Jürgen Gottschlich

ISTANBUL/BERLIN taz | Nach Syrien droht jetzt auch Libyen zum Schauplatz einer bewaffneten internationalen Auseinandersetzung im Mittelmeerraum zu werden. Immer mehr ausländische Mächte steigen im Kampf um Bodenschätze und Stützpunkte auch mit militärischen Mitteln in den Konflikt in dem nordafrikanischen Land ein, das seit dem Sturz von Muammar al-Gaddafi 2011 von Bürgerkriegen zerrissenen ist.

Am Montag ratifizierte das türkische Parlament in Ankara ein Abkommen zur militärischen Unterstützung der Regierung in Libyens Hauptstadt Tripolis, die von Ministerpräsident Fajes al-Sarradsch geführt wird. Die Sarradsch-Regierung wird zwar von der UNO anerkannt, ist aktuell aber akut bedroht durch die Truppen des in Ostlibyen herrschenden Generals Chalifa Haftar. Der hatte im April eine Offensive auf Tripolis gestartet. Nachdem seine Libysche Nationalarmee (LNA) lange nicht vorankam, steht Haftar nun offenbar kurz davor, Tripolis zu erobern und die Regierung Sarradsch zu stürzen. […]

TAZ | 16.12.2019

:::::

Maximilian Popp

Der libysche Bürgerkrieg zwischen der Regierung von Premier Fayez Sarraj und verbündeten Milizen auf der einen Seite und der sogenannten Libysch-Arabischen Armee (LNA) des Warlords Khalifa Haftar auf der anderen Seite weitet sich zu einem Stellvertreterkrieg aus:

  • Italien, die Türkei, Qatar unterstützen Sarraj, der auch von der Uno als rechtmäßiger Regierungschef anerkannt wird, außerhalb der Hauptstadt Tripolis jedoch kaum etwas zu sagen hat.
  • Russland, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und, in geringerem Umfang, auch Frankreich haben sich auf die Seite Haftars geschlagen.

Die LNA belagert seit Monaten Tripolis; unterstützt wird Haftars Truppe unter anderem von russischen Militärberatern. Der Kriegsherr hat am vergangenen Wochenende ein weiteres Mal den Sturm auf die Hauptstadt ausgerufen.

Spiegel Online | 22.12.2019

Über die Zustände in den Lagern hat Sally Hayden im Oktober auf Foreign Policy einen Bericht veröffentlicht:

The U.N. Is Leaving Migrants to Die in Libya

The European Union is funding the Libyan coast guard to keep migrants out of Europe and detain them in a failed state—and that leaves them at the mercy of militias and human traffickers.

Foreign Policy | 10.10.2019

Über Lager und Migrationsarbeit äußert sich in einem TAZ-Interview vom 16.12.2019 der IOM-Beauftragte für Libyen, Federico Soda:

Diese Zustände sind Teil eines Geschäftsmodells. Milizionäre erpressen mit dem Leid der Insassen Lösegeld von deren Familien. Welches Ausmaß hat dieses Geschäft?

Die Zahl der Menschen in den Lagern umfasste zuletzt recht stabil 5.000 Personen. Ich vermute, das Geschäftsmodell basiert auf dieser Größenordnung. Damit verdienen die bewaffneten Gruppen genug Geld, um trotz fehlender anderer Einnahmequellen nicht gegen die Regierung aufzubegehren.

Berichte über den Missbrauch haben sich auf der ganzen Welt verbreitet. Zugleich endet die Flucht übers Mittelmeer oft tödlich. Und trotzdem ist die Zahl der Migranten in Libyen weiterhin hoch. Wie kann das sein?

Im Land leben rund 650.000 Migrantinnen und Migranten. Und ja, die Zahl ist über die vergangenen Jahre stabil geblieben. Ich will den Missbrauch und die Folter nicht kleinreden. Doch es gibt noch eine andere Facette, eine wichtige, unerzählte Geschichte. Einige behaupten, dass jene Menschen nur auf ihre Chance warteten, in ein Boot nach Europa zu steigen. Das stimmt nicht.

75 Prozent der Migranten stammen aus den Ländern Tschad, Niger, Ägypten, Sudan und Nigeria. Diese Zusammensetzung deckt sich nicht mit den Ankünften in Italien. Für die meisten Migranten ist Libyen das Zielland – aus gutem Grund. Wir haben dort 13.000 Zuwanderer befragt: 84 Prozent sagten, dass sie zum Arbeiten nach Libyen gekommen sind, nicht für den Transit nach Europa. 80 Prozent konnten auch einen Job nachweisen.

Diese Jobs sind oft besser als in ihrer Heimat. Libyen ist eine auf Energieproduktion basierende Wirtschaft mit einer sehr kleinen Bevölkerung – ein wenig vergleichbar mit den Golf-Staaten. Die Wirtschaft braucht diese Menschen.

Wie wirkt sich der Bürgerkrieg auf die Situation der Migranten aus?

Man hört in Tripolis jeden Tag Explosionen. Im Internierungslager in Tajoura bei Tripolis starben im Juli 53 Migranten. Tote gab es auch, als im November eine Keks-Fabrik getroffen wurde, in der Migranten aus Bangladesch ihren Dienst verrichteten.

Macht es für Zuwanderer einen Unterschied, wer sich im Bürgerkrieg durchsetzt, General Chalifa Haftar oder die Regierung in Tripolis?

Sobald auf dem einen oder anderen Weg mehr Stabilität einkehrt, wird die Zahl der Migranten sprunghaft steigen. Derzeit leben in Libyen nur halb so viele Zuwanderer wie vor der Revolution 2011. Verbessert sich die Lage, gehe ich davon aus, dass schnell mehr als eine Million Migranten wieder in Libyen arbeiten werden.

taz | 16.12.2019

MSF hat einen Multimedia-Beitrag über die Situation in den Lagern und die Situation der Arbeitsmigrant*innen in Libyen veröffentlicht, der auf Fotos und in Videos Ausschnitte aus dem Alltag zeigt. Es ist das erste Mal, dass Videoaufnahmen über die Arbeit von MSF in den Lagern gezeigt werden können.

La machine à broyer

Réfugiés et migrants piégés en Libye

Die Multimedia-Präsentation findet sich hier

MSF zur aktuellen Situation in Libyen:

Der Konflikt in und um die libysche Hauptstadt eskaliert. Landesweit leben tausende Flüchtlinge in Internierungslagern. Andere werden nun schutzlos sich selbst überlassen und damit erst recht der Gefahr von Menschenhandel, Sklaverei und Missbrauch ausgesetzt.
 
Die Spirale der Gewalt in und um Tripolis eskaliert weiter – zulasten der Zivilbevölkerung. Auch in bewohnten Gebieten gibt es willkürliche Bombardierungen, Feuergefechte und Luftangriffe. Besonders gefährdet sind auch jene Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten die in Internierungslagern der libyschen Hauptstadt eingesperrt sind. Einige dieser Lager liegen an oder in unmittelbarer Nähe zu den Frontlinien.
 
 
Libyen: Krieg, Lager, Migrationsarbeit