im Liveticker detailliert nachzulesen, den Aktivist_innen von Moving Europe unterhalten haben, und kann hier nur zusammengefasst werden. Es wird berichtet von den Gruppen von Abgewiesenen, die sich zu Open Border Kundgebungen zusammentaten, von einem Mann, der bei den Protesten durch einen Stromschlag ums Leben kam und einem weiteren Schwerverletzten, von den Iranern, die sich die Münder zunähten und auf den Gleisen in Hungerstreik traten, ungeschützt vor Kälte und den Regengüssen, die immer wieder einsetzten. Es wird berichtet, wie SIA-Migrant_innen im Abstand von wenigen Metern an den Non-SIA Migrant_innen vorbei geschleust wurden. Während Busse aus Athen beide Gruppen nach Idomeni transportierten, versuchten Mitarbeiter_innen des UNHCR unentwegt, Non-SIA Migrant_innen zur Rückkehr nach Athen zu überreden, und viele, vor allem Familien mit Kindern, folgten diesem Aufruf. Am 26.11. wurde gerade erst aus Ungarn angelieferter NATO-Draht auf dem in der Vorwoche bereits planierten Gelände ausgerollt und von den Migrant_innen teilweise wieder abgeräumt. Bei Regen und Kälte kamen immer weitere Busse aus Athen an.

Am 28. November flogen Steine in Richtung der mazedonischen Sicherheitskräfte, die zurück geworfen wurden, dann setzte das Militär auch Rauchbomben und Tränengas gegen die Migrant_innen ein. Vor allem aber arbeitete das mazedonische Militär weiter am Zaun, während die griechische Polizei bei alledem noch passiv am Rande stehenblieb. Eine gewisse Niedergeschlagenheit machte sich breit.

Am 30.11. rückte erstmals schwer bewaffnete griechische Polizei an. Das war ein Montag, aber es sollte noch bis zum folgenden Donnerstag, dem 3.12., dauern, bis sie eingriff, um Auseinandersetzungen zwischen SIA- und Non-SIA Migrant_innen zu unterbinden. Die Situation war ja absurd: Tausende harrten mit schwindender Hoffnung und in Eiseskälte vor dem Tor nach Mazedonien aus, während andere, nur aufgrund eines anderen Eintrags in ihrem Registrierungspapier, an ihnen vorbei gingen und die Grenze passieren durften. Die Situation war absurd: Tausende harrten vor dem Tor nach Mazedonien aus, während andere, nur aufgrund eines anderen Eintrags in ihrem Registrierungspapier, die Grenze passieren durften. Natürlich löste dies Frustration und Aggressionen bei den Non-SIA Migrant_innen aus. Aber trotz dieser Spaltungsmanöver gab es am Morgen des 1. Dezember eine starke und friedliche Demonstration der Migrant_innen vor Ort und eine Demonstration von Unterstützer_innen in Thessaloniki mit mehr als 1.000 Teilnehmer_innen. An diesem Tag kamen 30 Busse aus Athen an. Am nächsten Tag, am 2. Dezember, gab es ein erneutes Aufbäumen der Migrationsbewegung unter dem Slogan „Etihad“, Einheit zwischen den SIA- und den Non-SIA Migrant_innen.

Am Tag darauf zog sich das gesamte UNHCR-Personal zurück und die Non-SIA Demonstrant_innen wurden von der griechischen Polizei eingekesselt. Abends trafen zehn Busse mit griechischer Bereitschaftspolizei ein. 2.000 Menschen standen vor dem Grenztor, bevor die griechische Polizei am nächsten Morgen unter Waffen einen Korridor bildete, um die SIA Migrant_innen in kleinen Gruppen zum Grenztor zu geleiten. Zunehmend mehr Non-SIA Migrant_innen bestiegen die Busse zurück nach Athen und wurden dort in einem ehemaligen Olympiastadion provisorisch untergebracht. Auf der Hinfahrt wurden die Busse bereits in Polykastro gestoppt, einer Autobahnraststätte 20 km vor der Grenze. Dort mussten die Non-SIA Migrant_innen die Busse verlassen. Viele liefen zu Fuß nach Idomeni. Das Camp verwandelte sich in eine Zone der Repression, es wurde von der Polizei umzingelt und komplett gesperrt und am 9. Dezember schließlich geräumt.

9. Dezember: Erste Räumung Idomeni

Zum Zeitpunkt dieser ersten Räumung waren zahlreiche Volunteers in Idomeni, deren Anwesenheit für die Migrant_innen nicht nur wegen der Versorgung mit warmen Mahlzeiten und heißen Getränken wichtig war. Sie war zugleich eine gewisse Garantie dafür, dass die Migrant_innen nicht völlig der Polizeiwillkür ausgesetzt waren, nachdem sich das Personal von UNHCR und die internationale Presse längst zurückgezogen hatte. Beispielhaft soll an dieser Stelle ein Bericht von Grenzenlos Kochen Hannover zitiert werden:

Am Morgen des 09.12. begann die Polizei gegen 8.00 Uhr, das Camp zu räumen. Dabei blieb den Geflüchteten kaum Zeit ihre Sachen zu packen, viele Zelte wurden aufgeschlitzt und das Camp in Verwüstung hinterlassen. Den Geflüchteten wurde nicht erlaubt, sich zu entfernen, sie mussten in Reisebusse steigen und wurden weg gefahren, die meisten von ihnen nach Athen. Es gibt jedoch auch Informationen darüber, dass Menschen von Athen weiter transportiert wurden oder einfach auf offener Straße aussteigen mussten
Teilweise gingen die Polizist_innen auch mit Gewalt gegen Geflüchtete vor, die ihre Zelte nicht freiwillig verlassen wollten, darunter waren auch Kinder und Jugendliche. So waren mehrmals Schmerzensschreie aus Zelten zu hören, in welche die Polizei eingedrungen war. Einzelne Geflüchtete wurden während der Räumung von den anderen separiert, geschlagen und in Polizeiautos abtransportiert.
Der Versuch sich das Geschehen aus nächster Nähe anzusehen wurde von der Polizei unterbunden.
Ein verbliebener Teil unserer Gruppe in Idomeni hat es geschafft, tausende Decken, Schlafsäcke etc. zu sichern, die wir dann nach Thessaloniki brachten. Bereits kurz nach der Räumung begannen die Aufräumarbeiten: Decken, Zelte etc. wurden mit Baggern in den Müll geschmissen.
Seit gut einer Woche gibt es ein neues Hausprojekt in Thessaloniki, das extra für Geflüchtete besetzt wurde. Das Hausprojekt hat Kapazitäten für 100 bis 150 Personen.

Die erste Räumung des Lagers in Idomeni hatte indes nicht lange Bestand. Die erste Räumung des Lagers in Idomeni hatte nicht lange Bestand.Weiterhin kamen ja täglich Busse aus Piräus und brachten weitere Migrant_innen von den Inseln. Es wurde nach wie vor versucht, die Non-SIA Migrant_innen an der Tankstelle von Polykastro zu selektieren. Die Busse stauten sich dort und warteten mitunter zwanzig Stunden, bis sie nach Idomeni weiterfahren durften.

Die ausgesetzten Non-SIA Migrant_innen indes traten nur zum Teil den Rückweg nach Athen an. Dort wurden Gruppen von Algeriern, Marokkanern, Pakistanis und Bangladeshis auf den Straßen festgenommen und in Abschiebegefängnisse gebracht, wo sie einen Hungerstreik begannen. Auch von Selbsttötungsversuchen wurde berichtet. Viele aber machten sich zu Fuß auf den Weg nach Idomeni und gerieten in Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die griechische Regierung hatte nach der Räumung verboten, dass z.B. Medicins Sans Frontieres (MSF) seine Zelte in Idomeni nutzen durfte. Nur diejenigen, die auch gleich die Grenze überquerten, durften nach Idomeni gebracht werden. So blieben in den kältesten Tagen des Jahres tausende warme und einigermaßen gute Schlaflager in Idomeni leer, während MSF gleichzeitig an der Tankstelle in Polykastro Erfrierungen und Unterkühlungen behandeln musste. MSF appellierte vehement an Griechenland, die Zelte wieder nutzen zu dürfen. Irgendwann konnte Griechenland diese Praxis dann nicht mehr aufrechterhalten und das Lager in Idomeni füllte sich wieder. Ein Aufruf unabhängiger Volunteers vom 5. Januar verdeutlicht die Situation:

Täglich kommen zwischen 600 und 3.000 Menschen an der griechisch-mazedonischen Grenze Idomeni an. Passieren dürfen diese allerdings nur Flüchtende aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Es wird willkürlich über die Echtheit etwaiger Beweispapiere entschieden. NGOs wie z.B. Ärzte ohne Grenzen ist für Aufgaben wie die Ausgabe von Decken und die medizinische Versorgung vor Ort. Die gesamte Kleiderausgabe und Teeküche wird aber beispielsweise nur durch unabhängige Unterstützer_innen getragen.
Die Situation für die Flüchtenden aus anderen Nationen, die hier an der Grenze abgewiesen werden, ist besonders prekär. Viele Menschen, vor allem junge Männer, stranden hier ohne einen Cent in der Tasche. Sie werden zumeist gezwungen, mit Bussen zurück nach Athen zu fahren. Viele kehren allerdings zurück und harren hier im Umland von Idomeni in den Wäldern und alten Baracken aus und versuchen entweder auf eigene Faust über die Grenze zu kommen oder sich schleppen zu lassen. Doch in Mazedonien werden sie meist von Polizei und Militär aufgegriffen, zusammengeschlagen, ausgeraubt und nach Griechenland zurück geschoben. Die Versorgung dieser Menschen ist extrem schlecht. Eine kleine Gruppe versucht, diese zu erreichen und verteilt Tee, Lebensmittel, warme Sachen und Infos.

Unterdessen lancierten die mazedonischen Grenzbehörden immer wieder neue Schikanen auch gegenüber den SIA Migrant_innen. Anforderungen an Dokumente wurden willkürlich geändert, die Grenze wurde in der 3. Kalenderwoche für einige Tage ganz geschlossen, dann durften nur noch Personen mit den registrierten Zielländern Österreich oder Deutschland passieren.

27. Januar 2016: EU-Innenministerkonferenz

Zeitgleich mit der EU-Innenministerkonferenz in Amsterdam am 27. Januar 2016 kam es erneut zu einem Rückstau an der Grenze. Mazedonien nahm an dieser Konferenz nicht teil, vielleicht fürchtete man, von dortigen Beschlüssen überrascht zu werden. Es wurden nur kleine Kontingente ins Land gelassen. Was auf dieser Konferenz in Amsterdam tatsächlich diskutiert wurde, war die Option, Griechenland aus dem Schengen-Raum auszukoppeln und dort hunderttausende Migrant_innen in Massenlagern aufzuhalten. Das eingezäunte Kerneuropa schien Griechenland opfern zu wollen und Italien hatte Mühe, seinen Verbleib auszuhandeln.

Die Tsipras-Regierung sah sich durch diese Drohung derart unter Druck gesetzt, dass sie in der Folgezeit den anstehenden Verhandlungen mit der Türkei keinen Widerstand mehr entgegensetzte.

3. Februar 2016: Balkan-Innenministerkonferenz mit Kurz, ohne Griechenland

Wenige Tage später, am 3. Februar, tagten die Innenminister von Mazedonien, Österreich, Serbien, Kroatien und Slowenien. In Verlängerung der Amsterdam-Konferenz einigte man sich auf einen ständigen Informationsaustausch und zusätzliche Grenzpatrouillen sowie auf die weitere Entschleunigung durch Einführung eines neuen Reisedokuments, für dessen Erhalt sich alle Migrant_innen einer 30-minütigen Befragung zu unterziehen hatten.

Die treibenden Kräfte, die auf eine Schließung der Route drängten, waren zu diesem Zeitpunkt die Regierungen Österreichs und der Visegrád-Staaten. Mazedonien hatte ja aus dem Durchmarsch der Migrant_innen bescheidenen Profit gezogen. Österreich und die Visegrád-Staaten erneuerten nun auf dem Spitzentreffen am 15. Februar das Angebot an Mazedonien, die Grenze zu Griechenland mit vereinten Kräften militärisch zu sichern, so dass ab sofort nicht nur Österreich und die Staaten entlang der Route, sondern auch Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei mit ihren rechtsnationalen Regierungen bereit waren, die Grenze notfalls auch mit Gewalt zu schützen. Zugleich stellten sich die Visegrád-Staaten offen gegen jede Politik der Umverteilung und gegen die Dominanz Merkels in der EU. Sie verkündeten, die Route auf jeden Fall abriegeln zu wollen, und konnten sich dabei der Unterstützung Österreichs sicher sein. Der faktische Ausschluss Griechenlands aus der Schengen-Zone und die Spaltung Europas schienen vorprogrammiert.

18. Februar 2016: EU-Gipfel in Brüssel

Der EU-Gipfel am 18. Februar in Brüssel stand damit unter Zugzwang. Merkel war inzwischen innen- wie außenpolitisch in einer Weise unter Druck geraten, dass sie die schrägen Interventionen Österreichs unter leisem Protest geschehen lassen musste. Ein Deal mit Erdogan, zu welchem Preis auch immer, erschien in dieser Situation die einzige Lösung. Nur durch Unterbindung des weiteren Zustroms der Migrant_innen über die Ägäis schien die Einheit Europas noch zu retten zu sein. Ein Deal mit Erdogan erschien in dieser Situation die einzige Lösung. Nur durch Unterbindung des weiteren Zustroms über die Ägäis schien die Einheit Europas noch zu retten zu sein.

21. Februar 2016: Grenzschluss für Menschen aus Afghanistan

Im Lager von Idomeni kampierten indes tausende Menschen an der Grenze und verfolgten diese politischen Debatten. Sie wussten, dass in diesen Tagen über ihr Schicksal debattiert und entschieden wurde und in allen Gesprächen im Lager war dies das dominante Thema. Noch war die Hoffnung, trotz Schlamm und bitterer Kälte, nicht gestorben. Aber schon am 21. Februar wurde der nächste Schritt zur Eindämmung der Migration inszeniert: wie befürchtet wurde die Grenze nun auch für Menschen aus Afghanistan geschlossen. Turbulente Szenen waren die Folge, einen Tag später hatte die griechische Polizei die Situation aber wieder unter Kontrolle: mit Gewalt hatte sie 200 Afghan_innen, welche die Schienen blockierten, abgeführt und mit 400 anderen in Bussen nach Athen transportiert.

24. Februar 2016: „Wiener Balkangipfel spaltet Europa“

Unterdessen hatte Österreich einen Westbalkangipfel zusammengerufen, um die weitere Reduzierung des Flüchtlingsstroms zu konkretisieren. Griechenland und Deutschland waren nicht geladen. Während die deutsche Regierung eher pro forma Einspruch erhob, sah sich die griechische Regierung einem Coup ausgesetzt, der jegliche Mitsprache über das, was auf der Route in Zukunft passieren würde, faktisch unterband.

In Idomeni warteten noch immer etwa 4.000 Menschen auf eine Möglichkeit, ihre Reise fortzusetzen. Und nach wie vor machten sich Migrant_innen vom Camp im Polykastro und anderen provisorischen Lagern in Nordgriechenland auf den Weg nach Idomeni – eine ganze Region in Bewegung, wie Moving Europe schrieb. Eine ganze Region in Bewegung

Unruhe verbreitete sich auf der gesamten Route. Slowenien wies alle Migrant_innen mit ungültigen Papieren über Kroatien nach Serbien zurück. In Tabanovce, vor der Grenze von Mazedonien nach Serbien, warteten 800 Afghan_innen auf Durchlass. Seit dem 19. Februar wurden auch in Serbien keine Transitdokumente mehr ausgegeben. Die Migrant_innen einschließlich derer, die über Dimitrovgrad aus Bulgarien einreisten, wurden aufgefordert, sich in Gevgelija eines der neuen biometrischen Dokumente ausstellen zu lassen, das sie niemals bekommen würden. Humanitäre Dokumente wurden nur an Frauen und Kinder ausgegeben, Familien auseinander gerissen. Zugleich machte die serbische Polizei nunmehr Jagd auf Migrant_innen, die sich zum Teil schon seit Wochen in den Parks in Belgrad aufgehalten hatten. Hunderte schnitten sich durch den ungarischen Grenzzaun und wurden von der serbischen Polizei sogar dazu ermutigt.

Ab dem 26. Februar setzte die griechische Regierung die Transporte von den Inseln nach Piräus aus und auch der Busverkehr von Piräus nach Idomeni wurde eingestellt. Trotzdem füllte sich das Lager in Idomeni jeden Tag mehr.

Idomeni an der Grenze zu Mazedonien. Das griechische Dorf ist zum Symbol geplatzter Träume geworden. Träume von einer Zukunft in Deutschland. Für die meisten Flüchtlinge, so scheint es, ist die Reise hier vorbei. Idomeni ist der Ort, an dem Europas beschämende Antwort auf die Krise für alle sichtbar wird.Für 1.500, vielleicht für 2.000 Menschen war das Flüchtlingslager an der Grenze ausgelegt. Jetzt harren hier 8.000 Hilfesuchende aus. Jeder Dritte ist ein Kind. Sie wollen weiter nach Mazedonien, weiter nach Norden. Doch die Grenze ist zu.
Gegen Mittag haben mehrere Hundert das Warten satt. Sie besetzen die Bahnschienen an der Grenze, sie gelangen bis zum Stacheldrahtzaun – Mazedoniens erste Verteidigungslinie. Dann drücken sie. Einige Flüchtlinge bewerfen Polizisten auf der anderen Seite mit Steinen, Beamte werden dabei verletzt. Als der Zaun fast eingerissen ist, antworten die mazedonischen Sicherheitskräfte mit Tränengas.
Die Menge zieht sich zurück. Wenig später sind viele aber wieder da. „Geht zurück, geht zurück“, ruft ein griechischer Beamter. „Egal, was ihr tut, die Grenze wird geöffnet, wenn sich die Länder dazu entscheiden.“ Seine Worte verhallen. „Warum lassen sie uns nicht durch?“, schreit ein Flüchtling zurück. „Wir wollen hier nicht bleiben. Sagt ihnen, dass wir nach Deutschland wollen.“ [SPIEGEL ONLINE]

Anfang März war die bevorstehende Schließung der Route mit den Händen greifbar. Immer neue Schikanen wurden erfunden, zuletzt wurden auch Migrant_innen aus Damaskus, Dairalzour, Rakka und Mosul sowie Flüchtende mit einem zu früh datierten Einreisestempel der Türkei nicht mehr akzeptiert.

8. März 2016: Offizielle Schließung der Route, der Dirty Deal wird ausgehandelt

Bis zur endgültigen Schließung der Route am 8. März, koordiniert zwischen allen betreffenden Staaten außer Griechenland, war es dann nur noch ein kleiner Schritt. Am selben Tag wurde der schmutzige Deal mit Erdogan ausgehandelt. Weder durch den Einsatz von Frontex-Fregatten noch durch die Öffnung von Hotspots war die Zahl der Migrant_innen, die auf Schlauchbooten von der Türkei zu den griechischen Inseln übersetzten, gesunken. Nach dem 20. März, nach Inkrafttreten des Deals, aber gelang es der türkischen Polizei binnen weniger Tage, die Abfahrten von der türkischen Küste aus nahezu vollständig zu unterbinden.

Das Lager in Idomeni, in dem inzwischen mehr als 10.000 Menschen darauf hofften, dass sich die Grenze doch noch öffnen würde, hatte durch tägliche Berichterstattung in der Weltpresse allgemeine Bekanntheit erlangt. Die Fotograf_innen traten sich auf die Füße und dokumentierten erste Schritte auf dem Weg zu einem selbstorganisierten Alltag. Aktivist_innen kochten oder begleiteten Spielgruppen für die Kinder. Norbert Blüm traf ein, um eine Nacht im Camp zu verbringen, und mit ihm eine weitere Heerschar von Reporter_innen.

14. März: New #marchofhope

Am 14. März formierte sich ein Marsch von 2.000 Migrant_innen, um abseits des mazedonischen Zauns einen Fluss zu überqueren und sich dann nach Norden durchzuschlagen. Ein Seil wurde über den Strom gespannt, man half sich gegenseitig, Familien und Kinder gelangten unbeschadet ans andere Ufer (am Tag zuvor waren zwei Menschen bei dem Versuch, einen größeren Fluss in der Nähe zu überqueren, im reißenden Strom ertrunken). Sofort war der Begriff eines new #marchofhope in aller Munde.

Kurz nach Überqueren der Grenze stoppten mazedonische Militärs den Marsch. Die Flüchtenden wurden von Aktivist_innen und Journalist_innen, die sie begleitet hatten, separiert. In kleinen Gruppen wurden sie in umliegende Dörfer verfrachtet, wo sie mehrere Stunden ohne Wasser und Lebensmittel ausharren mussten, ehe sie auf Militärfahrzeuge verladen und zurück zur Grenze transportiert wurden. Durch ein Loch im Grenzzaun schoben die Soldaten sie nach Griechenland ab, ohne dass ihnen zuvor zu irgendeinem Zeitpunkt die Gelegenheit geboten worden war, internationalen Schutz in Mazedonien zu beantragen.

Mit diesem letzten großen Aufbäumen an der griechisch-mazedonischen Grenze schließt diese Chronologie. In Idomeni kam es in den folgenden Wochen zu weiteren Protesten und dieser Ort blieb bis in den Mai hinein ein Stachel im schlechten Gewissen Europas. Das Lager wurde am 24. Mai 2016 endgültig geräumt, die Bewohner_innen wurden in Militärlager umgesiedelt, in denen sie es kaum besser hatten als im Schlamm von Idomeni. Im Gegenteil: dort waren sie ihrer Kontakte beraubt und erste Ansätze der Selbstorganisation wurden so zunichte gemacht.

20. März 2016: Der Dirty Deal mit der Türkei tritt in Kraft

24. März 2016: Endgültige Räumung Idomeni

Dass die Migrationsbewegungen, über die wir an dieser Stelle berichtet haben, den Takt der europäischen Krise über Monate bestimmten, kann nicht anders denn als epochaler Wendepunkt begriffen werden. Zwischen There-Is-No-Alternative-Politik und medialen Inszenierungen im halbwegs saturierten Kerneuropa und einer militärischen Kontrolle der Peripherie schien es vor dem Sommer der Migration keine Vermittlungen zu geben. Das Mittelmeer erschien von Berlin, Brüssel und Paris aus als Perlenkette touristischer Events, durchsetzt von No-Go-Zonen, die im Flieger oder auf dem Luxuskreuzer umschifft wurden.

Die Migrant_innen nun transportierten Bewusstsein und Botschaft ihres Rechts und ihrer Würde über die Grenzen hinweg. Aus bombardierten Bevölkerungen wurden, erkennbar auch für die Einwohner Europas, Kinder, Frauen und Männer, die sich trotz aller Nöte als Menschen mit Forderungen präsentieren und nicht um Almosen betteln. Aus bombardierten Bevölkerungen wurden Kinder, Frauen und Männer, die sich trotz aller Nöte als Menschen mit Forderungen präsentieren und nicht um Almosen betteln. Der Zusammenhang von europäischem Wohlstand und der Armut der Peripherie wurde krass erkennbar und die Frage stand im Raum, ob sich Europa an Bilder des Elends gewöhnen oder ändern will.

Nicht die pure Zahl der Migrant_innen ist das eigentliche Problem. Auch zehn oder zwanzig Millionen müssten nicht verhungern und könnten in Europa würdig aufgenommen werden. Im Mittelpunkt stehen vielmehr ganz andere Fragen, Fragen nach der Zukunft Europas, die der Sommer der Migration mit Vehemenz auf die Tagesordnung gesetzt hat: Öffnung der Grenzen oder Wohlstandsfestung, Öffnung der Gesellschaft oder Militarisierung und Schießbefehl. Diese Fragen werden uns durch die Migrant_innen weiterhin präsentiert werden, auch wenn immer noch mehr als Zehntausende von ihnen in Griechenland festgehalten werden und ebenso viele seither den gefährlichen Weg über das zentrale Mittelmeer nach Italien eingeschlagen haben. Hinter diesen Migrant_innen stehen Hunderttausende mehr, die ihr Recht auf Mobilität und Teilhabe einfordern und umsetzen. Sie werden uns nicht mehr in Ruhe lassen. Idomeni ist nicht das Ende der Geschichte. Europa wird bewegt.


1. Die Dublin-Verordnungen

Seit 1997 ist das Dubliner Übereinkommen in Kraft, mit dem erreicht werden sollte, dass jeder Asylbewerber nur in einem der Vertragsstaaten einen Antrag auf Asyl stellen konnte. Der Staat, in dem der Asylbewerber nachweislich zuerst eingereist war, sollte den Antrag bearbeiten.

Allerdings hielten sich die Migrant_innen nicht an diese Regelung, sondern reisten dorthin, wo sie sich Unterstützung von Verwandten oder Freund_innen erhofften oder Möglichkeiten für ein besseres Leben sahen. Die Dublin II Verordnung der EU, die im März 2003 in Kraft trat, hatte deshalb wesentlich die Datenbank EURODAC zum Inhalt: die Abnahme von Fingerabdrücken im Land der ersten Einreise.

Die Dublin III Verordnung trat im Januar 2014 in Kraft. Das EURODAC System sollte nun, über die Fingerabdrücke hinaus, mit weiteren Daten gespeist werden. Außerdem wurde der Polizei und anderen Sicherheitsbehörden Zugang zu den Daten gewährt. Da die Zuständigkeit der Erstaufnahmeländer bestätigt wurde, schoben die nördlichen Länder alle Verantwortung bezüglich der Registrierung und Erstaufnahme auf die südlichen EU-Staaten ab. Deutschland lehnte noch 2013 die Einführung eines Solidaritätsmechanismus mit einigem Zynismus ab. Italien und Griechenland reagierten, indem sie die Registrierung eher lax handhabten, so dass zahlreiche Migrant_innen die innereuropäischen Grenzen ohne Registrierung überqueren konnten. Als ein Jahr später die Zahl der Migrant_innen in Deutschland deutlich zunahm, protestierte der deutsche Innenminister und erhob Forderungen nach europäischen Standards bezüglich Unterbringung, Anerkennung und „Rückführung“ sowie nach europäischen „Verteilungsquoten“. Er wiederholte diese Forderungen im August 2015 noch einmal – allerdings war Dublin III zu diesem Zeitpunkt schon faktisch außer Kraft gesetzt.

Die Migration auf der Balkanroute setzte alle Dublin Verordnungen außer Kraft. Zunächst nur in Bezug auf die Syrer_innen machte Deutschland, als viele tausend Migrant_innen pro Tag eintrafen, von seinem „Selbsteintrittsrecht nach Art. 17“ der Dublin III Verordnung Gebrauch und kündigte an, die Asylanträge selbst zu bearbeiten. Aber es kamen ja auch Menschen aus Afghanistan, Irak und viele andere. Je besser die Hotspots in Griechenland und Italien funktionierten, desto häufiger kamen auch Migrant_innen, die trotz vieler Widerstände in EURODAC erfasst waren. Aber das Dublin-Verfahren für die „Einleitung der Rückführung“ dauert oft mehrere Wochen und aufgegriffene, andernorts registrierte Personen dürfen nur 72 Stunden lang festgehalten werden. Zudem muss die Rückschiebung innerhalb von drei Monaten nach Ankunft erfolgen. Deshalb konnte in Deutschland die angestrebte Zahl von mehr als 500.000 Abschiebungen im Jahr 2017 nicht eingehalten werden.

Dank dieser Einschränkungen können sich zur Zeit sehr viele Migrant_innen der Dublin-Abschiebung entziehen – ein Feld der Auseinandersetzungen, auf dem sie im Moment die Oberhand haben. Das Innenministerium und andere Gegner der Migration versuchen, diesen Zuständen durch Finanzierung von Hotspots und Beschleunigung der Prozeduren in Italien und Griechenland entgegen zu wirken – und indem man „Dublin-Fälle“ in den Erstaufnahmelagern zurückhält.

Längst steht eine Dublin IV Verordnung in der Pipeline, mit welcher die von den Gerichten gesetzten Fristen ausgehebelt werden sollen. Aber durch einen Witz der Geschichte ist diese Verordnung blockiert: Weil sich die „Nationen“ über die Verteilungsquoten nicht einig werden können, wird auch Dublin IV nicht verabschiedet. Weiter so.

Der Super-Kapitalist Soros hat schon vor 2 Jahren einen Vorschlag gemacht, wie die EU aus dieser Situation herauskommen könnte: die EU zieht die Asylverfahren an sich und stattet jede Person, die sich um Asyl bewirbt, mit einem finanziellen Einstand aus. Dafür könnte ein EU-Fonds aufgelegt werden. Auch der von Gesine Schwan ausgearbeitete Vorschlag zielt in diese Richtung. Plötzlich würden sich auch Ungarn und Polen um die Aufnahme Asylsuchender reißen …

Getrieben

Viel ist darüber gerätselt worden, was Kanzlerin Merkel am 4. September 2015 bewegt haben mag, die Grenzen zu öffnen, und der Journalist Christian Jakob trifft wohl den entscheidenden Punkt, wenn er schreibt:

Die Dublin-Grenze wurde von den Flüchtlingen aufgebrochen, nichts anderes. Es war die Stunde der Zurückweisung, der Demontage und Delegitimierung des europäischen Asylsystems. Als Merkel entschied, die Flüchtlinge aus Keleti nach Deutschland zu lassen, hat sie nur die Konsequenz aus einem politischen Notstand gezogen, den die Absurdität, die Ungerechtigkeit und die Menschenfeindlichkeit des Grenzregimes erst herbeigeführt haben.

Einige zusätzliche interessante Hinweise sind dem Buch Die Getriebenen des WELT-Radakteurs Robin Alexander zu entnehmen, auch wenn sein Blick durch das Schlüsselloch auf die Mächtigen Europas manche grundsätzliche Fragen aufwirft.

Alexander beginnt seine Darstellung nicht mit dem 4. September und dem March of Hope, sondern eine Woche später: für diesen Tag hatten der Innenminister und die Bundespolizei die Schließung der österreichisch-deutschen Grenze für alle Menschen ohne gültige Papiere, auch im Falle eines Asylgesuchs programmiert. Am 12. September wurden 21 Hundertschaften der Bundespolizei in mehreren Wellen an die Grenze verlegt, der Einsatzbefehl war geschrieben, De Maizière hätte ihn nur noch abzeichnen müssen. Aber die Diskussion im Lagezentrum des Innenministeriums geriet ins Stocken: aufgrund juristischer Einwände – vor allem aber, weil sich zwischen De Maizière, Merkel und Gabriel ein Versteckspiel entwickelte.

Die Grenzöffnung hatte Sympathiewellen ausgelöst, die Schließung der Grenze würde unschöne Bilder produzieren, und bis sich der zu erwartende Dominoeffekt der Grenzschließungen bis nach Mazedonien ausgewirkt hätte, würde es vielleicht drei Tage dauern. Zehntausende Migrant_innen würden sich an der Grenze sammeln. Halten wir die Bilder aus? und Was geschieht, wenn 500 Flüchtlinge mit Kindern auf dem Arm auf die Bundespolizisten zulaufen?, das waren die entscheidenden Fragen. Bilder, wie sie später in Röszke und Idomeni Wirklichkeit wurden, wollten weder Merkel noch Gabriel mit ihrem Namen verbunden sehen und De Maizière wollte sich nicht opfern.

Die Bundespolizei stand bereit. Bundespolizeichef Romann hatte bereits seit dem Frühjahr vor den drohenden Flüchtlingsbewegungen gewarnt und im Zusammenhang mit dem G7-Treffen in Elmenau eine Generalprobe der Grenzschließung durchführen lassen. Die Frage allerdings, ob 2.000 Beamt_innen den Ansturm von Zehntausenden tatsächlich hätten aufhalten können, bleibt unbeantwortet. Wahrscheinlich wäre es zu einer diffusen Migration über die Grünen Grenzen hinweg gekommen, die ohne Schießbefehl nicht hätte aufgehalten werden können.

Alexander beschreibt nachvollziehbar zwei wichtige Elemente, die Merkels Politik ausmachen: die Kunst der Selbstinszenierung und die tiefe Abhängigkeit von den jeweils aktuellen Umfrageergebnissen. Die begeisterte Aufnahme der Geflüchteten am Hauptbahnhof in München und die Entwicklung einer „Willkommenskultur“ haben, vermittelt über die Umfragewerte, die in den Frühbesprechungen im Kanzleramt vorgetragen wurden, wesentlich dazu beigetragen, dass die Grenzen offen blieben.

Die Willkommenskultur beschreibt Alexander als deutschen Rausch. Man kann es kaum mehr glauben, wie sich Umfragen, Massenmedien und Industrieverbände gegenseitig aufschaukelten. Der Spiegel titelte Das neue Deutschland. Wahrscheinlich hatte Merkel wirklich Tränen in den Augen, als sie die Willkommensbilder aus München im Fernsehen sah. Aber entscheidend war etwas anderes. Für mehr als 90% der Bevölkerung stand das Flüchtlingsthema in diesen Tagen ganz oben auf der Liste der wichtigsten Themen, mit einer breiten Mehrheit pro Aufnahme. Flüchtlingssolidarität hatte anderen sozialen Bewegungen den Rang abgelaufen. Mit ihrem Wir schaffen das hatte Merkel bessere Umfragewerte denn je und sie entschied sich, auf dieser Welle eine Weile zu surfen. Wenn wir also nach der ungewöhnlichen Konstellation fragen, die das Sommermärchen 2015 möglich gemacht hat, so ist als erstes der Aufbruch der Migrant_innen zu nennen, deren Durchmarsch durch eine spezifische deutsch-österreichisch-ungarische gegenseitige Blockade begünstigt wurde, und als zweites die Willkommenskultur mit ihren medialen Rückkoppelungen, die eine Schließung der Grenzen quasi-plebiszitär verhinderte. Zwei große soziale und mediale Strömungen, die Alexander nicht wirklich zum Thema macht, denn er schreibt ein Buch über Merkel, die es nicht riskieren wollte, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Merkels hintergründige Offenheit für die Modernisierung Deutschlands mag ein drittes Element in dieser Konstellation gewesen sein. Was aber in Erinnerung bleiben wird, ist die Macht der quasi-plebiszitären Öffentlichkeit, die in Verbindung mit der Autonomie der Migration ein Wunder bewirkt hat – wenn auch nur einen Sommer lang.