Eine zweite Welle der Arabellion ist im Dezember 2018 im Sudan, am 22. Februar 2019 in Algerien, und in den letzten Wochen in Kairo, im Irak und im Libanon gestartet. Die blutigsten Repressionsschläge fanden bisher im Sudan und im Irak statt. Erstaunliche Parallelen tun sich zu den aktuellen Demonstrationen in Hongkong, Santiago de Chile und in anderen Teilen des globalen Südens auf. Überall heisst es gleichlautend: „Sie alle müssen gehen“ – die gesamte Politikerkaste soll abtreten, wegen Herrschaftswillkür, dem Drang zur Militarisierung der Herrschaft, der Korruption, der Bereicherung der Mächtigen, des Ausverkaufs der Reichtümer des Landes, der Verelendung der Armen und der grassierenden Arbeitslosigkeit unter den jungen Leuten. Überraschend gleich ist auch, dass keine neuen Führungsschichten aus den revolteähnlichen Demonstrationen entstehen.

In Algerien scheint das Herrschaftsfundament inzwischen die meisten Risse durch die soziale Erschütterung aufzuweisen. Im Folgenden sollen folgende Aspekte skizziert werden: Zunächst ist die anhaltende Massenmobilisierung auf der Straße zu skizzieren, sodann der Zusammenbruch der Herrschaftslegitimation, die wachsende wirtschaftliche Krise, und schließlich sind die ersten Risse in der repressiven Befehlskette zu konstatieren.

Seit dem 22. Februar 2019 finden jeden Freitag in allen Städten Algeriens Massendemonstrationen statt. An anderen Wochentagen demonstrieren im wöchentlichen Turnus Studierende, Rechtsanwält*innen und Andere. Die meisten Parolen und Lieder wiederholen sich von Demonstration zu Demonstration: Neben der Parole „Sie alle müssen gehen“ sind es Forderungen nach einem Rechtsstaat statt Militärstaat und die unzähligen Schlachtrufe und Gesänge aus den Fußballstadien, die die soziale Ausweglosigkeit der jungen Leute und die Arroganz der Macht anprangern sowie die Bereitschaft signalisieren, „auf die Boote“ zur Flucht übers Mittelmeer zu steigen.

In den letzten drei Monaten ist die Forderung nach Freilassung der Gesinnungsgefangenen hinzugekommen. Seit Sommer 2019 verhaftet die Polizei nach Willkürprinzip junge Demonstrant*innen, die die „Berber“- (Amazigh-)Fahne zeigen – obwohl die algerische Verfassung das ausdrücklich zulässt – , oder die die Polizei im Gedränge einfach zu fassen bekommt. Ungefähr 200 „Geiseln“ – wie die Gesinnungsgefangenen auf den Demonstrationen genannt werden – gibt es bislang. Inzwischen finden jeden Donnerstag Abend Krach-Demonstrationen mit Töpfeschlagen, Hupen etc. statt. Die sogenannte „Mörser“-Operation soll den solidarischen Krach in die Knäste tragen und die Öffentlichkeit mobilisieren.

Ausserdem kidnappen Polizisten in Zivil bekannte Oppositionelle, die aber keine Führungsfiguren der Protestbewegung waren. Sogar Lakhdar Bouregaâ, einen 86-jährigen ehemaligen Kommandanten der Befreiungsarmee mit viel Gefängniserfahrung, sitzt seit Ende Juni 2019 wegen seiner Gesinnung ein.

Die unaufhörlichen Forderungen nach Freilassung der jungen und der senilen Gesinnungsgefangenen haben eine historische Erinnerung aufgerufen, die sich in den letzten Wochen in ganz Algerien Bahn gebrochen hat: Die Protestbewegung versteht sich inzwischen inbrünstig als zweite Befreiungsbewegung. Bei der ersten Revolution sei es um die Abschüttelung des französischen Kolonialregimes gegangen, bei der laufenden Revolution ginge es um die Durchsetzung von Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit für alle. Die härtesten jungen Kämpfer der 1960er Jahre, die erfolgreiche Attentate gegen das Kolonialregime durchgeführt haben, werden in diesen Wochen zu Idolen des Protests.

Dabei unterscheiden sich die Kampfmethoden von damals und heute beträchtlich. Seit einem halben Jahr sperrt die Polizei schon ab Donnerstag die Zufahrtsautobahnen und -straßen nach Algier ab, blockiert Busse und Züge nach Algier ab Donnerstagmittag und baut rundum hochbewehrte Checkpoints auf. Spätestens ab Donnerstag Abend beginnen allwöchentlich die Vorbereitungen für die bevorstehende Freitagsdemo. Auf Schleichwegen oder mit schierer Überzahl an Personen werden die Polizeiblockaden umgangen, vielerorts kommt es zu stundenlangem Gerangel. In der letzten Nacht von Donnerstag auf Freitag schliefen in der Innenstadt viele Leute auf den Straßen, um einer Pauschalabsperrung zuvorzukommen.

Denn es handelte sich bei dem vergangen Freitag um den 1. November 2019, dem 65. Unabhängigkeitstag Algeriens. Wohl in keinem anderen ehemals kolonisierten Land spielt die Regimefeier des Unabhängigkeitstags eine solche Rolle. Am vergangenen Freitag waren Millionen Menschen auf der Straße und raubten dem usurpatorischen Regime auf ostentative Weise seine Legitimation.

Das Rückgrat der Freitagsdemonstrationen bilden die proletarischen Jugendlichen. In Algier kommen sie mit eigenständigen Demonstrationen aus den Stadtteilen Casbah, Bab El Oued oder El Harrache zur Innenstadt. Anders als im Januar 2011, der ersten Arabellionswelle, sind sie nicht mehr sozial und politisch isoliert. Und anders als im Frühjar 2011 stellt das Regime sie und die arbeitslosen Hochschulabsolvent*innen nicht mehr mit massenhaften Sozialprogrammen und fiktiven Arbeitsbeschaffungsmassnahmen ruhig. Das Feld der befriedenden Sozialpolitik ist zusammengebrochen.

Die rückgängigen staatlichen Exporteinnahmen durch sinkende Erdöl- und Erdpreise sind für die wachsende Wirtschaftskrise sicherlich hauptverantwortlich. Internationale Experten kündigen eine Finanzkrise in Algerien an. Es kommt hinzu, dass sich der gesamte Arbeitssektor seit Februar 2019 im Krisenmodus befindet. Die wachsende Unzufriedenheit äußert sich in Streiks, Absenteismus und Langsamarbeiten. Die jüngsten Statistiken des Office National des Statistiques (ONS) kündigen einen Wirtschaftseinbruch sogar in der Landwirtschaft und ein Anwachsen der allgemeinen Arbeitslosigkeit an.

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass erste repressive Befehlsketten des Regimes zusammenbrechen. Die Richter befinden sich seit über einer Woche im Streik, der zu 98 Prozent befolgt wird. Ausgangspunkt war, dass der Justizminister die Um- und Neubesetzung von 3.000 Richterstellen im Land verfügt hat. Die Kaste der algerischen Richter gilt als korrupt, arrogant und gegenüber Polizei, Militär und Regierung als befehlshörig. Die allgemeine richterliche Befindlichkeit dürfte seit Monaten angespannt sein. Richter mussten im Schnellverfahren einige politische und wirtschaftliche Exponenten des in Ungnade gefallenen ehemaligen Präsidenten Bouteflika zu sehr hohen Haftstrafen verurteilen und die Willkürverhaftungen von Demonstrant*innen sowie das polizeiliche Kidnapping absegnen. Die massenhafte Um- und Neubesetzungsverfügung dürfte das Fass zum Überlaufen gebracht haben. Am gestrigen Sonntag verschlossen sich die Richter der Stadt Oran im herrschaftlichen Gerichtsgebäude, und vorgeladenes Gerichts-Publikum wurde zu Zivilzeugen: Der Justizminister sprach von Rebellion, und der oberste Staatsanwalt der Republik schickte eine Aufstandsbekämpfungseinheit der Gendarmerie in voller Kampfmontur ins Gerichtsgebäude. Was dann geschah, flimmert derzeit über die Handys in der gesamten arabischen Welt. Richter hielten gegenüber den Gendarmen Reden über die richterliche Unabhängigkeit, diese schlugen zu und räumten das Gebäude.

Man mag die Richterei als Ornament des Regimes abtun. Aber dieses könnte sich jetzt sehr schnell in eine Operettendiktatur verwandeln, in der immer mehr Stützen einkrachen, während die Machthabenden die immer gleiche Begleitmusik auflegen. Für den 12.12.2019 hat das Regime gegen den ausdrücklichen Willen der Millionendemonstrant*innen Präsidentschaftswahlen angesetzt und fünf regimefreundliche Kandidaten aufgestellt. Die Sache wird schiefgehen, so viel ist sicher.

tsa-algerie | 01.11.2019

tsa-algerie | 03.11.2019

 

 

Algerien: Risse in den Fundamenten des Regimes