Wohl noch nie wurde ein frisch gewählter Präsident schon am Wahlabend und dann erst recht am Folgetag von überaus massiven Protestdemonstrationen im gesamten Land „begrüßt“. In der Kabylei waren in vielen Orten die Wahllokale gestürmt, zugemauert oder abgefackelt worden, die Wahlen haben in dieser großen Region gar nicht stattgefunden. In allen anderen Landesregionen war die Wahlbeteiligung lächerlich gering. Wahlveranstaltungen haben zuvor nur ganz vereinzelt stattgefunden, in geschlossenen Räumen und von der Polizei abgeschirmt. Zu Wahl standen fünf bekannte Marionetten des algerischen Militärs. „Gewählt“ wurde der 74-jährige Kandidat der FLN Abdelmadjid Tebboune. Die Wahlkommission verkündete seinen „Sieg“ mit großem Vorsprung, so dass das Regime eine Stichwahl vermieden hat. Die Wahl habe in „festlicher Stimmung“ im Lande realisiert werden können, gab die Wahlkommission bekannt. Überall nahm die Polizei Demonstrant*innen fest, im westalgerischen Oran sogar über 400 Personen.

Auf den Protestdemonstrationen hatten sich viele die Nasen eingestäubt, denn der Sohn des Präsidenten flog im größten Kokain-Fund des Landes auf: 701 Kilo waren 2018 in einem Fleischcontainer im Hafen von Oran beschlagnahmt worden – mehr, als der vermutete Landesbedarf.

Abdelmadjid Tebboune kommt aus dem Apparat des Regimes. Er war mehrfach Präfekt, später mehrmals Minister und kurzzeitig unter Bouteflika sogar Premierminister.

Seit dem 22. Februar 2019 finden jeden Freitag Massendemonstrationen in allen algerischen Städten gegen das Regime statt, dienstags demonstrieren zusätzlich die Studierenden, montags Anwält*innen und andere Berufsgruppen. Das Rückgrat der Demonstrationen bilden die proletarischen Jugendlichen aus den Armenvierteln. Im Schatten des Massenprotests findet ein gewisser sozialer Wandel statt. Vor allem junge Leute haben sich bereits im letzten Jahrzehnt die Innenstädte durch störrische Dauerpräsenz die Straßen Innenstädte „genommen“, nun nehmen sich Viele auch das Recht auf individuelle Freiheiten in aller Öffentlichkeit heraus.

Die französische Tageszeitung „Le Monde“ stellt fest, dass die weitere politische Entwicklung des Landes überhaupt nicht absehbar sei. Die Protestbewegung auf der Straße („Hirak“) geht nicht zum gewaltsamen Angriff auf die Machtzentren über; zudem stellt sie keine neuen – verhaftbaren – Anführer*innen. Und das Regime wagt offensichtlich keine blutige Massenrepression. „Le Monde“ fragt ins Ungewisse, ob eine „portugiesische Lösung“ in Algerien möglich wäre, d.h. eine Erhebung von protestfreundlichen Militärs gegen das algerische Militärregime. Vielleicht kommt es den europäischen und nordamerikanischen Regierungen besonders ungelegen, dass es keine legitimen und tatsächlich regierenden Ansprechpartner in Algerien mehr gibt.

 

Algerien: Massenprotest geht weiter

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