Hamid Dabashi hat auf Al Jazeera einen Beitrag veröffentlicht, den wir eng am Text kommentieren wollen, bevor wir einige Rückfragen stellen. Dabashi ist ein im Iran geborener Literaturwissenschaftler an der Columbia University, er hat Bücher über Persien und über den Islam als Befreiungstheologie geschrieben und 2012 auch ein Buch über den Arabischen Frühling mit dem Titel “The Arab Spring – the End of Postcolonialism”. Die Hauptthesen dieses Buchs wiederholt er in seinem Beitrag.

Dabashi verweist auf die Verbreitung der Aufstände und die gängigen Erklärungen: “all have much to do with economic collapse, social and political woes, violence, repression and the corruption of incompetent governments”. Aber gibt es eine Verbindung zum Arabischen Frühling 2011?

Dabashi bejaht das und beruft sich dabei auf den Al Jazeera Journalisten Marwan Bishara: Bereits 2011 sei ein “Point of No Return” eingetreten. Bishara schrieb in seinem Buch „The Invisible Arab“, in den Aufständen von 2011 haben Jugendliche seit Generationen schlummernde Kämpfe ans Licht gebracht. Er schrieb über “the rural exodus to the cities without those Arabs being ‚urbanized’”, und deren Kinder hätten in den Städten keine Zukunft gefunden, vor 2011 genau so wenig wie derzeit. Bishara hat darüber hinaus, und das könnte für das Verständnis der Arabellionen und des Begriffs „Revolution“ im Arabischen wichtig sein, auf die Unterscheidung zwischen Thawra und Fitna hingewiesen: “Contrary to conventional wisdom, revolutions are rarely encouraged or praised, even when Muslims are faced with unjust Muslim leaders. Revolution, or thawra, in the contemporary Arab world is a positive pursuit of justice, but its closest equivalent in Islamic history – fitna – was perceived as disorderly and unruly …“. (Zit. n. Rosalind Boyd)

Zurück zu Hamid Dabashi: Zwei Kräfte hätten, so schreibt er weiter, versucht, die Arabische Revolution aus der Bahn zu werfen: die autoritären Regimes (mit Hilfe der USA und Israels) auf der einen Seite und der Islamische Staat auf der anderen.

“Over the past few years, it appeared they had succeeded – changing the headlines and the optics, from millions of human beings marching peacefully in the streets and squares of their homelands to violent gangs taking over military strongholds.

They wrapped the uprisings in the veil of sectarianism. They threw doubt on the aims and desires of the defiant nations who rose up, presenting their protests as foreign plots. They blackmailed the world with scary words like „migration“ and „terrorism“ to justify violent crackdowns. They maintained that stability can only be achieved with an iron fist.”

Die Parolen von 2019 seien die gleichen wie 2011: „bread, freedom, social justice!“. Jedenfalls handele es sich nicht allein um Einkommensfragen, um “wallet issues”, wie es in der NYT mit Blick auf die weltweiten Aufstände behauptet wurde:

“But seeking such facile links between these revolutionary uprisings risks misreading them all. More specific patterns of regional histories need to be taken into account before we turn to more global trends.”

Dabashi wiederholt dann die Thesen, die er bereits 2012 in einem Buch veröffentlicht hat:

“In a book I wrote about the Arab Spring in 2011, I proposed two interrelated ideas as guiding principles for how to read these revolutions: Open-ended (as opposed to total) revolutions, and delayed (as opposed to exhausted) defiance.

Within what historians call the longue duree frame of reference, the success of counter-revolutionary forces in derailing these uprisings is but a temporary bump. The fundamental, structural causes of the Arab (and other world) revolutions remain the same and will outlast the temporary reactionary stratagems designed to disrupt them.”

Deshalb ergebe sich, so Dabashi, aus der Revolution keine teleologisch bestimmte Form des Staats. Und zur “Open-ended revolution” gehöre ein zweites Moment, das Dabashi von Hannah Arendt übernimmt: happiness. 

Uprisings are evidence of the cause of ‚public happiness‘. I believe the smiling faces of defiant revolutionaries we see across the Arab world today show that insight endures.”

Angesichts der Ermordeten im Sudan, Iran, Irak und seit langem schon in Syrien könnte diese Konnotation verfehlt erscheinen. Wir zählen die Toten, die in den genannten Staaten in die Hunderte gehen und in Syrien in die Hunderttausende.

Aber Dabashis Verweis auf Public Happiness folgt einer Spur, die es vielleicht wert ist, aufgenommen zu werden. In ihrem Buch „On Revolution“ stellt Arendt die “public liberty” der französischen hommes de lettres neben die “public happiness” der Amerikaner. Jefferson wird zitiert mit einem “right which has nature given all men of establishing new societies, under such laws and regulations as to them shall seem most likely to promote public happiness” (Ausgabe NY 1963, 123). Es geht um Freiheit jenseits der Freiheiten der Englishmen, um eine neue Gesellschaft jenseits der europäischen Ordnungen. In der Declaration of Independence hieß es dann “pursuit of happiness” und dies entwickelte sich in Richtung individualisierter Rechte.

Dabashi entwickelt seine Idee eines “aufgeschobenen Widerstands”, der zu einer Neuerfindung der Demokratie führen könnte:

“The notions of open-ended revolutions and public happiness lead to the idea of delayed defiance. Defiance of abusive state powers and their foreign backers – think of the junta in Egypt and their US and Israeli supporters, or Bashar al-Assad and his Russian and Iranian enablers – cannot be suppressed by yet another abusive total state.

The naked brutality of state powers in suppressing the transnational uprisings were clear indications of their absolute and final loss of legitimacy.

The Arab and Muslim world today is at the epicentre of a new experiment with democratic governance that can no longer be fooled with the phoney fanfare of any state apparatus feigning elections.”

Dass Dabashi sich bei der Neuerfindung der Demokratie auf “nations exercising their democratic will” bezieht, statt an der postkolonialen Konstruktion der Nationen zu rütteln, ist nur einer der Punkte, an denen sich Rückfragen an den Text stellen. Dabashi verweist auf Bishara, aber ohne dessen Hinweise auf die Jugendlichkeit der muslimischen Gesellschaften und deren “Non-Urbanism” aufzunehmen.

Die Forderungen von 2019 sind nicht nur ein Nachhall von „bread, freedom, social justice!“ aus 2011, sondern sie lauten auch: “All Must Go”, das ganze alte Regime muss weg. Sicherlich geht es um einen grundsätzlichen Neuanfang, von dem Dabashi ja selber auch schreibt. Aber die Jugendlichen von 2019 sind andere als die von 2011. In Kairo waren die Blogger von damals überrascht von den Demos, die aus den Vorstädten kamen. Auch die aufständischen Jugendlichen im Iran, Irak und im Libanon kommen aus den Vorstädten und handeln ohne Führung. Vielleicht sind diese Jugendlichen, die heute das Bild auf den Straßen bestimmen, etwas weniger als 2011 von Facebook-Inhalten geprägt, statt dessen mehr von der sozialen Nähe und Connectivity des Alltags, Mobilität und Mobile Commons. Von Improvisationen und dem Zusammensetzen von Bruchstücken. Das aber ist von Hannah Arendt weit weg und kommt in Dabashis großen Thesen nicht vor.

Wir haben vor acht Jahren sehr viel von Asef Bayat gelernt: vom Konzept des Quiet Encroachment, von der Präsenz der Menschen auf der “Arabischen Straße” aus eigener Berechtigung, von der Jugendlichkeit der Aufstände und auch von den Prägungen der Aufstände durch das extrem repressive Vorgehen der Regimes, wozu die „Leaderlesness“ gehört. Die beharrlichen Demonstrationen in Algerien, die Kompromisslinien im Sudan und auch die Interaktionen der Kämpfe in Bagdad mit der Politik eines Großajatollahs sind Gratwanderungen, die von einer hohen kollektiven Intelligenz der Aufständischen zeugen. Nein, diese Jugendlichen sind nicht nur Vollstrecker der alten Kämpfe. Sie erheben sich ganz akut für ihre Zukunft und gegen die Regimes, die ihnen die Zukunft gestohlen haben. Die “Arabische Straße” wird in den Aufständen gerade neu erfunden. Vielleicht sind die Nachbarschaften in den Vorstädten die Orte der Neuerfindung von Demokratie, aber das wird sich zeigen.

Ohne an dieser Stelle vielleicht vorschnell von einem neuen 1968 zu sprechen – die Diskussion darüber hat ja gerade erst begonnen – erscheint eine Anmerkung gerechtfertigt: Provincializing Europe ist nicht mehr nur ein Projekt des globalen Kapitals und der Postkolonialen Theorie (Chakrabarty), sondern Projekt einer Rebellion, die den Primat des globalen Kapitals konkret in Frage stellt. Angst und Freude auf den Tahrirplatz, das große Picknik vor dem MHQ, Kooperation beim Bau der Barrikaden, Gebrauch der Smartphones als Mobile Commons, – das sind Momente einer Neuerfindung des Sich-Aufeinander-Beziehens, das eine neue, eigene Zentralität beansprucht.

Literatur:

  • Hannah Arendt, On Revolution, New York 1963
  • Asef Bayat, Leben als Politik. Wie ganz normale Leute denNahen Osten verändern, Berlin (Assoziation A) 2012
  • Marvan Bishara, The Invisible Arab: The Promise and Peril of the Arab Revolution. New York 2012
  • Dipresh Chakrabarty, Europa als Provinz, Frankfurt 2010
  • Hamid Dabashi, The Arab Spring: The End of Postcolonialism, Z Books 2012.
Anmerkungen zu Hamid Dabashi, Are the Arab revolutions back?