Angesichts der großen Demos in Algerien am Freitag und der Proteste im Irak am 8. Tag in Folge zitieren wir Auszüge aus dem Kommentar von Paul-Anton Krüger in der SZ vom 31.10.2019.

Es fegt ein Herbststurm durch die arabische Welt, der nach einem längst vergangenen Frühling riecht. Eine neue Welle von Aufständen erschüttert die Region. In Libanon war ein Viertel der Bevölkerung ungeachtet aller konfessionellen Trennlinien auf der Straße, und die Demonstranten bejubeln nun den Rücktritt von Premier Saad al-Hariri. Im Irak ist der Sturz von Regierungschef Adil Abdul Mahdi eine Frage der Zeit, aber auch hier beschwören die Wütenden die Einheit des Volkes und skandieren: „Wir sind alle Iraker!“ In Algerien, wo Massenproteste schon dem Regime des greisen Staatschefs Abdelaziz Bouteflika ein Ende bereitet haben, gehen die Menschen weiter freitags auf die Straße. Und in Kairo tun sie das nur deshalb nicht mehr, weil der Polizeistaat von Präsident Abdel Fattah al- Sisi willkürlich Tausende verhaften ließ.

So verschieden diese Länder sind, so wenig sich die Proteste aufeinander beziehen (anders als während der Revolutionen von 2011) – es gibt doch Grundlegendes, was sie verbindet. Genau darauf muss Europa nun schauen und seine Schlüsse für die Politik gegenüber dieser Region ziehen. Denn die Folgen der noch nicht absehbaren Verwerfungen werden sich maßgeblich auch hier auswirken. […]

Algerien, Libanon und der Irak sind Gesellschaften, die bis heute tief geprägt sind vom Trauma des Krieges und Bürgerkrieges. Das System, der Staat gab sich immer als Garant gegen den Rückfall in blutige Selbstzerfleischung. Doch erscheint der jungen Generation der Status quo so unerträglich, dass sie sich nicht mehr davon schrecken lässt – sie hat die Gräuel nicht erlebt, die ihre Eltern noch zurückzucken ließen. Sie lassen sich aber auch nicht davon einschüchtern, dass etwa im Irak maskierte Scharfschützen auf unbewaffnete, fahnenschwenkende Jugendliche feuern. 250 Tote hat es seit Beginn der Proteste vor einem Monat gegeben. Aber die Frustration ist stärker als die Angst.

Eine junge Bevölkerung, zwei von drei Menschen in diesen Ländern sind unter 30, birgt große Chancen – aber nur, wenn der Staat Bildung, Jobs und Perspektiven bieten kann. Die Realität sieht anders aus: horrende Jugendarbeitslosigkeit, selbst unter Akademikern. Aufstieg und Wohlstand sind jenen vorbehalten, die Verbindungen haben. Die breite Bevölkerung verarmt, während eine kleine Schicht in obszönem Reichtum schwelgt. Die öffentliche Hand im Irak oder in Libanon kann nicht einmal die Versorgung mit Strom oder trinkbarem Wasser sicherstellen. […]

Es ist fraglich, ob sich diese Staaten im Rahmen ihrer bestehenden Ordnung so reformieren können, dass sie den Forderungen ihrer Bürger gerecht werden. Ebenso unklar ist, ob die Protestierenden im Irak und in Libanon ihre Einheit wahren können oder doch die tief verwurzelten Rivalitäten zwischen den Glaubens- und Religionsgruppen durchbrechen – ob am Ende Chaos und Gewalt stehen. […]

Gerade die Bundesregierung muss sich von der Illusion verabschieden, dass etwa Ägypten stabil ist. Präsident Sisi, den Donald Trump in einem Moment entwaffnender Ehrlichkeit „meinen Lieblingsdiktator“ genannt hat, kann die Proteste noch unterdrücken, die Grenzen einigermaßen dicht halten. Doch wenn die Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens ihren schnell wachsenden Völkern grundlegende Dienstleistungen nicht bieten, geschweige denn Perspektiven auf ein Leben in Würde, werden die Systeme kollabieren – oder mit brutaler Gewalt gegen ihre eigenen Bürger vorgehen müssen.

Zugleich werden die Jungen, die aus Hoffnungslosigkeit die Angst vor dem eigenen Staat überwunden haben, ihre Zukunft andernorts suchen – vor allem in Europa. Die tödliche Gefahr der Überfahrt übers Mittelmeer wird sie nicht abhalten, auch Grenzzäune werden es nicht. Der Herbststurm wird wieder an Europas Grundfesten rütteln – so wie nach den Umstürzen des Jahres 2011 und der daraus folgenden Fluchtbewegung.

Süddeutsche Zeitung | 31.10.2019

„Der arabische Herbststurm wird an Europas Grundfesten rütteln“