Immer mehr Geflüchtete machen sich von nordfranzösischen Stränden in Booten auf den Weg nach Großbritannien. War der Migrationsraum rund um Calais seit der Räumung des Jungles im Herbst 2016 vor allem durch permanente polizeiliche Räumungen und dem Zerschlagen jeglicher kollektiver migrantischer Selbstorganisation geformt, zeichnen sich nun neue Bewegungsdynamiken ab. Die Migrant*innen in Nordfrankreich reagieren damit nicht nur auf das gute Wetter, sondern auch auf die Sekuritisierung des hochorganisierten Grenzregimes und dessen Undurchlässigkeit mit anderen Verkehrsmitteln, allen voran dem LKW. Eine Rolle spiele darüber hinaus auch der EU-Austritt Großbritanniens, der zu sich verschärfenden Grenzkontrollen führen werde, so der bordermonitoring.eu-Bericht „Querung des Kanals. Calais, der Brexit und die Bootspassagen nach Großbritannien“ von Mai 2019.

Über die neuen Bewegungsdynamiken berichten Thomas Müller, Uwe Schlüper und Sascha Zinflou.

Im Herbst 2018 kam es zu einer signifikanten Zunahme der Bootspassagen, deren Beginn von unseren Gesprächspartner_innen, den Medien (vgl. ausführlich BBC 2019b; ARTE 2019) und amtlichen Akteur_innen (vgl. House of Commons 2019) übereinstimmend auf Ende Oktober datiert und auf die iranischen Geflüchteten bezogen wird. Benutzt wurden und werden vor allem motorisierte Festkörperschlauchboote und kleine Motorboote, die – so der Eindruck eines Flüchtlingshelfers – teils gestohlen und teils über französische Mittelsleute angekauft würden.

bordermonitoring.eu│Mai 2019

Bei den Migrant*innen, die die Überfahrt wagen, handele es sich vor allem um Iraner*innen, was die Autoren damit erklären, dass sie „nicht durch die Passage des Mittelmeers traumatisiert und somit viel eher als andere Gruppen bereit seien, überhaupt in ein Boot zu steigen“ und zudem im Verhältnis zu anderen Gruppen recht wohlhabend seien.

Nach Einschätzung der Autoren sei die Mehrzahl der Überfahrten von Schleuser*innen organisiert, ca. ein Viertel der Bootspassagen erfolge selbstorganisiert. Auffallend sei, dass anders als früher „die Passagiere nicht darauf bedacht [seien], unbemerkt anzulanden und sich rasch von der Küste zu entfernen. Vielmehr bemühten sie sich aktiv gefunden zu werden und stellten in aller Regel rasch einen Asylantrag, sodass die Schleuserorganisationen ihre Kund_innen faktisch an die britischen Behörden übergäben und selbst nicht mehr in Großbritannien tätig werden müssten“.

Nachdem die Zahl der Überfahrten über die Wintermonate „aufgrund der Wetterverhältnisse und der Überwachung der gesamten Küste durch die französische Polizei“ zurückgegangen war, nahm sie in den vergangenen Tagen wieder zu. Die Zukunft der Bootspassagen sei aber noch nicht absehbar, so der Bericht. Der Anstieg könne nur eine Episode des Migrationsgeschehen gewesen sein. Möglicherweise halten die Überquerungen wegen des guten Wetters der Sommermonate aber auch an.

Im Kontext des Migrationsraums rund um Calais sind die Bootspassagen „an der Straße von Dover […] mithin Teil einer komplexen Situation, die durch die beiden historischen Ereignisse des Kanaltunnelbaus (als Ausgangspunkt der Sekuritisierung des Grenzverkehrs) und des Phänomens des Jungle geprägt ist“. Sie markieren einen Entwicklungsstrang der Ausweitungsprozesse des Migrationsraums um Calais. Auch wenn „Calais nach wie vor das Zentrum dieses Migrationsraum bildet, so ist dessen geographische Ausweitung und Diffusion unverkennbar“. Er reiche inzwischen im Westen bis Santander, im Osten innerhalb Belgiens bis zur deutschen Grenze und eben auch „entlang der nordfranzösischen Strände und auf See“.

Insgesamt 74 Migranten haben versucht, den Ärmelkanal von Frankreich nach Großbritannien in kleinen Booten zu überqueren. Insgesamt acht Boote wurden von der britischen Küstenwache gestoppt. Nur eines schaffte es bis zur Küste im Südosten Englands. […] Immer mehr Flüchtlinge versuchen, über den Kanal nach Großbritannien zu gelangen. Im vergangenen Jahr haben dem britischen Innenministerium zufolge mehr als 500 Menschen probiert, die Meeresenge in kleinen Booten zu überqueren.

Deutschlandfunk│03.06.2019

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Insgesamt 74 Migranten haben am Samstag versucht, den Ärmelkanal von Frankreich nach Grossbritannien in acht kleinen Booten zu überqueren. Der britische Innenminister Sajid Javid nannte die Situation «besorgniserregend». Unter den Aufgegriffenen waren auch Kinder. […] Viele Migranten und Flüchtlinge werden von Schleppern wegen des geplanten britischen EU-Austritts unter Druck gesetzt, die Überfahrt möglichst schnell zu unternehmen. Danach, so die Drohung, würden die Kontrollen weiter verschärft. Auch das verhältnismässig milde Wetter gilt als Grund für die Häufung der Fälle.
Der Ärmelkanal ist einer der am stärksten befahrenen Seewege der Welt und die Überquerung daher besonders gefährlich.

Neue Zürcher Zeitung│02.06.2019

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Aus den Niederlanden versuchte am Wochenende ein Eritreer die Überfahrt. Seenotretter retteten ihn vor der Nordsee-Küste bei Ijmuiden auf einem selbstgebauten Floß. Auch der Mann wollte damit vermutlich nach England, teilte die niederländische Gesellschaft für Seenot-Rettung am Sonntag über Twitter mit. Ein Fischer hatte das Floß auf See entdeckt und die Retter alarmiert. Nach Berichten niederländischer Medien handelte es sich bei dem Mann um einen Flüchtling aus Eritrea. Das Floß hatte keinen Motor und ein Segel aus einem Stück Plastik. Es befand sich nach Angaben der Seenotrettung auf der Route großer Frachtschiffe zum Amsterdamer Hafen. Die Überfahrt mit einem solchen Floß sei lebensgefährlich, erklärte ein Sprecher der Rettungsgesellschaft.

Welt│02.06.2019

Zu den vertraglichen Hintergründen des Sandhurst Treaty im Juli 2018 und dem Joint action plan by the UK and France on combating illegal migration involving small boats in the English Channel siehe den Eintrag auf Statewatch | 28.01.2019

Frankreich/Großbritannien: Immer mehr Bootspassagen im Ärmelkanal